Wenn man den Ergebnissen einer Studie trauen darf, ergeben sich große Teile des Problems „demografischer Wandel und Verkehr“ in der Zukunft von selbst. Denn während vier von fünf Berufstätigen davon träumen, im Alter große Reisen zu unternehmen, sieht die Realität zumindest heute anders aus: 70% der Rentner bleiben lieber Zuhause vorm Fernseher und im eigenen Garten. Alte Menschen, so die Studie, seien bequem und träge statt reisefreudig.
Ob das jedoch über die Rentnergeneration von morgen etwas aussagt, ist wohl fraglich. Und dass es wenig aussagt zum Problem Nahversorgung, ist offensichtlich.
Das Berliner Verkehrsunternehmen BVG hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW mit einer Untersuchung beauftragt, wie der Modal Split in Berlin in den Jahren 2020 und 2050 sich darstellen wird.
Der langfristigen Prognose zufolge steht selbst eine Stadt wie Berlin mit immerhin stagnierender Bevölkerungszahl bei der Verkehrsleistung praktisch am Scheitelpunkt: „Nur“ noch sechs Prozent mehr Kilometer werden in rund dreißig Jahren in der Stadt insgesamt zurückgelegt. Dabei entwickeln sich die Verkehrsmittel jedoch unterschiedlich: Der MIV werde bis 2050 um 15% anwachsen, dennoch reiche die existierende Straßen-Infrastruktur aus, so das DIW, wichtig sei jetzt die Qualitätssicherung. Der ÖPNV verliere dagegen acht Prozent seiner Fahrgäste; allerdings nur bis zum Jahr 2020, dann stabilisieren sich die Fahrgastzahlen.
Trotz dieser Entwicklung solle sich der Nahverkehr laut DIW nicht seniorengerecht ausrichten. Auch in Zukunft seien die Erwerbstätigen die mit Abstand größte Nutzergruppe von Bahn und Bus. Erwerbstätige schätzen schnelle Verbindungen mit größeren Haltestellenabständen. Dies sei für die in Zukunft gesünderen und mobileren Rentner ebenfalls wünschenswert und machbar.
Unberücksichtigt bleibt bei dieser Empfehlung in der Untersuchung, dass bei einem prognostizierten Anstieg des Anteils der älteren Rentner von fünf auf 13% zwar viele von ihnen evtl. beweglicher sein werden als ihre Altersgenossen heute. Jedoch wird die absolute Zahl der mobilitätseingeschränkten Alten bei einem solch starken Anstieg des Anteils sich wohl mindestens verdoppeln.
Damit steckt die BVG in einem Dilemma, denn die auseinanderstrebenden Interessen der Nutzergruppen lassen Entscheidungen schwer fallen. Eine Ausweitung des Angebots ist unwahrscheinlich, da sich die Einnahmen der BVG kaum steigern lassen: Berlin hat eine überproportional einkommensschwache Bevölkerung und bereits jetzt aufgrund der geringen Pkw-Verfügbarkeit eine überdurchschnittlich hohe ÖPNV-Nutzung. - Der Berliner Senat will bis zum nächsten Herbst ein übergreifendes Demographie-Konzept für die Stadt erarbeitet haben.
Die Stadt Bochum schrumpft, bis 2020 sollen es nochmals acht Prozent Bewohner weniger werden. Die Stadtverwaltung legt ihr Hauptaugenmerk auf den ÖPNV und erzielt damit gute Erfolge: Im Vergleich zum Jahr 2000 nutzen jetzt 30% mehr Fahrgäste den ÖPNV. Im Rahmen des fortzuschreibenden Nahverkehrsplans will man die Akzeptanz des ÖPNV weiter stärken. Dies soll u.a. durch die Konzentration der Bautätigkeit im Innenbereich erreicht werden. Des weiteren hat Bochum einen „Masterplan Einzelhandel“ verabschiedet, in dem Versorgungszentren definiert werden. Damit will man Lage und Größe von Supermärkten steuern.
Bochum ist aber zusätzlich eine „interaktive“ Stadt. Nicht nur dass sie eine der Referenzstädte im Forschungsprogramm Stadtverkehr zum Thema „Verkehr in schrumpfenden Städten“ des Bundesministeriums ist; sie hat sich auch mit fünf weiteren Städten zu einer „Städteregion Ruhr“ zusammengeschlossen. Diese Kommunen stellen einen gemeinsamen Regionalen Flächennutzungsplan auf, der die Gebietsentwicklungspläne von drei Bezirksregierungen ersetzt.
Die Wissenschaftler, die das Projekt „Verkehr in schrumpfenden Städten“ durchführten, waren ernüchtert über die ignoranten Reaktionen vieler Städte mit schrumpfender Bevölkerung: „Wozu neuen Planungen und Daten? Wir müssen doch erst noch die Programme und Beschlüsse von vor 10-15 Jahren umsetzen“, so fasst man einige der Antworten zusammen.
Dabei hatten die Forscher für die Städte ein einfaches Modell zur Abschätzung der Verkehrsentwicklung erarbeitet, in dessen Rahmen die Kommunen zwei Szenarien (Laissez-faire „Dispers“ und gestaltender Stadtumbau) entwerfen konnten. In den acht Referenzstädten wurden übrigens festgestellt, dass der Bevölkerungsrückgang auch das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsleistung des MIV und des ÖPNV sinken lässt. Jedoch ließ sich diese Entwicklung – je nach Szenariowahl – beeinflussen: In der Variante „Dispers“ nahm der MIV bis 2020 zu. Der ÖPNV nahm bei allen Varianten unterschiedlich stark ab, kann jedoch einen betriebswirtschaftlichen Vorteil einplanen: Da die Aktivitäten der älteren Bevölkerung außerhalb der beruflichen Rush hour liegen, könnte dies zu einer Entspannung bei der Personalplanung und den Fahrzeugen führen.
Das bedeutet aber dennoch, dass die Quartiere außerhalb der Kernstädte mit ihrer für die älter werdende Bevölkerung schlechteren Infrastruktur stärker überaltern als die Citys. Diese Entwicklung wird die Rückkehrtendenzen nicht nur älterer Menschen in die Innenstädte fördern.
Ihr Fazit fassten die Wissenschaftler des Forschungsprojekts u.a. so zusammen:
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2007, erschienen.
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Umfang, Struktur und Entwicklung von Mobilität als Ausdruck menschlichen Handelns werden erheblich von verschiedenen Einflussbereichen bestimmt. Der demografische Wandel insgesamt sowie die Entwicklung gesellschaftlicher Teilgruppen, aber auch allgemein gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen, wie zum Beispiel Veränderungen von Lebensstilen, bestimmen die Nachfrageseite des Verkehrs. Daneben entwickeln sich auch die Dörfer, Ortsteile, Städte, Regionen und Landstriche selbst weiter ebenso wie das Verkehrssystem in seiner politischen, technologischen oder ökonomischen Ausprägung und beeinflussen damit die Verkehrsentwicklung. Und letztlich wirken sich verändernde allgemeine wirtschaftliche und verkehrspolitische Rahmenbedingungen auf die Verkehrsnachfrage aus (vgl. auch im Folgenden Bäumer; Reutter 2005). Die Entwicklung von Lebensstilen oder Mobilitätsstilen ist also nur ein Faktor, der die Verkehrsentwicklung mitbestimmt, der dazu von den anderen stark beeinflusst wird.
Das noch junge theoretische Konzept zu Mobilitätsstilen baut auf der Lebensstilforschung auf. Diese beschäftigt sich auf der Ebene von Individuen primär mit deren selbst gestalteten Lebensentwürfen. Nach Lüdtke (1996, S. 140) werden Lebensstile definiert als „regelmäßige Verhaltensmuster [des Einzelnen, die Verf.], in denen (auch) strukturelle Lagen ebenso wie Habitualisierungen und soziale Affinitäten zum Ausdruck kommen“. Dabei wurden stets Zusammenhänge zwischen Lebensstil und sozialer Lage nachgewiesen. Lebensstilorientierungen sind also in der Regel nicht frei wählbar, sondern hängen systematisch mit den Merkmalen der Sozialstruktur zusammen. Sie entwickeln sich außerdem vor dem Hintergrund von und in wechselseitiger Beziehung zu (sich ständig verändernden) räumlichen und zeitlichen Strukturen sowie gesellschaftlichen Normen und politischen Setzungen.
Insbesondere die soziodemografischen Variablen Haushaltsgröße, Kinder im Haushalt, Alter, Schulbildung und Erwerbstätigkeit wurden in verschiedenen Untersuchungen als starke lebensstilprägende Merkmale identifiziert.
Für die Mobilitätsforschung besteht der Eigenwert des Lebensstilansatzes vor allen Dingen in der darin angelegten Differenzierung von Sozialstrukturen und der Berücksichtigung subjektiver Deutungsmuster, Handlungsziele, Werte, Präferenzen und (sub-)kultureller Zugehörigkeiten. Da weder räumliche noch soziale Strukturen per se eine Wirkungskraft auf das (Verkehrs-, Mobilitäts-) Handeln entfalten können, sondern stets vermittelt sind über die Deutungen des Akteurs, entfaltet die Lebensstilforschung zusätzliche Erklärungskraft und ermöglicht eine stärkere (ziel-)gruppenspezifische Auflösung als allein die herkömmlichen Erklärungsmuster auf der Basis sozioökonomischer und demografischer Größen. Sie können das klassische Erklärungsinstrumentarium der Mobilitätsforschung (z. B. das der verhaltenshomogenen Gruppen oder das der sozialen Lagen) ergänzen und weiter differenzieren. Deshalb finden sich in der jüngeren verhaltensorientierten Mobilitätsforschung häufig Bezüge zur Lebensstilforschung.
Durch die Verknüpfung von Lebensstilen und Alltagsmobilität werden Lebensstile in Mobilitätsstile übersetzt. Damit wird der Zusammenhang zwischen Lebensstil, Mobilitätseinstellungen und Verkehrsmittelwahlverhalten beschrieben. Diesem Ansatz liegt die mehrfach bestätigte Annahme zugrunde, dass bestimmten Lebensstilgruppen spezifische Mobilitätsformen eigen sind. Der Zusammenhang zwischen allgemeinen Lebensstilmerkmalen und Verkehrshandeln ist allerdings nur schwach nachzuweisen. Mobilitätsrelevante Lebensstilmerkmale entfalten dagegen größere Erklärungskraft für das individuelle Mobilitätsverhalten.
Eignet sich also das Mobilitätsstil-Konzept ergänzend zur traditionellen Mobilitätsforschung recht gut zur Erklärung heutigen Mobilitätsverhaltens und Ableitung zielgruppenspezifischer Strategien, so muss die Frage, ob es auch zur Beschreibung zukünftigen Mobilitätsverhaltens und damit zukünftiger Verkehrsnachfrage geeignet ist, eher verneint werden. Zu diesem Ergebnis kommt auch das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt StadtLeben (vgl. Beckmann, Hesse, Holz-Rau, Hunecke 2006). Zwar baut es, wie oben beschrieben, auf relativ gut prognostizierbaren sozio-demographischen Merkmalen auf, fügt diese aber mit sich sehr stark wandelnden und von Gesellschaft und Politik beeinflussbaren räumlichen und zeitlichen Strukturen, gesellschaftlichen Normen und politischen Setzungen zusammen.
Die Aussagen in bekannten Prognosen und Szenarien zur zukünftigen Verkehrsentwicklung bzw. Verkehrsnachfrage zur Entwicklung von Lebensstilen und Mobilitätsstilen als Bestimmungsfaktoren von Verkehrsnachfrageentwicklungen sind deshalb auch sehr allgemein gehalten. Vereinzelt werden – jeweils spezielle und schwer vergleichbare – aktuelle Lebens- bzw. Mobilitätsstiltypologien aufgegriffen und daraus Projektionen für die Zukunft abgeleitet, die sich i. d. R. darauf beschränken, Verschiebungen von eher traditionellen hin zu dynamischen Clustern zu beschreiben.
Trotz dieser Einschränkungen stellt sich also die Frage, in welche Richtung sich die heutigen Mobilitätsstile entwickeln werden und wie sie die zukünftige Verkehrsnachfrage und das Verkehrsgeschehen beeinflussen werden. Dabei kann wohl davon ausgegangen werden, dass insgesamt komplexe, individualisierte Lebensführungsmodelle zunehmen werden, Lebensstile eher vielfältiger werden und die Außenorientierung verstärkt wird.
In verschiedenen Szenarien (z.B. Holzwarth, Winter 2001; ifmo 2002 und 2005; Deutsche Shell GmbH, Topp 2003) zur zukünftigen Verkehrsentwicklung für die Bundesrepublik Deutschland, die diese Entwicklung aufgreifen, spielt hinsichtlich der Verkehrsprognosen die unterschiedliche Bedeutung der Automobilität für den individuellen Lebensstil eine entscheidende Rolle: Ein autoorientiertes (individuelles und gesellschaftliches) Leitbild steht einem Leitbild der Multimodalität und Intermodalität gegenüber. Beim autoorientierten Leitbild wird das Automobil als Symbol für Selbstbestimmung und Individualität gesehen, das auf die voran schreitende Individualisierung und auf steigende räumliche Entfernungen am besten reagieren kann. Ein hoher Anspruch an Flexibilität bedeutet, sich nicht von notwendigen Vorgaben anderer Verkehrsmittel abhängig zu machen.
Setzt sich dagegen das Leitbild der Multimodalität eher durch, könnte zukünftig eine pragmatische und zweckrationale Wahl des Verkehrsmittels dominieren. Bei der Multimodalität wählen aufgeklärte Nutzer das bequemste/ beste Verkehrsmittel in Abhängigkeit vom Zweck. Der eigene Pkw ist zwar substanzieller Bestandteil des individuellen Mobilitäts-Mixes, ist aber vereinbar mit „Systemhopping“. Unterstützt wird die Multimodalität durch leistungsfähige, flexible IuK-Systeme, die die Zugangsbarrieren für den ÖV z.B. in den Bereichen Information, Ticketing, Zahlungssysteme senken.
Welche verkehrsnachfragebezogenen Auswirkungen die einzelnen Leitbilder in Kombination mit anderen Bestimmungsgrößen wie z.B. Wirtschaftswachstum haben werden, lässt sich ebenso wenig vorhersagen wie die Frage, welches Leitbild sich durchsetzen wird. So wird z.B. in einschlägigen Szenarien ein stärkeres Wirtschaftswachstum sowohl mit einer einseitigen Steigerung der Pkw-Nutzung als auch mit dem Leitbild der Multimodalität, einhergehend mit einer rationellen Verkehrsmittelwahl, in Verbindung gebracht. Zum Beispiel bringt das Shell-Szenario „One World“ aus dem Jahr 2001 für das Jahr 2020 ein stärkeres Wirtschaftswachstum mit einer stärkeren Automobilität bzw. geringeren Multimodalität in Zusammenhang, während im ifmo-Szenario „Aktion“ aus dem Jahr 2002 Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes von knapp über 2% bis zum Jahr 2020 mit einem multimodalen, flexiblen Mobilitätsleitbild einhergehen.
Die Entwicklung hängt darüber hinaus auch von individuellen Werten und Präferenzen ab, ist aber – ob in die eine oder andere Richtung – ebenso von anderen Einflüssen und Weichenstellungen abhängig, die auch die positive Besetzung des einen oder des anderen Leitbildes mit beeinflussen. Dazu gehören sowohl ökonomische als auch verkehrs- und umweltpolitische Rahmenbedingungen wie die Festsetzung von Umwelt- und Emissionsstandards, Kostenwahrheit im Verkehr, aber auch die Förderung verkehrsvermeidender Siedlungs- und Raumstrukturen. Dabei sollte vermittelt werden, dass auch das Leitbild der Multimodalität Tendenzen der sich abzeichnenden verstärkten Individualisierung der Gesellschaft verkehrsmittelunabhängig aufgreifen kann.
In der Arbeitsgruppe wurde zusammenfassend festgestellt, dass für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung nicht nur Multimodalität als Ziel verfolgt werden sollte, sondern darüber hinaus die Entwicklung eines postautomobilen Mobilitätsstiles. Dafür ist es erforderlich, positive Erfahrungen und Images wie Flexibilität, Individualität, Wohlstand auch mit der nichtautomobilen Mobilität in Verbindung zu bringen. Genutzt werden können sowohl biografische Brüche, wie Umzüge, die z.B. mit Neubürger-Mobilitätspaketen unterstützt werden können, als auch Routinen, die sich ändern können. Dazu können auch von außen Anstöße gegeben werden, wie die Kampagne der AOK „mit den Rad zu Arbeit“ oder andere Mobilitätsmanagementmaßnahmen für Betriebe, Wohnen, Tourismusorte oder Wohngebiete. Entscheidend sind Angebote, um positive Erfahrungen mit der autounabhängigen Mobilität in allen Lebenszusammenhängen machen zu können: als Kinder und Eltern, als junge und alte Menschen, als SchülerInnen und als Beschäftigte, als Wohnende und Einkaufende, als Arbeitende und Erholende usw.
Der Beitrag geht der Frage nach, ob das Konzept der „Lebensstile“ auf die Mobilität übertragbar ist. Die Lebensstilforschung ermöglicht eine stärkere zielgruppenspezifische Auflösung als die herkömmlichen Erklärungsmuster mit sozioökonomischen und demografischen Größen. Für einen „Blick in die Zukunft“ ist dieses Konzept jedoch weniger geeignet: Mobilitätsstile sind nur ein Faktor, der die Verkehrsentwicklung mitbestimmt, der von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird.
Dieser Artikel von Ulrike Reutter (leitete die AG SO4 beim 16. BUVKO) ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2007, erschienen.
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FUSS e.V. möchte erreichen, dass die Wege zu Fuß in den Städten und Dörfern zunehmen. Die Verkehrsmittelwahl aber ist kaum durch Appelle veränderbar. Sie hängt in einem sehr starken Maße mit Lebensstilen zusammen und auch mit dem gesellschaftlichen Stellenwert der verschiedenen Verkehrsmittel. Damit beschäftigen sich folgende Beiträge:
Die „Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen“ ist seit 1998 in der Magistratsdirektion-Stadtbaudirektion als Koordinations- und Steuerungsstelle aller technischen Dienststellen der Stadt Wien angesiedelt. Neben frauen- und mädchenspezifischer Planung ist Gender Mainstreaming im Planungs- und Verkehrsbereich ein zentrales Thema der Leitstelle.
Mobilitätschancen hängen sehr stark von der individuellen Lebenssituation ab und werden von Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft bestimmt. Als Strategie der Chancengleichheit sieht Gender Mainstreaming die Einbeziehung der unterschiedlichen Interessenlagen in alle Entscheidungen und Maßnahmen vor. Diese sind im Verkehrswesen relativ leicht nachzuvollziehen. Der Modal-Split ist dabei ein zentraler Zielindikator. In Wien werden 59 Prozent aller Autofahrten von Männern, 60 Prozent aller Fußwege von Frauen zurückgelegt (vgl. Sozialdata 2003). Wegezwecke-Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen in Wien beinahe um die Hälfte mehr Begleit- und Versorgungswege zurücklegen als Männer. 50 Prozent dieser Wege sind Fußwege, die sich besonders in Kombination mit Erwerbsarbeit durch komplexe Wegeketten auszeichnen (vgl. ebenda).
Auch Kinder, Jugendliche und alte Menschen sind häufig zu Fuß in der Nähe der Wohnung unterwegs. Sie haben erhöhte Ansprüche an Verkehrssicherheit, an Barrierefreiheit und an Bewegungsraum: Jugendliche und Kinder, wenn sie zu ihren Treffpunkten und Spielräumen unterwegs sind genauso wie Eltern mit Kinderwägen und Kleinkind an der Hand. Kinder können Verkehrssituationen nicht ausreichend abschätzen und sind daher – im Sinne einer eigenständigen Mobilität – auf verkehrssichere Räume angewiesen. Ältere Menschen wünschen sich Sitzbänke zum Ausruhen zwischendurch, Barrierefreiheit wird mit zunehmendem Alter immer wichtiger.
In der Wiener Verkehrsplanung wurde Gender Mainstreaming zunächst auf der Leitbildebene bei der Erstellung des Masterplans Verkehr Wien 2003 berücksichtigt, der in einem hohen Detaillierungsgrad Maßnahmenbereiche für den Fußgängerverkehr enthält.
Zu den Qualitätsstandards zählen beispielsweise die Vorgabe einer freibegehbaren Durchgangsbreite von mindestens 2 Meter (1) oder die Programmierung von Lichtsignalanlagen mit einer maximalen Wartezeit von 40 Sekunden und einer maximal notwendigen Gehgeschwindigkeit von 1m/sec über die Kreuzung. Die breite Beteiligung maßgeblicher AkteurInnen bei der Erstellung führte zu einer im Vergleich mit früheren Verkehrsleitbildern höheren Akzeptanz bei der Umsetzung der Inhalte. Der Masterplan Verkehr befindet sich derzeit in einer Evaluierungsphase. Es ist die Einschätzung der zuständigen Arbeitsgruppe, dass die Fußgängerbelange seit 2003 stärker verankert werden konnten, systematische Grundlagenschaffung und Maßnahmensetzung jedoch weitgehend fehlt.
Die Finanzierung von Maßnahmen im untergeordneten Straßennetz liegt in Wien bei den 23 Bezirken. Um die Bezirke bei der Entscheidungsfindung für Vorhaben im öffentlichen Raum zu unterstützen, wurden daher im Rahmen des Projekts „Gender Mainstreaming Musterbezirke“ Karten entwickelt, die „Netzqualitäten“ und „Netzdefizite“ der Fußwege im Bezirk zeigen. Aus dem Kartenteil „Netzdefizite“ sind zu schmale Gehsteige, Beeinträchtigungen durch Gehsteig-Parker, Unfallhäufungspunkte für FußgängerInnen und schlechte Gehbeläge ersichtlich.
Verortete Ziele wie Kindergärten, Schulen oder Spitäler geben Aufschluss über das erwartbare Fußgängeraufkommen und etwaige spezifische Anforderungen an Breitenbedarf, Aufenthaltsqualität und Verkehrssicherheit. Diese systematische Darstellung hat auch das Ziel, eine Prioritätenreihung der Maßnahmen zu ermöglichen und die gesetzte Maßnahme – neben der punktuellen Verbesserung – im Kontext eines qualitätvollen Fußwegenetzes zu sehen. Die 2006 aktualisierten und verbesserten Karten werden von den unterschiedlichen Dienststellen der Stadt und den Bezirken verstärkt genutzt.
2002 wurde Mariahilf als „Gender Mainstreaming Pilotbezirk“ ausgewählt. Mariahilf ist Teil des dicht bebauten Stadtgebiets mit sehr engen teilweise vorgründerzeitlichen Straßenquerschnitten. Aus dem Nutzungsdruck resultierende Konfliktfälle im öffentlichen Raum wurden lange Zeit zu Lasten des Fußgängerverkehrs entschieden. Dies war auch Ergebnis traditioneller Verkehrsplanung. Neben dem starken motorisierten Individualverkehr ist in Wien auch der öffentliche Verkehr gut vertreten, die Position des Radverkehrs wurde durch Umweltbelange gestärkt. Der Fußgängerverkehr stellte lange Zeit den blinden Fleck der Verkehrsplanung dar. Nach einem politischen Wechsel im Bezirk 2001 wurde die Verbesserung der Bedingungen fürs Zufußgehen von der neuen Bezirksvorsteherin schwerpunktmäßig zum Thema gemacht. Mariahilf ist auch der einzige Bezirk, der über eine Frauenkommission verfügt.
Dem eigentlichen Pilotprozess unter der Federführung der Leitstelle ging eine intensive Vorbereitungsphase voran. Die Leitstelle beauftragte eine umfassende Bestandsaufnahme des gesamten Mariahilfer Fußwegenetzes von 27 km bezüglich der im Masterplan Verkehr festgelegten Qualitätskriterien und Anforderungen des Fußgängerverkehrs. Die Studie zeigt flächenhaft Potenziale für Verbesserungen zugunsten der FußgängerInnen. Neu war die Festlegung eines hierarchisierten Fußwegenetzes als Grundlage für eine fußgängerorientierte Prioritätenreihung der Maßnahmen.
Sieben Magistratsabteilungen – jeweils mit dem öffentlichen Raum auf Bezirksebene befasst – waren am Prozess beteiligt. Die Herausforderung bestand in der Schärfung des Bewusstseins der MitarbeiterInnen für die sozialen Anliegen ihrer Tätigkeit. Wichtig war dabei die systematische Schulung der vor Ort tätigen MitarbeiterInnen für die Anliegen der Chancengleichheit im öffentlichen Raum. Anhand ausgewählter Leitprojekte wurden die unterschiedlichen zielgruppenspezifischen Bedürfnisse ausgewiesen und bei der Projektentwicklung weitgehend berücksichtigt. Dafür wurden abteilungsspezifische Vorgangswiesen und Instrumente entwickelt. Eine Checkliste für Projektierungen im Straßenbau beispielswiese gibt neben verkehrsplanerischen Qualitätsstandards für die einzelnen Verkehrsarten auch über „weiche“ Faktoren, wie die Berücksichtigung wichtiger Ziele in der Umgebung oder Wunschgehlinien Aufschluss.
Während der Projektlaufzeit zwischen 2002 und 2005 wurden zahlreiche Verbesserungen für den Fußgängerverkehr umgesetzt. An die 1.000 Meter Gehsteige wurden verbreitert und 40 Querungshilfen neu errichtet (33 Gehsteigvorziehungen, sieben Gehsteigdurchziehungen). In der Nähe einer Volksschule wurde für eine Druckknopfampel Sofort-Grün für FußgängerInnen programmiert, an drei Kreuzungen wurden diesen Voreilzeiten eingeräumt, um Konflikte mit den gleichzeitig abbiegenden Autos zu reduzieren. In fünf Fällen wurden Stufen aus dem Gehsteigbereich entfernt und bei Stufenanlagen jeweils eine Kinderwagenrampe und ein Lift errichtet. Die Beleuchtung wurde an 23 Stellen für die FußgängerInnen verbessert, drei Plätze sind neu gestaltet und an neun Orten Bänke aufgestellt worden. Die teilweise sehr kleinteiligen Maßnahmen erzielten in Summe beachtliche Ergebnisse, da die punktuelle Wirksamkeit überstiegen und als Netzqualität spürbar wurde.
Entscheidungsspielräume lassen sich erst in der aktiven Teilnahme an konkreten Vorhaben erkennen. Die Anliegen der Chancengleichheit wurden so konkreter als durch abstrakte „Gender-Schulungen“. Mithilfe der entwickelten Instrumente konnte die Leitbildebene, also die Qualitätsansprüche des Masterplans Verkehr, auf die Verwaltungsroutine von Projektierenden und Werkmeister der Verkehrsabteilungen hinuntergebrochen werden. Durch regelmäßige Vernetzungstreffen entstand eine positive Motivation, die die große Mehrzahl der beteiligten MitarbeiterInnen überdurchschnittlich innovativ und aktiv für neue Maßnahmen werden ließ – keine Selbstverständlichkeit im Verwaltungsalltag. Grenzen der Umsetzung wurden jedoch im übergeordneten Straßennetz spürbar, wo Ansprüche aus Sicht des Fußgängerverkehrs wesentlich schwieriger durchzusetzen waren.
Die im Prozess gesetzten Maßnahmen wurden von der Leitstelle in einer Broschüre „Stadt fair teilen“ für die Bezirkspolitik, für die Mitarbeiterschaft in der Verwaltung und für Planungsbüros anschaulich aufbereitet. Die Broschüre wird auch von anderen Städten stark nachgefragt.
Insgesamt ist es gelungen, den Interessen der FußgängerInnen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Um das Engagement der Bezirke im Bereich der geschlechtssensiblen Gestaltung des öffentlichen Raums weiter zu unterstützen, ist derzeit auf Initiative des Stadtrats für Stadtentwicklung und Verkehr eine Gender Mainstreaming-Best-Practice-Schau ausgeschrieben, an der alle Bezirke teilnehmen können. Bei dieser Schau bekommen die Bezirke die Gelegenheit, qualitätvolle Projekte zu zeigen, die sich durch „sozialen Mehrwert“ auszeichnen. Die besten Projekte sollen im Rahmen der europäischen Mobilitätswochen prämiert werden, eine Ausstellung über alle eingereichten Projekte wird anschließend durch die Bezirke wandern.
Um die gewonnenen Erkenntnisse und erprobten Vorgangsweisen auf eine breitere Ebene zu stellen, wählen seit 2006 alle Verkehr- und Stadtplanungsabteilungen jährlich thematisch und räumlich breit gestreute Gender Mainstreaming Leitprojekte aus ihren laufenden Arbeitsprogrammen. Die Leitstelle berät die Abteilungen projektspezifisch, auch Schulungen werden in den einzelnen Abteilungen abgehalten. Insgesamt wurden und werden seit 2006 rund 40 Leitprojekte bearbeitet. Die Maßstabsebene der Projekte betrifft dabei nicht nur Straßenprojektierungen, sondern reicht bis zur Ebene großräumiger Stadtentwicklungsprojekte, ein relativ junges Aufgabengebiet der Leitstelle.
Aber bereits auf der Ebene der Stadtentwicklung werden durch die räumliche Vernetzung des Gebietes (im Sinne einer Stadt der kurzen Wege) für die spätere fußgängerfreundliche Gestaltung relevante stadträumliche Situationen generiert. Für die Erstellung des städtebaulichen Masterplans Flugfeld Aspern (200 ha) wurden daher ausgehend von vier exemplarischen Wohnstandorten im Gebiet Wegeketten unterschiedlicher Personengruppen in ihren spezifischen Alltagssituationen dargestellt und so die Attraktivität möglicher Alltagswege überprüft. Dabei wurde auch zwischen Tag- und etwaigen Nachtrouten unterschieden. Für den städtebaulichen Wettbewerb Nordwestbahnhof (42 ha) wurde die möglichst kurze Entfernung zwischen Wohnbebauung, öffentlichen Freiraum, sozialer Infrastruktur oder Haltestellen des öffentlichen Verkehrs als Beurteilungskriterium festgelegt und in der Jury auch gewertet.
Die Analyse der Wunschgehlinien der FußgängerInnen analog zu den Zielen der Umgebung hat sich für viele Leitprojekte als essentielle Bearbeitungsgrundlage herausgestellt. Bei den Wettbewerben zur Neugestaltung des Mariahilfer Platzls und des Liesinger Platzes wurden die Wunschgehlinien vorab festgelegt und ihre Berücksichtigung als Vorgabe für die Wettbewerbsausschreibung übernommen. Im Projekt „Verlängerung U1 in Richtung Rothneusiedl“ war die möglichst kurze Erreichbarkeit sensibler Einrichtungen Grundlage für die Festlegung der genauen Stationslagen und Situierung der Ausgänge.
Allen bearbeiteten Projekten ist der starke Alltagsbezug gemein. Neue Qualitäten und Sichtweisen in Planungs- und Projektierungsprozess durchzusetzen, die auch etwaige bisherige Defizite und damit potenzielle zusätzliche Aufgabenstellungen aufzeigen, zumindest jedoch in vielen Fällen Schwerpunktverlagerungen nahelegen, hat prinzipiell mit erheblichen „systemischen“ Widerstand zu rechnen. Die zielgruppenspezifische Betrachtung der Verkehrsplanung ist für die Identifizierung der häufig auf den ersten Blick nicht ersichtlichen, vielfältigen Ansprüche der FußgängerInnen jedoch eine wichtige Unterstützung. Zusätzliche Qualitäten können bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Planung verankert werden. Mit diesem Anspruch ist Gender Mainstreaming eine vielversprechende Strategie der Qualitätssicherung und ein wichtiger Beitrag für einen fair gestalteten öffentlichen Raum.
Mobilitätschancen hängen von der individuellen Lebenssituation ab. Vor allem Frauen, aber auch Kinder und ältere Personen legen viele Alltagswege zu Fuß und in der näheren Wohnumgebung zurück. Maßnahmen für den Fußgängerverkehrs wurden von der Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen der Stadt Wien im Leitbild, dem Masterplan Verkehr Wien und in konkreten Pilotprojekten, wie dem Gender Mainstreaming Pilotbezirk Mariahilf verankert. Die kleinteiligen Maßnahmen haben über die Summe ihrer punktuellen Wirksamkeit hinaus zu einer flächig spürbaren Qualitätssteigerung im öffentlichen Raum geführt.
Dieser Artikel von Eva Kail und Elisabeth Irschik ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2008, erschienen.
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Am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien wurde in den 70er Jahren die traditionelle Lehre des Verkehrswesens übernommen aber bald begonnen, die in der Praxis auftretenden Phänomene, die auf Widersprüche zwischen den in der traditionellen Lehre getroffenen Annahmen und daraus resultierenden Erwartungen und den Erfahrungen entstehen, nachzugehen und zu analysieren.
Ausgehend von den einfachsten Elementen der Verkehrsanlagen wie etwa den Breiten bis hin zu den komplexen Zusammenhängen von Wirtschaft, Siedlungsstruktur und Verkehrssystem wurden in den vergangenen 30 Jahren Schritt um Schritt neue Grundlagen des Verkehrswesens entwickelt, die heute von qualifizierten Planern in der Praxis angewandt werden. Vor über 30 Jahren wurde festgestellt, dass etwa die Fahrstreifenbreiten der Richtlinien keine wissenschaftlich gesicherten Grundlagen besitzen, sondern auf Annahmen oder der Übernahme bestehender älterer Vorschriften beruhen. Dieser unbefriedigende Zustand wurde dadurch behoben, dass man unter Anwendung der Evolutionstheorie und Berücksichtigung von fünf anderen Wissenschaften den Mechanismus entdeckte, der Menschen befähigt, sich mit einem Fahrzeug mit relativ hoher Geschwindigkeit relativ sicher auf einem relativ schmalen Streifen zu bewegen.
Das Ergebnis war ein gut gesicherter Zusammenhang zwischen Fahrstreifenbreite und gewählter Geschwindigkeit mit dem man die gewünschten Tempolimits baulich a priori berücksichtigen kann.
In der Zunft des Verkehrswesens führt dies nun keineswegs zu einer Änderung der Richtlinien, sondern zu Gruppenbildung und Mehrheitsbeschluss durch demokratische Abstimmung, was richtig und was falsch sei. Erst nach Jahrzehnten und unter dem Druck des Städtebaues bequemte man sich, die alten falschen Querschnitte in den Richtlinien zu beseitigen, die Praxis nimmt allerdings davon bisher kaum Notiz.
Traditionelles Verkehrswesen beruht vielfach auf Annahmen und nicht auf wissenschaftlich gesicherten Grundlagen. Es sind dies im Wesentlichen drei Dogmen, die das Denken und Handeln in dieser Disziplin bestimmen:
Der Vorteil bei diesen Mythen besteht aber darin, dass man sie empirisch und auch theoretisch analysierend untersuchen kann, um ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit nachzuweisen.
Die Annahme des Mobilitätswachstums beruht auf einem Beobachterfehler und einer zwecklosen oder zweckfreien Definition von Mobilität. Mobilität außer Haus hat immer einen bestimmten Zweck, nämlich den Mangel im Haus zu kompensieren. Sie dient dem Aufsuchen des Arbeitsplatzes, des Einkaufes, dienstlichen Erledigungen, Sozialkontakten, Freizeitaktivitäten und der Ausbildung. Und daran ändert sich mit oder ohne Auto nichts. Die empirischen Befunde liefern uns seit Jahrzehnten den Beweis dafür. Das leichte Ansteigen der durchschnittlichen Wegezahl pro Einwohner in den vergangenen fünf Jahrzehnten ist nicht auf eine erhöhte Zahl der Zwecke, sondern viel mehr auf verloren gehende Logistik und schrumpfende Familiengrößen zurückzuführen. Die erste Annahme ist daher falsch.
Die zweite Annahme geht von einer Unverrückbarkeit von Strukturen im Raum aus, unabhängig davon, welche Geschwindigkeiten das Verkehrssystem aufweist. Dies ist allerdings ein grober Irrtum, denn das Verkehrssystem macht sich selbst seine Strukturen, wie ein Blick auf die europäische Landkarte erkennen lässt. Städte entstanden früher Tagesreisen voneinander entfernt, also etwa alle 25-40 km und sind bis heute diesem Muster weitgehend treu geblieben. Es war das langsame Verkehrssystem des Fußgehers oder Pferdefuhrwerkes, das diese Strukturen bildete. Ebenso bildet auch das schnelle Verkehrssystem seine Strukturen, unter der gleichen Randbedingung: die Mobilitätszeit im System bleibt konstant.
Steigt die Geschwindigkeit, nimmt die Weglänge zu und daher ändern sich die Strukturen, weil sich die Ziele und Quellen ändern. Damit sind aber sämtliche Berechnungen mit denen schnelle Verkehrssysteme durch eine Nutzen-Kosten-Analyse begründet werden falsch. Denn die Größe, auf der der Nutzen beruht, nämlich die Zeiteinsparung, existiert nicht. Damit ist die zweite Grundhypothese traditionellen Verkehrswesens ungültig.
Und in Kürze noch die dritte: die Fähigkeit zur Verkehrsmittelwahl. Die Verkehrsmittelwahl wird durch die Strukturen bestimmt, denn Strukturen bedingen das Verhalten. Dabei spielt der Parkplatz die zentrale Rolle und determiniert die Verkehrsmittelwahl. Die heutige Form der Parkraumorganisation beruht auf der Reichsgaragenordnung und legt jedem normalen Bürger nahe, das Auto zu benutzen, ja sie zwingt ihn dazu. Die Versuche diesen fundamentalen Fehler an Quell- und Zielorten durch Maßnahmen im Fließverkehr wie Road Pricing, Tempolimits und ähnliches zu kompensieren sind grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, weil damit nur Symptome und nicht die Ursachen angesprochen werden.
Sind die Grundannahmen und die darauf aufbauenden Theorien falsch, ist es gleichgültig wo und wie man sie anwendet – das Ergebnis wird immer falsch sein. In der „Wachstumsphase“ der vergangenen 50 Jahre wurden die fundamentalen Fehler herkömmlichen Verkehrswesens dadurch überdeckt, dass man annahm, die Begleiterscheinungen der Motorisierung wären zwingend gegeben und ein Schicksal, dem man nicht entgehen könne. Das man nur mit Hilfe der so genannten Experten so gut wie möglich zu bewältigen hätte. Und die Experten bereiteten auch die Entscheidungen vor.
Eigentlich hätte man in den letzten 50 Jahren darauf kommen müssen, dass etwas falsch läuft in diesem System. Man hat aber angenommen, dass mit wachsendem Wohlstand zwangsläufig die Probleme ebenfalls wachsen müssen. Dies widerspricht allerdings allen anderen Entwicklungen, da mit wachsendem Wohlstand das Gesundheitssystem besser wurde und viele andere Bereiche des Lebens verbessert werden konnten – nur das Verkehrssystem ist immer schlechter geworden. Eindeutig nachgewiesen ist, dass herkömmliches Verkehrswesen in der Lage ist, verlässlich jene Probleme zu erzeugen, von denen es vorgibt, sie zu lösen. Es ist eine problemerzeugende Disziplin anstatt einer problemlösenden.
Besonders dramatisch sichtbar werden diese Irrtümer aber erst bei Abnahme der Bevölkerung bzw. bei schrumpfenden Städten. Hier zeigt sich das Übermaß falscher riesiger Infrastruktur, die nicht mehr erhalten werden kann und von Wirtschaftsstrukturen, die nicht mehr erreicht werden können, falls billige Energie nicht endlos zur Verfügung steht. Plötzlich entdecken die Menschen, dass sie in der Falle sitzen.
Es war eine Falle der Bequemlichkeit und der Gedankenlosigkeit, die mit Hilfe verschiedener Disziplinen, unter anderem auch jener des Verkehrswesens, in den vergangenen 50 Jahren mit immer größerer Perfektion und zunehmender elektronischer Ausstattung gebaut wurde, in der der Großteil der Menschheit heute sitzt und vermutet, es würde keinen Ausweg aus dieser Falle finden.
Die gestellten Fragen:
Zu den Antworten:
An meinem Institut müssen sämtliche Studierende seit über 20 Jahren eine Stunde Erfahrung mit dem Rollstuhl oder dem Kinderwagen machen und darüber ein Protokoll verfassen. Diese „freiwillige“ Übung dient dazu, den angehenden Planern die Augen dafür zu öffnen, was ihre Vorgänger nicht gesehen haben, nämlich den Menschen im Verkehrssystem, insbesondere den behinderten Menschen, das Kind oder den Alten. Sie erkennen plötzlich, dass ein Bordstein ein unüberwindliches Hindernis ist und ebenso eine Straßenbahn oder ein Autobus mit einer Plattformhöhe weit über dem Bahnsteig.
Fragt man die Studenten, was ihnen bei dieser Übung am schwersten gefallen ist, dann erhält man fast immer die Antwort: dass sie nicht aufstehen durften, wenn andere Kollegen oder Mitreisende ihnen mit dem Rollstuhl in die Straßenbahn oder den Autobus geholfen haben. Sie waren plötzlich auf das soziale Verhalten der Mitmenschen angewiesen.
Dies hat dazu geführt, dass diese Absolventen – trotz des erbitterten Widerstandes ihrer Vorgesetzten und Kollegen, die an anderen Universitäten ausgebildet werden, begonnen haben, Gehsteige durchzuziehen und nicht Gehsteige abzusenken, damit nicht der Fußgeher den Höhenunterschied zu überwinden hat, sondern der Autofahrer. Außerdem lernen sie aus den elementaren Beziehungen der Mechanik den Ruck als wirksame Steuergröße für die Geschwindigkeit zu nutzen, indem sie geeignete Aufpflasterungen an Stellen vorsehen, um die Geschwindigkeit in dem Bereich des evolutionär Verantwortbaren zu bringen, nämlich auf den Wert von 30 km und weniger.
Geschwindigkeit in einer zukunftsorientierten modernen Verkehrsplanung hat keineswegs mehr die zentrale Rolle wie in der von Irrtümern beherrschten traditionellen Verkehrsplanung, sondern ist ein Indikator, der auf die Not einer Struktur hinweist, die so mangelhaft gebaut und konstruiert wurde, dass sie hohe Geschwindigkeiten braucht, um ihre Funktionen aufrecht erhalten zu können. Schnelle Verkehrssysteme sind daher für eine qualifizierte Verkehrsplanung der Beweis für die Unfähigkeit der Planer und auch der Politiker in der Stadtgestaltung und im Verkehrssystem. Gut organisierte Systeme brauchen keine hohen Geschwindigkeiten.
Die Stadt der kurzen Wege ist symptomatisch für die irreführende Betrachtungsweise in der herkömmlichen Verkehrsplanung – ein unerreichbares Wunschbild. Die Stadt der kurzen Wege hat es früher gegeben, sie wurde ersetzt durch die Stadt der langen Wege. Das Geheimnis für die Siedlungen der kurzen Wege ist der Fußgeher. Jede normale Stadt ist daher in erster Linie eine Fußgeherstadt, ergänzt durch den Radfahrer und den öffentlichen Verkehr. Das Auto dient für bestimmte Sondertransporte.
Auch heute ist die Situation nicht anders, denn die Zahl der Autofahrten, die benötigt wird um Lasten zu transportieren, die schwerer sind als sie ein Fußgeher oder Radfahrer oder Benutzer des öffentlichen Verkehrs tragen kann, liegt in allen empirischen Erhebungen, die der Verfasser seit 40 Jahren durchführt, fast immer unter 10 % der heutigen Autofahrten. Der Rest dient nur der Bequemlichkeit oder dem Zwang, der aus falscher Standortwahl entsteht.
Eine Stadt der geringen Geschwindigkeiten ist aber auch eine Stadt des vielfältigen Angebotes auf kleinem Raum – nämlich die Stadt. Was man heute als Stadt bezeichnet, ist in Wirklichkeit meist ein Siedlungshaufen, urban sprawl, der nichts mit der eigentlichen Stadt zu tun hat.
Die Stadt muss den Bewohnern alle täglichen Aktivitäten innerhalb der Gehwegdistanz bieten, bei größeren Distanzen innerhalb der Gehweg-, der Fahrraddistanz oder gut erreichbar mit dem öffentlichen Verkehr innerhalb des gleichen Zeitbudgets. Eine solche Stadt ist stabil und kann sich den demographischen Entwicklungen wesentlich besser anpassen. Das Ausmaß des Autoverkehrs – überschreitet dieses den Wert von 5-10 % aller Wege – ist ein Zeichen für den Mangel in der Stadtplanung und dem Verkehrssystem.
Die Vorsorge für morgen: Beseitigung der Vorschriften der Reichsgaragenordnung, die immer noch gültig sind durch menschengerechte Bestimmungen. In der Reichsgaragenordnung vom 1. April 1939 wurde die „Hauptsünde“ der heutigen Stadt- und Verkehrsplanung begangen, indem jedem Objekt und jeder Aktivität auf dem eigenen Grundstück oder in unmittelbarer Nähe ein Parkplatz vorgeschrieben wurde. Der Zweck der Reichsgaragenordnung war die Förderung der Motorisierung und nicht die Lösung von urbanen oder Verkehrsproblemen.
In ihr kommt die völlige Verständnislosigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Menschen im städtischen Organismus zum Ausdruck. Leider wurde diese Bestimmung bis heute in den Bauordnungen weitergeführt. Man hat nicht erkannt, dass der Parkplatz dem Abfahrtsort eines technischen Verkehrsmittels, also der Haltestelle des öffentlichen Verkehrs, entspricht. Da technische Verkehrsmittel tief in das Unterbewusstsein des Menschen, in den Energiehaushalt seines Körpers eingreifen, können sie daher durch spätere Maßnahmen, die nicht in der gleichen Tiefe wirksam sind, nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden.
Es ist die physisch falsche Struktur, die das heutige Verkehrssystem antreibt und die Probleme erzeugt. Es ist die falsche Parkraumorganisation. Ist das Auto in geringerer Entfernung als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs zu erreichen, wird jeder Mensch zum Autofahrer oder versucht es zumindest zu werden. Aus individueller Sicht ergibt sich damit für ihn der optimale Zustand, wenn er über ein Auto verfügt und es auch benützt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen und keine noch so attraktive Gestaltung des öffentlichen Verkehrs wird ihn daran hindern.
Wenn daher die oben aufgeworfenen Fragen sinnvoll beantwortet und gelöst werden sollen ist es nur dadurch möglich, dass durch eine neue Parkraumorganisation der heute chancenlose öffentliche Verkehr in eine zumindest annähernd gleiche Position gebracht wird wie das Auto. Dies ist nur möglich, wenn die Fahrzeuge nicht mehr bei den Quellen und Zielen der Wege untergebracht werden dürfen, sondern in einer Entfernung, die mindestens genauso groß zu den Aktivitäten des Menschen sein muss, wie die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. D.h. die Autos sind in Sammelgaragen unterzubringen und grundsätzlich aus der Fläche zu entfernen.
Damit entfallen aber auch die Gehsteige, die vor allem dazu gedient haben, dem Autofahrer jenen Teil des seinerzeitigen Straßenraumes zu reservieren, den er für seine hohen Geschwindigkeiten benötigt, um sie bequem zu genießen. Über 70 % des Straßenraumes werden damit frei von Autoverkehr – ausgenommen ist der Lieferverkehr, manche Handwerker und die Körperbehinderten, die eben mit Schrittgeschwindigkeit diese Bereiche aufzusuchen haben, die von Fußgehern, Radfahrern und den wieder in die Städte zurückkehrenden Aktivitäten frequentiert werden.
Langsame Geschwindigkeiten bedingen eine Vielfalt von kleinen Geschäften. Hohe Geschwindigkeiten vernichten die kleinen Wirtschafts-, Handwerks- und Handelsstrukturen und ersetzen sie durch große aber dezentral außerhalb der Stadt liegende Shopping-Center auf der grünen Wiese, die nicht mehr vom öffentlichen Personennahverkehr erreicht werden.
Die Frage, wie der ÖPNV von morgen aussehen soll, um den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden, lässt sich daher ohne Berücksichtigung der Strukturen, die der ÖPNV bedienen soll, nicht beantworten. In einer autofreien Umgebung sind die Alltagsbewegungen gehen oder Rad fahren in jeder Art von Gesellschaft – ob jünger oder älter – zur körperlichen und geistigen Gesunderhaltung möglich und erforderlich und daher eine Grundverpflichtung für jede Art von Regierung. Diese Verpflichtung kann nur erfüllt werden, wenn das Auto flächenhaft aus der Stadt entfernt wird, weil es der körperlichen und geistigen Gesunderhaltung aller Schichten der Bevölkerung abträglich ist.
Alte wie junge Menschen lernen immer das Verhalten, das ihnen die Strukturen anbieten. Ein kostengerechter Flugverkehr wirkt weder für Junge noch für Alte attraktiv und die Frage, ob ein Winterquartier, das ausschaut wie das Sommerquartier, das ideale sein soll, ist nur im Zusammenhang mit dem Erlebnisprofil und der Werterhaltung des Einzelnen zu beantworten. Die fernen Massen-Winterquartiere im Sommer unterscheiden sich ja oft – mit Ausnahme der Umgebung und der Temperatur – durch nichts von den nahen Massen-Werktagsquartieren, die man den Menschen im neuzeitlichen Städtebau seit den letzten 50 Jahren zugemutet hat.
Bislang beruhte die Praxis im Verkehrswesen auf falschen Annahmen, die zu falscher Infrastruktur in den Städten führte. Diese Fehler wurden in der Wachstumsphase überdeckt, heute, bei Schrumpfung und Stagnation treten sie klar zu Tage. Der Autor plädiert für temposenkende Infrastruktur bzw. eine Umverteilung des Raumes. Zentral ist dabei eine andere Parkraumorganisation, die die Kfz-Stellplätze aus den Stadtvierteln verbannen muss.
Dieser Artikel von Prof. Hermann Knoflacher ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2007, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.
Deutschland ist mobil. Wir haben Freude am Fahren, die Bahn kommt, und geflogen wird zum Taxipreis. Ausgedrückt in Zahlen und Fakten heißt das: die Motorisierung steigt, die Zahl zurückgelegter Personenkilometer ebenfalls, es werden jährlich Millionen in den Ausbau der Infrastruktur investiert, um die immer schnellere, immer bessere und immer bequemere Überwindung von Entfernungen für alle Menschen möglich zu machen. Alle Menschen? Wirklich alle? Und was, wenn nicht?
Auch wenn für Viele das “Prinzip Freude” heißt, Leben ist Bewegung, weil wir, um an die Orte zu kommen, an denen das Leben statt findet, die dazwischen liegenden Distanzen überwinden müssen. Und die sind dank veränderter wirtschaftlicher Beziehungen, gesellschaftlicher Prozesse und räumlicher wie verkehrlicher Entwicklungen in den letzten fünfzig Jahren immer länger geworden. Daraus resultiert ein gestiegener Mobilitätsbedarf, der seinen Ausdruck in mehr Verkehr findet.
Der überwiegenden Mehrheit der Menschen gelingt es scheinbar mehr oder minder gut, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Ein Auto zu haben ist dabei oft der Garant für die uneingeschränkte Verwirklichung des Mobilitätsbedürfnisses, aber manchmal reicht auch das nicht aus. Was aber geschieht mit denen, die ihre Mobilitätsbedürfnisse nicht verwirklichen können, die unfreiwillig zu wenig mobil sind? Gibt es das in Deutschland überhaupt, und wenn ja, wer ist davon betroffen, und mit welchen Folgen und aufgrund welcher Ursachen?
Zugegeben, ganz neu ist das Thema nicht. Die Diskussion um “gleiche Mobilitätschancen” brandet je nach politischer Lage, Höhe des öffentlichen Kassenstands, Engagement der zuständigen Wissenschaftler, Planer und Politiker und gern auch zielgruppenspezifisch immer wieder auf. Ansonsten bildet sie zusammen mit anderen schwer fassbaren, sozialen, daher meist qualitativen und somit als “weich” eingestuften Aspekten eher ein Hintergrundrauschen in der nach wie vor recht technikzentrierten Verkehrsdebatte.
In anderen europäischen Ländern scheint man dagegen schon weiter zu sein, allen voran Frankreich und Großbritannien. Im angelsächsischen Sprachraum ist der Aufhänger dabei die zusammenhängende Betrachtung von Mobilität und sozialer Ausgrenzung. Ein reichhaltiger Fundus an Literatur konstatiert eindrucksvoll den theoretischen Zusammenhang und belegt ihn durch zahlreiche Fallstudien. Im wesentlichen läuft alles darauf hinaus, dass ein Zu-Wenig an Mobilität die Chancen in anderen Lebensbereichen erheblich beeinträchtigt. Zentral ist dabei die Frage nach dem Zugang zum Arbeitsmarkt, da die Beschäftigungssituation von Individuen und Haushalten maßgeblich ausschlaggebend für die Gestaltung anderer Lebensbereiche ist.
Noch immer gilt, dass die finanzielle Ausstattung (vulgo: Geld) entscheidend dafür sein kann, welche Türen sich im Leben für wen öffnen. Dies gilt u.a. für Bildungschancen, medizinische Versorgung, kulturelle Teilnahme, Ausstattung mit Gütern und Waren, aber auch für die Bildung und Pflege sozialer Netzwerke und gesellschaftliches sowie politisches Engagement. Die Teilnahme an jeder einzelnen der genannten Aktivitäten setzt an sich ebenfalls Bewegung im Raum voraus, die, wenn sie nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden kann, die Teilnahme selbst behindert. Unter sozialer Ausgrenzung wird verstanden, dass Personen oder Gruppen sich auf verschiedenen Ebenen (ökonomisch, institutionell, kulturell, sozial) vom “durchschnittlichen gesellschaftlichen Standard” entfernen (Häußermann 2000). Soziale Ausgrenzung ist ein komplexer, dynamischer Prozess, bei dem viele Faktoren auf individueller und institutioneller Ebene miteinander verwoben sind.
Ähnlich komplex ist die Rolle des Verkehrs in diesem Zusammenhang: Er verbindet Strukturen und Prozesse miteinander, die Ausgrenzung tendenziell bedingen oder verringern können (z.B. Arbeitsmärkte mit ihren Anforderungen und Arbeitssuchenden mit ihren Qualifikationen); formt aber gleichzeitig selber eine Zugangshürde, die nicht immer und nicht von jedem ohne weiteres überwunden werden kann. Was genau damit gemeint ist, illustriert die nachfolgende Abbildung.
Wie hier schematisch dargestellt, verbindet das Verkehrssystem Start- und Zielpunkt einerseits räumlich (a), andererseits stellt er aber auch die Verbindung zwischen den dort jeweils vorherrschenden Strukturen und Prozessen dar (b). Zudem beeinflussen diese die Zugangsmöglichkeiten zum Verkehrsnetz selbst (c), welches darüber hinaus über seine eigenen, charakteristischen Zugangsdeterminanten verfügt. Diese interagieren mit den Faktoren, die durch Individuen und Märkten etc. bedingt sind (d), und können – so die These – verstärkend bzw. abschwächend wirken.
Das britische Department for Transport (DfT 2000) nennt Raum, Zeit, Kosten sowie persönliche Merkmale der Nutzer als die vier Ebenen, auf denen die Ausgestaltung des Verkehrssystems der Verwirklichung von Mobilitätsbedürfnissen entgegenstehen kann. Eine eindeutige Trennung zwischen diesen ist in der Praxis nicht möglich, und darüber hinaus sind sie selber Folge persönlicher oder gesellschaftlicher Gegebenheiten und Entwicklungen. Will sagen, die speziellen Merkmale der Nutzer einerseits und die Merkmale des Verkehrssystems andererseits wirken mit darüber hinaus existierenden Strukturen und Prozessen zusammen.
Aus den Komponenten arbeitslose alleinerziehende Mutter ohne Auto, teure Monatskarte, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, billige Wohnsiedlung am einen, potenzielle Arbeitsstätte am anderen Ende der Stadt lässt sich ein eindrucksvolles, zugegebenermaßen stilisiertes, aber dennoch nicht unrealistisches Beispiel formen, in dem sich das Verkehrssystem als inadäquat erweist, die Mobilitätsbedürfnisse der Frau zu erfüllen. Es kann einerseits Diskrepanz zwischen den nicht zusammenpassenden Strukturen von Arbeitsmarkt, Kinderbetreuungsmöglichkeiten und wohnungsmarktwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht überbrücken und agiert andererseits selbst als eine Barriere, da die zeitliche sowie die finanzielle Ebene den notwenigen Zugang erschweren.
Der Versuch, diese Zusammenhänge begrifflich wie grundsätzlich zu fassen, führte zur Prägung des Begriffs “transport poverty” (Social Exclusion Unit 2003). Dieser Begriff ist jedoch nicht klar definiert und wird z.T. unterschiedlich verwendet. Eine Übersetzung ins Deutsche unter dem Begriff ‚Verkehrsarmut’ scheint zudem ungeeignet, die angesprochenen Zusammenhänge insbesondere im Hinblick auf die Folgen für die Betroffenen adäquat zu beschreiben.
Zutreffender schiene wohl der Begriff der Mobilitätsarmut, vor allem wenn dieser auch die aus der Verminderung der Beweglichkeit an sich resultierenden negativen Folgen in anderen Lebensbereichen beinhaltet (Runge 2005). Eine Arbeitsdefinition könnte daher wie folgt lauten: Mobilitätsarmut bedeutet die verringerte Möglichkeit zur Verwirklichung vorhandener Mobilitätsansprüche und –bedürfnisse, die zu einer Benachteiligung der Betroffenen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führt. Auch wenn dieser Definition noch einige konzeptionelle Lücken anhaften, so wird daraus schon deutlich, dass eine gesamtheitliche Betrachtung nötig ist, die soziale, d.h. individuelle und gruppenspezifische, mit der räumlichen Ebene zusammenbringt (Grieco 2003).
Städtischen Räumen wird zwar oft unterstellt, dass sie im Gegensatz zum ländlichen Raum den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen einen gleichermaßen guten Zugang bieten, dass dies nicht so ist, konnten Church et. al (2000) eindrucksvoll am Beispiel Londons zeigen, wo ca. ein Viertel aller Einwohner nicht ausreichend (verkehrlichen) Zugang zu den Möglichkeitsräumen haben, die eine vollständige soziale Teilhabe gewährleisten.
Natürlich führt verringerte Mobilität nicht zwangsläufig zu sozialer Ausgrenzung, aber in den meisten Fällen müssen die Betroffenen Abstriche in ihrer täglichen Lebensweise sowie hinsichtlich ihrer Chancen in den unterschiedlichen Lebensbereichen hinnehmen. Wie oben bereits angedeutet, liegen die Folgen einer verminderten Mobilität darin, dass die Betroffenen Abstriche in ihrer täglichen Lebensweise sowie hinsichtlich ihrer Chancen in den unterschiedlichen Lebensbereichen hinnehmen müssen. Dazu haben Untersuchungen aus Großbritannien festgestellt, dass aufgrund unzureichender verkehrlicher Anbindung
Dabei trifft es im Regelfall polemisch ausgedrückt die “üblichen Verdächtigen”, d.h. alle die, die es immer zu treffen scheint, wenn von gesellschaftlichen und sozialen Missständen die Rede ist. Namentlich sind dies Arme, Alte, körperlich Eingeschränkte, Frauen, Kinder. Das soll nun wiederum nicht heißen, dass Reiche, Junge, Gesunde, Männer und die dem Kindesalter Entwachsenen nicht ebenso betroffen sein können. Sie sind es nur nicht so häufig und vielleicht auch nicht mit den gleichen gravierenden Konsequenzen, z.T. auch, weil sie in der Lage sind, fehlenden Zugang zum Verkehr anderweitig auszugleichen.
Hinsichtlich der Frage, was man den hier skizzierten Zusammenhängen entgegensetzen kann, gibt es grundsätzlich zwei Ansätze:
Dafür sind keine “exotischen” Maßnahmen nötig, sondern eine integrierte Betrachtung von Verkehr, Raum und den sich darin bewegenden Menschen, wie sie längst selbstverständlich sein sollte. Zunächst einmal bedeutet es jedoch, dass das Bewusstsein für diese Probleme sowie das Wissen um die speziellen Zusammenhänge auch in Deutschland konsequenter geschaffen werden müssen. Von besonderer Relevanz scheint dabei die aktuelle Diskussion im die Folgen des demographischen Wandels unter dem Leitmotiv des “Wir werden weniger, grauer, bunter”. Sollte, wie vielerorts bereits vorsichtig vermutet wird, dazu noch für einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung ein “ärmer” kommen, zeichnen sich ganz neue Spannungsfelder für die Verkehrspolitik ab.
Dieser Artikel von Diana Runge ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2006, erschienen.
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Dass unsere Lebenswirklichkeit immer schneller zu werden scheint, ist eine Erfahrung, die fast jeder von uns machen kann. Unsere Zukunftshorizonte scheinen sich immer weiter zu verkürzen. Kaum einer mag mit Sicherheit eine seriöse Prognose abgeben, wie wir in zehn Jahren leben werden, welche Formen der Mobilität unsere Alltagswelt dominieren oder wie wir unsere Zeit verbringen werden. Nicht nur für das globale Klima gilt jetzt: radikale Zustandsänderungen nicht ausgeschlossen!
Sicher ist: es wird anders werden. Nicht nur Klimawandel und Peak Oil, das sogenannte Ölfördermaximum, werden uns zum Umdenken und Umlenken zwingen.
Auch werden die Kosten des Paradigmas – „immer größer, immer schneller und immer weiter so“ – uns auf physischer und psychischer Ebene bald erdrücken, wenn wir nicht ernsthaft damit beginnen auf eine Entschleunigung unserer ökonomischen Tätigkeiten hinzuarbeiten.
Das abnehmende Angebot fossiler Treibstoffe begünstigt dabei aber nicht nur eine neue Mobilitätskultur, die hohe Geschwindigkeiten nicht mehr ideologisch überhöht und das Langsame zum Minderwertigen erklärt, sondern kann physisch und psychisch zu einem gesunden Gleichgewicht aus Aktivität und Ruhe führen.
Dieser Zwang zur Änderung birgt also zugleich eine Chance zum Nachdenken über neue postfossile Lebensstile. Neben der technischen Umstellung betrifft dies auch die kulturelle Entwicklung, u.a. beim Wohnen, Arbeiten, der Freizeit, der Ernährung, des Tourismus, etc..
Das Netzwerk Slowmotion hat sich zum Ziel gesetzt, überkommene Maßstäbe und Bewertungen von Zeit und Geschwindigkeit zu verändern. Gewohnheiten werden verdreht und Altbekanntes „auf den Kopf gestellt“ durch originelle, auch provokante Aktionen. Das Langsame wird ebenso positiv besetzt wie die Balance aus Aktivität/Bewegung und Ruhe.
Slowmotion Deutschland ist aus einer Initiative der Evangelischen Akademie Tutzing und Green City e.V. entstanden. Slowmotion Berlin wird vom Fachforum „Mobilität“ der Lokalen Agenda 21 und von Berlin 21 e.V. unterstützt.
Am 20. Juni fand im Verkehrszentrum des Deutschen Museums in München die Auftaktveranstaltung des Netzwerkes Slowmotion Deutschland statt. Ein umfassendes Rahmenprogramm auf dem Vorplatz des Verkehrszentrums ergänzte die in den Innenräumen stattfindenden vier Zukunftsarenen und drei Workshops.
Während der abendlichen Abschlussdiskussion mit allen Teilnehmenden und Referenten/innen boten sich Möglichkeiten, gemeinsame Positionen zu finden, positive Beispiele zu kommunizieren und ein Peak Oil-Fest zu feiern.
Dr. Martin Held, Studienleiter Evangelische Akademie Tutzing und Netzwerk Slowmotion, betonte die positive Seite einer, die Öffentlichkeit oft verwirrenden, Entwicklung weg vom Öl, hin zu einer humanen Balance zwischen Aktivität und Ruhe. Fakt ist: der fossile Verkehr wird abnehmen und die Stadtkultur wird vielfältiger werden und das nicht nur im Mobilitätsbereich.
Manfred Neun, Präsident European Cyclists’ Federation und Schirmherr der Auftaktveranstaltung, forderte die Rückkehr zur „Automobilität“ im Sinne einer zunehmenden Bewegungsfreiheit, einer erhöhten Qualität der Bewegung und einer Zurückdrängung der autozentrierten Verkehrsplanung. Denn der Platzbedarf des Automobils in den Städten und auch auf dem Land zeitigt groteske und nicht mehr hinnehmbare Auswirkungen. In den Städten muss dem öffentlichen und damit sozialen Raum eindeutig Vorrang vor dem Autoverkehr eingeräumt werden. Klimawandel und Ressourcendebatte können hier als starke Argumente für eine andere Prioritätensetzung im Verkehrsbereich beitragen.
Niels Tørsløv, Fahrradbeauftragter und Direktor der Verkehrsabteilung Kopenhagens, zeigte den Zuhörenden, dass es schon anders geht. In Kopenhagen ist die offizielle Maxime der Stadtpolitik: Fahrräder und Fußgänger zuerst! Zwar bleibt auch hier zumindest finanziell alles beim Alten – eine Stadtautobahn verschlingt nun mal ein Vielfaches als ein neuer Rad- oder Fußweg – doch in Kopenhagen sind es die Bürger/innen, die das Auto immer häufiger stehen lassen oder oft gar keines mehr besitzen. Mit dem Rad unterwegs zu sein, ist dank einer exzellenten Infrastruktur einfach effizienter, bequemer und auch schöner. Der positive Umweltaspekt des Radverkehrs, auf den ja in Deutschland immer so intensiv hingewiesen wird, spielt, zumindest bei den Dänen, kaum eine Rolle bei ihrer Entscheidung das Auto stehen zu lassen – es ist die Attraktivität einer anderen Mobilitätsform, die hier ausschlaggebend ist.
Bei der Diskussion mit den Teilnehmenden wurde vor allem der letzte Punkt wieder aufgegriffen. Da der Umweltschutz kaum mehr jemanden dazu verführt den ÖPNV oder das Fahrrad zu nutzen oder auch mehr zu Fuß zu gehen, muss in der Zukunft an einem anderen Punkt angesetzt werden. Der öffentliche und soziale Raum muss wieder als Bewegungs- und Mobilitätsraum begriffen werden, in dem nicht mehr der Autoverkehr Priorität beansprucht, sondern alle Formen der Bewegung und auch des Verweilens gleichberechtigt gedacht und dementsprechend auch geplant werden.
Wenn es gelingt, das Lebensgefühl und die Lebensqualität dahingehend zu ändern, dass sich alle Mobilitätsteilnehmer/innen gleichberechtigt von einem Ort zum nächsten bewegen können oder wollen und diesen eigenen und den Anspruch des Gegenübers auch anerkennen – weil erlebbar gemacht werden kann, dass dies positive Effekte auf das eigene Lebensumfeld hat – dann entspannen sich als Nebeneffekte auch der Druck auf knapper werdende Ressourcen und die Belastungen des Klimas durch entsprechende Treibhausgase.
Mobilität muss und sollte also wieder zu einem Genuss werden. Wobei eben nicht nur das Ziel wichtig ist, sondern auch die Art und Weise des „Unterwegsseins“ und das, was auf diesem Weg passiert oder passieren könnte: Kommunikation, Wahrnehmung, Austausch, Entdecken und auch Verweilen.
In Berlin startete der regionale Netzwerkknoten Slowmotion Berlin seine Aktivitäten mit dem ersten Berliner StadtGängeMenü am 4. Juli 2009. Interessierte waren eingeladen zu einem etwas anderen Stadtspaziergang.
Am Luftbrückendenkmal wurden die Teilnehmenden in die teilweise paradox anmutende Thematik der sozialen Be- und Entschleunigung und in den Themenbereich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Zeit eingeführt. Während der anschließenden Diskussion wurde kontrovers über die Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit der Zeit debattiert, wobei deutlich wurde, dass es vor allem auf den individuellen Umgang mit der sozialen Beschleunigung ankommt. Denn eigentlich steht dem Menschen heute mehr Frei-Zeit zur Verfügung als in allen vergangenen Epochen der Menschheitsgeschichte. Es macht jedoch einen gewaltigen Unterschied, wie diese Frei-Zeit dann individuell genutzt wird.
Wird ein quantitativer Weg der Bedürfnisbefriedigung während dieser neu gewonnen Frei-Zeit gewählt, kommt es schnell zu Phänomenen der Zeitnot, Hektik und zu Formen eines „Rasenden Stillstands“, die dann auch pathologische Züge wie Neurosen oder Burnout-Syndrom nach sich ziehen können. Bei einer qualitativen Nutzung der freien Zeitressourcen dagegen tritt eine positive Veränderung im persönlichen Lebensstil hervor, der individuell als Bereicherung, gesellschaftlich entschleunigend und nicht zuletzt schonend auf das Klima und den Ressourcenverbrauch wirkt.
Auf dem Weg zur nächsten Station hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit weiter zu diskutieren und einmal ganz bewusst die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs in der Stadt zu erfahren.
Kurz vor der zweiten Station wurden die Diskutanten von der Initiative TransitionTown Friedrichshain-Kreuzberg mit einem kleinen Lied und einem Picknick empfangen. Nach einem teilweise sehr lauten Weg entlang einer Hauptverkehrsachse, tat es den Ohren gut, etwas wohlklingendes zu vernehmen. TransitionTown Friedrichshain-Kreuzberg setzt sich für die Etablierung nachhaltiger sozialer, politischer und ökonomischer Strukturen in den entsprechenden Bezirken ein. Andere Formen des Arrangements von dem, was wir heute Verkehr nennen, sind dabei ebenso grundlegende Voraussetzung wie auch ein veränderter Umgang mit der Zeit und dem, was dieser Zeit einen sinnvollen qualitativen Inhalt geben kann.
Nach den rationalen und faktenreichen Diskussionen konnten sich interessierte Zuhörer/innen auf einem Berliner Friedhof in die literarische Welt von „Momo“ entführen lassen. Hier wurde auf ganz andere Weise klar, dass man Zeit nicht durch Schnelligkeit und Hast sparen kann, sondern gerade dadurch die qualitative Dimension der Zeit verloren geht. Doch gerade diese qualitative Dimension der Zeit muss wichtiger werden in einer Gesellschaft, die an ihre quantitativen Grenzen gestoßen ist und diese Grenzen nicht weiter ausdehnen kann und darf.
Entlang des von viel Grün gesäumten Landwehrkanals flanierte die Gruppe nun weiter auf einem der 20 grünen Hauptwege Berlins. Die Initiatorin des Bürgerprojektes, Eva Epple, die zusammen mit engagierten Flaneuren/innen diese Wege abgelaufen ist und auf deren Grundlage auch ein Kartenwerk entstanden ist, berichtete über die streckenweise schon verwirklichte Vision vieler grüner Korridore, die Berlin durchziehen. Die ökologischen Wirkungen dieser Korridore sind ganz erheblich und tragen entscheidend dazu bei, einen innerstädtischen Biotopverbund zu schaffen. Dass diese grünen Wege auch eine entscheidende Funktion für das Stadtklima haben, konnten die Teilnehmenden am eigenen Leib erfahren – die an diesem Tag herrschende Schwüle war unter saftig-schattigem Grün weitaus besser zu ertragen, als in der Nähe einer asphaltierten Straße für den privilegierten Autoverkehr.
Bei Cappuccino und Eiskaffe konnten die Teilnehmenden in der Nähe der vor allem bei jungen Menschen beliebten Admiral-Brücke in Kreuzberg alarmierende Fakten und naturwissenschaftliche Details über den stattfindenden Klimawandel erfahren. Gotelind Alber, langjährige Geschäftsführerin Europäisches Klimabündnis der Städte, hat eindrucksvoll die Dramatik des stattfindenden Klimawandels dargelegt und darauf verwiesen, dass der einseitige Modus der Bearbeitung des Klimaproblems auf der technischen Ebene, die Probleme nicht zu lösen vermag. Bewusstseins- und Verhaltensänderungen sind für einen erfolgreichen Klimaschutz unabdingbar. Der westliche Lebensstil ist auch mit gesteigerter Ressourceneffizienz nicht global übertragbar.
So löst eine Elektromobilitätsrevolution zwar das Abgasproblem des Individualverkehrs, jedoch nicht die Probleme steigenden Ressourcenverbrauchs bei der Produktion neuer Produktlinien, die auf einen globalen und damit quantitativ wachsenden Absatzmarkt ausgerichtet sind. Das, was also auf der einen Seite beim Verbrauch der Fahrzeuge eingespart wird, kann schnell vom mengenmäßigen Anstieg der Produktion aufgebraucht oder gar übertroffen werden. Eine Diskussion über den sogenannten „Rebound-Effekt“ ist dringend nötig, um nicht auf der einen Seite Gutes zu tun und auf der anderen Seite Schlechtes zu bewirken. Die Debatte um Biosprit hat ja gezeigt, was passiert, wenn man zu kurz denkt.
Nach einem fachkundigen Spaziergang durch den Graefe-Kiez im „besseren“ Kreuzberg, in dem verschiedene Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zu entdecken waren, die einen ersten Eindruck vermittelten auf ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander aller Mobilitätsteilnehmer/innen, verschwand die Gruppe in den Untergrund, um sich am U-Bahnhof Eberswalder Straße über der Straße wiederzufinden. Hier konnte eine der verkehrsreichsten, turbulentesten und interessantesten Kreuzungen der Stadt erlebt werden. Oben die U-Bahn als Hochbahn, darunter die Straßenbahn, der motorisierte Individualverkehr, Radfahrer/innen, Fußgänger/innen, Kinder und nicht zu vergessen, die in Berlin beliebten Hunde.
Dass nicht alle Mobilitätsformen in der Zukunft ihre jetzige Stellung werden behaupten können, ist unstrittig. Wie sich diese Kreuzung in zehn Jahren darbieten wird, bleibt abzuwarten.
Die Initiative International Fruitday versorgte die Teilnehmenden zum Abschluss einer spannenden Entdeckungsreise durch die materielle Stadtwelt aber auch durch die immaterielle Welt des sich verändernden Geistes mit den nötigen Energiereserven in Form von Obstsalaten und Fruchtcocktails. Körperlich etwas müde aber mit wachen, kreativen und hoffnungsvollen Diskussionen über eine entschleunigte und humane Welt ließ die Gruppe den Samstag im Mauerpark zwischen Ost und Westberlin ausklingen.
Dieser Artikel von Sebastian Stragies ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen.
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