Die Verkehrswissenschaftlerin Tanja Langescheid hat in einer gerade veröffentlichten Untersuchung für die 50.000-Einwohnerstadt Meerbusch in Nordrhein-Westfalen die von der Polizei bei der Unfallaufnahme erfassten und von den Statistikämtern weiterverarbeiteten Daten mit den Angaben der Unfallkassen verglichen. Sie hat festgestellt, dass nur vier Prozent aller Schulwegeverkehrunfälle von der Polizei erfaßt wurden. mobilogisch!-Autor Frank Biermann ist diesem Hinweis nachgegangen und hat recherchiert, ob auch bundesweit und in den Bundesländern eine so deutliche Untererfassung vorliegt.

Mehrere Daten"sammler"

Neben dem statistischen Bundesamt und den Landesämtern bzw. Dienststellen der Polizei oder der Innenministerien erheben auch über dreißig regionale Unfallkassen Daten zum Unfallgeschehen auf den Wegen zu Schulen und anderen Ausbildungsstätten. Hintergrund ist die Tatsache, dass bei derartigen Unfällen die Unfallversicherungen die Kosten für die medizinische Behandlung, ggf. auch für Erwerbsunfähigkeitsrenten, statt der Kranken- bzw. Rentenversicherungen übernehmen. Der „Bundesverband der Unfallkassen“ (BUK) fasst diese Angaben zusammen und veröffentlicht sie jährlich.

Die „Meerbusch-Studie“ hat ergeben, dass alle polizeilich erfassten Unfälle auch in den Daten der Unfallkasse enthalten sind. Auch der BUK geht davon aus, dass von den Unfallkassen nahezu alle Schulwegverkehrsunfälle erfasst werden, da die Ärzte als „Datenquelle“ wegen der im Vergleich mit den Krankenkassen besseren Bezahlung ein Interesse daran haben festzustellen, ob es sich um Arbeits- bzw. Ausbildungswegeunfälle oder andere Unfälle handelt.

Statistik der Unfallkassen

Im Jahre 2004 - Daten für 2005 liegen noch nicht vor - wurden den Unfallkassen 59.384 Straßenverkehrsunfälle auf Schulwegen angezeigt. Bundesweit waren 47% aller Wegeunfälle „Folge des Fahrverkehrs auf öffentlichen Wegen und Plätzen“, d.h. sie standen im direkten Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Der Anteil dieser Wegeunfälle reicht von 15% in Bremen bis 59% in Brandenburg. Neben diesen Straßenverkehrsunfällen enthält die BUK-Statistik auch Hinfall-Vorgänge, Raufereien u.ä., so dass die Gesamtzahl aller Wegeunfälle bei 127.768 liegt. Von den Unfallkassen wird jeder Versicherte, der infolge des Straßenverkehrs verletzt oder getötet wird, als ein Unfall gezählt.

Amtliche Statistik bundesweit

Bundesweit werden Schulwegverkehrsunfälle von den staatlichen Statistikern nicht erhoben. Das Statistische Bundesamt empfiehlt hilfsweise die Aufschlüsselung der Unfälle nach Tageszeiten zu Rate zu ziehen. In einem in seiner Veröffentlichung „Unfallgeschehen im Straßenverkehr 2005“ abgebildeten Diagramm werden allerdings nur Radfahrer und Fußgänger im Alter von 6 bis 14 Jahren nach Tageszeit dargestellt, Pkw-Insassen und ÖPNV-Nutzer fehlen.

Im erläuternden Text zum Diagramm werden die Zeiten 7-8 Uhr und 13-14 Uhr dem Schulbeginn und -ende zugeordnet. In diesen beiden Stunden wurden insgesamt 4.490 Verunglückte registriert, die also näherungsweise als „Schulwegverkehrsunfälle“ bezeichnet werden können. Der Bundesverband der Unfallkassen in Deutschland führt in seiner Statistik der Straßenverkehrsunfälle für 2004 dagegen 32.908 verunglückte Radfahrer und Fußgänger aller Altersgruppen auf. Damit werden nur etwa 14 % aller Straßenverkehrsunfälle dieser beiden Verkehrsteilnehmer auf Wegen zur Schule oder anderen Ausbildungsstätten von der amtlichen Bundes-Statistik erfasst.

Bundesländer−Daten

Auch eine Betrachtung der Bundesländer bestätigt dieses Resultat und das Ergebnis der Verkehrsforscherin Langescheid - nämlich einer extremen Untererfassung von Schulwegverkehrsunfällen. Nur neun Bundesländer erfassen dieses Merkmal bei der Unfallaufnahme. Unsere Recherchen bei den Statistischen Landesämtern ergaben, dass nicht einmal alle diese Länder die Daten auch problemlos zur Verfügung stellen.

Während die meisten Bundesländer die Daten kostenlos zur Verfügung stellt, macht Brandenburg die Datenaufbereitung von der Übernahme der Kosten abhängig, obwohl das Land mit der Verabschiedung eines Landes-Informationsfreiheitsgesetzes eigentlich Offenheit gegenüber Bürgern und Journalisten signalisiert hat. In Hamburg werden die Daten zwar von der Polizei vor Ort erfasst, aber nicht - wie bei anderen Unfallmerkmalen üblich - auf Plausibilität geprüft und dann veröffentlicht. Begründung der Verkehrsdirektion der Polizei Hamburg: „Auswertungen zu Unfällen mit Kindern auf Schulwegen liegen standardmäßig nicht vor und wären nur mit einer sehr aufwändigen Aktenanalyse zu erstellen.“ Viele andere Bundesländer scheuen den Aufwand dagegen nicht.

Erfassungsquoten

Aber auch die Daten der auskunftsfreudigen Bundesländer können nicht zufriedenstellen: Viel zu wenige der knapp 60.000 Verletzten bei Schulwegverkehrsunfällen pro Jahr in Deutschland werden nämlich von der amtlichen Statistik erfasst. Die Erfassungsquote reicht von 2% in Mecklenburg- Vorpommern bis 14% in Nordrhein-Westfalen.

Die Schwankungen in der amtlichen Statistik zwischen den Bundesländern dürften – zumindest teilweise - durch die unterschiedlichen Definitionen von „Schulwegverkehrsunfällen“ zu erklären sein, die bei der Erfassung zugrundegelegt werden. In Thüringen bezeichnet man einen Unfall als Schulwegunfall, bei dem mindestens ein Kind unter 18 Jahren auf dem Weg zur Schule beteiligt ist. In Schleswig-Holstein muss das Kind von 6 bis unter 15 Jahren alt sein. In Bayern werden 5- bis 14 jährige, die sich auf dem Weg zur Schule befinden, unabhängig von ihrer Eigenschaft als Schüler, erfasst. In NRW beträgt die Altersgrenze 6 bis 14 Jahre, in Mecklenburg-Vorpommern muss sich mindestens ein Unfallbeteiligter auf dem Schulweg befunden haben. Bei der statistischen Auswertung werden dann die Altersgruppen von 6 bis 18 Jahren erfasst.

Weitere Gründe sind in der Erfassung von Verkehrsunfällen auf Wegen zu den Ausbildungsstätten nicht nur von Schülern, sondern auch von Kindergartenkindern, Berufsschülern und Studenten durch die Unfallkassen zu finden. Die Polizei meldet zudem keine Verkehrsunfälle an die Statistischen Landesämter, wenn nur Fußgänger beteiligt sind, weil per Definition des Bundesunfallstatistikgesetzes nur Fahrunfälle zu erfassen sind.

Stellungnahmen der Behörden

Auf mobilogisch!-Anfragen wird die Bedeutung von Verkehrsunfällen auf Schulwegen „kleingeredet“: „Erfreulicherweise sind Schulweg(verkehrs)unfälle in unserem Land kein großes Problem“, teilt z.B. das Innenministerium Mecklenburg- Vorpommern mit, obwohl das Land in der BUK-Statisik die dritthöchste Unfallrate aller Bundesländer hat. Auch in Sachsen-Anhalt – ebenfalls bei der BUK mit weit überdurchschnittlichen Unfallraten vertreten - ist das zuständige Ministerium der Meinung, dass „die erfassten 76 ‚Schulwegunfälle‘ kein gravierendes Problem darstellen“.

In einer Presseaussendung des Statistischen Landesamtes Thüringens anlässlich des Schulbeginns wird auf die Untererfassung im Vergleich mit den Daten der Unfallkassen nicht eingegangen.

Geografische Verteilung des Risikos bei Schulwegverkehrsunfällen 2004

Regionale Verteilung der Unfälle

Die Unfallkassen-Daten erlauben einen Bundesländer-Vergleich des Risikos auf dem Schulweg im Straßenverkehr zu verunglücken. Besonders die „Flächen- Bundesländer“ im Osten und Norden schneiden hier schlecht ab. Unter dem Bundesdurchschnitt von 34 Verletzten pro 10.000 Versicherte liegen neben Berlin und Bremen nur NRW, Hessen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Baden- Württemberg.

Ausland

„Erfassungsfreudiger“ als die Bundesstatistiker und viele Landesstatisiker in Deutschland sind die zuständigen Behörden in unseren Nachbarländern Österreich und der Schweiz: Dort werden Schulwegverkehrsunfälle seit Jahren nicht nur von einigen Landes- und Kantonsbehörden, sondern von den Bundes-Statistikämtern erfasst und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.

Österreich zählt zu den Schulwegverkehrsunfällen alle Unfälle, die sich auf dem Weg zur oder von der Schule ereignet haben (auch Schulveranstaltungen im Rahmen des Unterrichts), an denen Kinder vom 6.- 15. Lebensjahr (Schulpflicht in Österreich) beteiligt waren.

Fazit und Folgerungen

Die auf Tageszeiten beruhenden Daten des Statistischen Bundesamtes und die Angaben

In Kürze

Grundlage für eine erfolgversprechende Strategie zur Verbesserung der Verkehrssicherheit sind solide Unfalldaten. Im Gegensatz zu Österreich und der Schweiz werden Schulwegverkehrsunfälle in Deutschland nicht bundesweit, sondern nur in neun der 16 Bundesländer erfasst. Doch auch dort werden lediglich zwischen 2% und 14% dieser Unfälle in der amtlichen Statistik ausgewiesen.

Umfassende Daten zu den Schulwegverkehrsunfällen stellt dagegen der Bundesverband der Unfallkassen zur Verfügung. Sie erlauben einen Bundesländer- Vergleich des Risikos auf dem Schulweg im Straßenverkehr zu verunglücken: Besonders die „Flächen- Bundesländer“ im Osten und Norden schneiden hier schlecht ab. Unter dem Bundesdurchschnitt von 34 Verletzten pro 10.000 Versicherte liegen neben Berlin und Bremen nur NRW, Hessen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Baden- Württemberg.

der Bundesländer, die Daten zu Schulwegverkehrsunfällen direkt erheben, zeigen, dass in der amtlichen Statistik nur etwa ein Zehntel aller Unfälle auf Schulwegen erfasst werden (Bundesländer-Anteile zwischen fünf und 14%). Eine ausreichende Erfassung des Unfallgeschehens für Unfallanalysen und zur Prüfung der Wirksamkeit von Verkehrssicherheitsmaßnahmen vor Ort ist damit nicht gegeben.

FUSS e.V. regt deshalb an, die seit Jahrzehnten bewährten Unfalldaten des Bundesverbandes der Unfallkassen in die amtliche Statistik zu übernehmen, damit die wahre Dimension der Schulwegverkehrsunfälle erkennbar wird und die Verkehrssicherheitsarbeit auf Schulwegen von Kindern und Jugendlichen in Land und Kommunen zu verstärken.

 

Weitere Informationen:

  • Tanja Langescheid: Erfassungssystematik von Schulwegunfällen, in: Verkehrszeichen, Heft 2/2006, S. 18-21
  • Infos zu Schulwegverkehrsunfällen bundesweit: Bundesverband der Unfallkassen (BUK): Statistik-Info zum Schülerunfallgeschehen 2004, S. 21 ff
  • Infos zu Schulwegverkehrsunfällen Bundesländer/ regional: Bundesverband der Unfallkassen (BUK): Geschäfts- und Rechnungsergebnisse des Bundesverbandes der Unfallkassen 2005, S.13/15, Mitgliederspezifische_Tabellen sowie BUK, Sonderauswertung für FUSS e.V., August 2005
  • Ansprechpartner beim BUK zur Unfall-Statistik: Herr Scherer, Tel. 089.622.72-137
  • Statistisches Bundesamt: Unfallgeschehen im Straßenverkehr 2005
  • Heike Wohltmann, planungsgruppe Vor Ort: Zu Fuß zur Schule, Begleit-Broschüre zur Kampagne, 2002, insbesondere Abschnitt 41. Kinderunfälle - erhältlich in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Kinder
  • Unfallstatistiken - 100 Jahre Unfälle zählen!, in: mobilogisch, H.2, 2006, S.11-12

 

Dieser Artikel von Frank Biermann ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2006, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.