Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 49/2006
Wrights & Sites ist eine 1997 gegründete Gruppe von Forschern und Künstlern aus Exeter (GB), die sich intensiv mit der Bedeutung der (städtischen) Umwelt und ihrer Erkundung zu Fuß auseinandersetzt. Ihre akademische Verankerung hat die Gruppe in der „Mytho-Geographie“, die Empfindungen, Vorstellungen und Erzählungen in Bezug auf Orte den gleichen Stellenwert wie „objektiven“ Informationen beimisst. Zudem haben in den Arbeiten der Gruppe künstlerische Zugänge zur Umwelt, vor allem von Situationisten und Dadaisten, eine große Bedeutung.
Im Jahr 2003 hat die Gruppe den Exeter Mis-Guide herausgegeben, der noch im wesentlichen auf das Gebiet und das Leben in dieser englischen Stadt bezogen war. Der 2006 herausgegebene „Mis-Guide to Anywhere“ stellt gewissermaßen eine Verallgemeinerung und Erweiterung dar, weil die darin enthaltenen Überlegungen und Vorschläge sich auch auf andere Räume, Städte und Orte übertragen lassen. Er gründet sich auf eine Vielzahl von explorativen Spaziergängen und Wanderungen in verschiedenen Gegenden und Städten der Welt. Das daraus hervorgegangene Buch wurde vom Arts Council England und dem Centre for Creative Enterprise and Participation finanziell unterstützt.
Die Autoren haben mit ähnlicher Ausrichtung auch das „Manifest für eine neue Geh-Kultur“ herausgegeben (anlässlich der Konferenz Walk 21, September 2005 in Zürich).
Bei diesem „Mis-guide“ („Ver-Führer“) handelt es sich nicht um einen konventionellen Führer, der eine Auswahl an Orten und Ereignissen beschreiben würde. Er hat zwar das Format eines Stadtführers, macht aber vor allem Vorschläge, wie man durch das Gehen und den Aufenthalt in einer Stadt neue Situationen herstellen kann, Orte anders nutzen und dadurch etwas Neues sehen und empfinden kann, oder Orten eine neue Bedeutung geben kann. Er motiviert dazu, einen Sinn für Entdeckungen zu entwickeln, sich in einer Stadt treiben zu lassen, probehalber ungewohnte Rollen einzunehmen, ein Bewusstsein für Sachverhalten hinter den alltäglichen Abläufen herauszubilden. Er empfiehlt, vom Spezifischen zum Generellen zu gehen, kreativ Verbindungen zwischen dem Gesehenen herzustellen, Unterschiede zu erkennen und ein Gefühl für räumliche Maßstäbe zu entwickeln. Die Aussagen des Buchs können als Übungsanleitung für die eigene Geh-Praxis gelesen werden, oft haben sie auch die Form von poetischen Betrachtungen. Als Beispiele:
Es wird empfohlen, die Stadt zusammen mit Kindern zu erkunden. In „Umbra“ wird geraten, einmal dem eigenen Schatten zu folgen, zu verschiedenen Zeiten am Tag, in verschiedener Distanz zum Äquator. Beim „statischen Driften“ setzt man sich eine bis 24 Stunden an einen Ort und beobachtet, was vor sich geht. Beim Gehen nach einem „Blatt“ legt man ein Baumblatt auf den Plan einer Insel, zeichnet die Blattrippen nach und geht diesen Wegen auf der Insel nach. In „Ortswechsel“ wird vorgeschlagen, mit Bekannten für eine Nacht die Wohnung zu wechseln und sich mit ihnen am nächsten Tag über die Erfahrungen in der anderen Umgebung auszutauschen.
Beim „cross-country-Lauf“ lässt man sich nachts mit dem Taxi aufs Land bringen und durchstreift die Landschaft, tanzt zwischen Bäumen und bringt Trinksprüche auf Geister und Schatten aus. Beim „Zurückkehren“ fährt man abends in eine Stadt, die man früher gut kannte, besucht Orte, die einem etwas bedeuten, erinnert sich, hinterlässt kleine Zeichen (wie z.B. eine Blume in einer Flasche auf einer Treppe), gibt sich Bekannten aber nicht zu erkennen und fährt mit dem letzten Zug zurück. In „Zuhause und unterwegs“ bewegt man sich als Tourist in der eigenen Stadt, wohnt im Hotel, nimmt an Stadtführungen teil, schickt Postkarten an Freunde, versucht aber, keine Bekannten zu treffen.
Den „Nicht-Ort“ des nicht mehr bewusst wahrgenommenen Pendlerwegs kann man mit Bedeutung füllen, in dem man vom Weg abweicht und etwas unterwegs unternimmt. Andere „Nicht-Orte“, wie z.B. Flughäfen oder Einkaufszentren, können zu Orten gemacht werden, indem man mit Personen spricht, die dort arbeiten oder sich mit Freunden für einen Rundgang trifft.
In einem „Atlas“ hält man z.B. Orte fest, an denen man nie war, aber von denen man eine klare Vorstellung hat, an denen man den 23. Februar verbracht hat, wo man Verliebte traf oder wo man Plätze neu gestalten möchte. In einer „mythogeographischen Karte“ stellt man Gebiete dar, an denen unterschiedliche Welten aufeinander treffen, wo sich Traumlandschaften befinden oder wo Verbindungen zwischen Gebieten mit intensiver Atmosphäre bestehen. Wie in einem Urlaub kann man von solchen Orten auch Videos drehen, Fotos machen, Bilder malen oder Geschichten erfinden und dies auf einer Party mit anderen austauschen.
Das Buch enthält eine Fülle von Gedanken, poetischen Betrachtungen und Hinweisen, die für die Erweiterung der eigenen Erfahrungen und Empfindungen, das Schaffen neuer Bedeutungen und auch einer neuen Praxis in Bezug auf „gewohnte“ Lebensumwelten genutzt werden können. Es ist daneben ein sehr inspirierendes Lesebuch.
Eine Bibliografie, die auch Literaten und Künstler aufführt, die sich im weitesten Sinne um das Gehen kümmerten, rundet die Broschüre ab; viele weitere Links finden sich unter www.mis-guide.com/ws/links.html
A mis-Guide to Anywhere, 115 Seiten, Selbstverlag Wrights & Sites, 2006.
Stephen Hodge, Simon Persighetti, Phil Smith, Cathy Turner, Tony Weaver
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, September 2004. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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