Dass unsere Lebenswirklichkeit immer schneller zu werden scheint, ist eine Erfahrung, die fast jeder von uns machen kann. Unsere Zukunftshorizonte scheinen sich immer weiter zu verkürzen. Kaum einer mag mit Sicherheit eine seriöse Prognose abgeben, wie wir in zehn Jahren leben werden, welche Formen der Mobilität unsere Alltagswelt dominieren oder wie wir unsere Zeit verbringen werden. Nicht nur für das globale Klima gilt jetzt: radikale Zustandsänderungen nicht ausgeschlossen!
Sicher ist: es wird anders werden. Nicht nur Klimawandel und Peak Oil, das sogenannte Ölfördermaximum, werden uns zum Umdenken und Umlenken zwingen.
Auch werden die Kosten des Paradigmas – „immer größer, immer schneller und immer weiter so“ – uns auf physischer und psychischer Ebene bald erdrücken, wenn wir nicht ernsthaft damit beginnen auf eine Entschleunigung unserer ökonomischen Tätigkeiten hinzuarbeiten.
Das abnehmende Angebot fossiler Treibstoffe begünstigt dabei aber nicht nur eine neue Mobilitätskultur, die hohe Geschwindigkeiten nicht mehr ideologisch überhöht und das Langsame zum Minderwertigen erklärt, sondern kann physisch und psychisch zu einem gesunden Gleichgewicht aus Aktivität und Ruhe führen.
Dieser Zwang zur Änderung birgt also zugleich eine Chance zum Nachdenken über neue postfossile Lebensstile. Neben der technischen Umstellung betrifft dies auch die kulturelle Entwicklung, u.a. beim Wohnen, Arbeiten, der Freizeit, der Ernährung, des Tourismus, etc..
Das Netzwerk Slowmotion hat sich zum Ziel gesetzt, überkommene Maßstäbe und Bewertungen von Zeit und Geschwindigkeit zu verändern. Gewohnheiten werden verdreht und Altbekanntes „auf den Kopf gestellt“ durch originelle, auch provokante Aktionen. Das Langsame wird ebenso positiv besetzt wie die Balance aus Aktivität/Bewegung und Ruhe.
Slowmotion Deutschland ist aus einer Initiative der Evangelischen Akademie Tutzing und Green City e.V. entstanden. Slowmotion Berlin wird vom Fachforum „Mobilität“ der Lokalen Agenda 21 und von Berlin 21 e.V. unterstützt.
Am 20. Juni fand im Verkehrszentrum des Deutschen Museums in München die Auftaktveranstaltung des Netzwerkes Slowmotion Deutschland statt. Ein umfassendes Rahmenprogramm auf dem Vorplatz des Verkehrszentrums ergänzte die in den Innenräumen stattfindenden vier Zukunftsarenen und drei Workshops.
Während der abendlichen Abschlussdiskussion mit allen Teilnehmenden und Referenten/innen boten sich Möglichkeiten, gemeinsame Positionen zu finden, positive Beispiele zu kommunizieren und ein Peak Oil-Fest zu feiern.
Dr. Martin Held, Studienleiter Evangelische Akademie Tutzing und Netzwerk Slowmotion, betonte die positive Seite einer, die Öffentlichkeit oft verwirrenden, Entwicklung weg vom Öl, hin zu einer humanen Balance zwischen Aktivität und Ruhe. Fakt ist: der fossile Verkehr wird abnehmen und die Stadtkultur wird vielfältiger werden und das nicht nur im Mobilitätsbereich.
Manfred Neun, Präsident European Cyclists’ Federation und Schirmherr der Auftaktveranstaltung, forderte die Rückkehr zur „Automobilität“ im Sinne einer zunehmenden Bewegungsfreiheit, einer erhöhten Qualität der Bewegung und einer Zurückdrängung der autozentrierten Verkehrsplanung. Denn der Platzbedarf des Automobils in den Städten und auch auf dem Land zeitigt groteske und nicht mehr hinnehmbare Auswirkungen. In den Städten muss dem öffentlichen und damit sozialen Raum eindeutig Vorrang vor dem Autoverkehr eingeräumt werden. Klimawandel und Ressourcendebatte können hier als starke Argumente für eine andere Prioritätensetzung im Verkehrsbereich beitragen.
Niels Tørsløv, Fahrradbeauftragter und Direktor der Verkehrsabteilung Kopenhagens, zeigte den Zuhörenden, dass es schon anders geht. In Kopenhagen ist die offizielle Maxime der Stadtpolitik: Fahrräder und Fußgänger zuerst! Zwar bleibt auch hier zumindest finanziell alles beim Alten – eine Stadtautobahn verschlingt nun mal ein Vielfaches als ein neuer Rad- oder Fußweg – doch in Kopenhagen sind es die Bürger/innen, die das Auto immer häufiger stehen lassen oder oft gar keines mehr besitzen. Mit dem Rad unterwegs zu sein, ist dank einer exzellenten Infrastruktur einfach effizienter, bequemer und auch schöner. Der positive Umweltaspekt des Radverkehrs, auf den ja in Deutschland immer so intensiv hingewiesen wird, spielt, zumindest bei den Dänen, kaum eine Rolle bei ihrer Entscheidung das Auto stehen zu lassen – es ist die Attraktivität einer anderen Mobilitätsform, die hier ausschlaggebend ist.
Bei der Diskussion mit den Teilnehmenden wurde vor allem der letzte Punkt wieder aufgegriffen. Da der Umweltschutz kaum mehr jemanden dazu verführt den ÖPNV oder das Fahrrad zu nutzen oder auch mehr zu Fuß zu gehen, muss in der Zukunft an einem anderen Punkt angesetzt werden. Der öffentliche und soziale Raum muss wieder als Bewegungs- und Mobilitätsraum begriffen werden, in dem nicht mehr der Autoverkehr Priorität beansprucht, sondern alle Formen der Bewegung und auch des Verweilens gleichberechtigt gedacht und dementsprechend auch geplant werden.
Wenn es gelingt, das Lebensgefühl und die Lebensqualität dahingehend zu ändern, dass sich alle Mobilitätsteilnehmer/innen gleichberechtigt von einem Ort zum nächsten bewegen können oder wollen und diesen eigenen und den Anspruch des Gegenübers auch anerkennen – weil erlebbar gemacht werden kann, dass dies positive Effekte auf das eigene Lebensumfeld hat – dann entspannen sich als Nebeneffekte auch der Druck auf knapper werdende Ressourcen und die Belastungen des Klimas durch entsprechende Treibhausgase.
Mobilität muss und sollte also wieder zu einem Genuss werden. Wobei eben nicht nur das Ziel wichtig ist, sondern auch die Art und Weise des „Unterwegsseins“ und das, was auf diesem Weg passiert oder passieren könnte: Kommunikation, Wahrnehmung, Austausch, Entdecken und auch Verweilen.
In Berlin startete der regionale Netzwerkknoten Slowmotion Berlin seine Aktivitäten mit dem ersten Berliner StadtGängeMenü am 4. Juli 2009. Interessierte waren eingeladen zu einem etwas anderen Stadtspaziergang.
Am Luftbrückendenkmal wurden die Teilnehmenden in die teilweise paradox anmutende Thematik der sozialen Be- und Entschleunigung und in den Themenbereich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Zeit eingeführt. Während der anschließenden Diskussion wurde kontrovers über die Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit der Zeit debattiert, wobei deutlich wurde, dass es vor allem auf den individuellen Umgang mit der sozialen Beschleunigung ankommt. Denn eigentlich steht dem Menschen heute mehr Frei-Zeit zur Verfügung als in allen vergangenen Epochen der Menschheitsgeschichte. Es macht jedoch einen gewaltigen Unterschied, wie diese Frei-Zeit dann individuell genutzt wird.
Wird ein quantitativer Weg der Bedürfnisbefriedigung während dieser neu gewonnen Frei-Zeit gewählt, kommt es schnell zu Phänomenen der Zeitnot, Hektik und zu Formen eines „Rasenden Stillstands“, die dann auch pathologische Züge wie Neurosen oder Burnout-Syndrom nach sich ziehen können. Bei einer qualitativen Nutzung der freien Zeitressourcen dagegen tritt eine positive Veränderung im persönlichen Lebensstil hervor, der individuell als Bereicherung, gesellschaftlich entschleunigend und nicht zuletzt schonend auf das Klima und den Ressourcenverbrauch wirkt.
Auf dem Weg zur nächsten Station hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit weiter zu diskutieren und einmal ganz bewusst die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs in der Stadt zu erfahren.
Kurz vor der zweiten Station wurden die Diskutanten von der Initiative TransitionTown Friedrichshain-Kreuzberg mit einem kleinen Lied und einem Picknick empfangen. Nach einem teilweise sehr lauten Weg entlang einer Hauptverkehrsachse, tat es den Ohren gut, etwas wohlklingendes zu vernehmen. TransitionTown Friedrichshain-Kreuzberg setzt sich für die Etablierung nachhaltiger sozialer, politischer und ökonomischer Strukturen in den entsprechenden Bezirken ein. Andere Formen des Arrangements von dem, was wir heute Verkehr nennen, sind dabei ebenso grundlegende Voraussetzung wie auch ein veränderter Umgang mit der Zeit und dem, was dieser Zeit einen sinnvollen qualitativen Inhalt geben kann.
Nach den rationalen und faktenreichen Diskussionen konnten sich interessierte Zuhörer/innen auf einem Berliner Friedhof in die literarische Welt von „Momo“ entführen lassen. Hier wurde auf ganz andere Weise klar, dass man Zeit nicht durch Schnelligkeit und Hast sparen kann, sondern gerade dadurch die qualitative Dimension der Zeit verloren geht. Doch gerade diese qualitative Dimension der Zeit muss wichtiger werden in einer Gesellschaft, die an ihre quantitativen Grenzen gestoßen ist und diese Grenzen nicht weiter ausdehnen kann und darf.
Entlang des von viel Grün gesäumten Landwehrkanals flanierte die Gruppe nun weiter auf einem der 20 grünen Hauptwege Berlins. Die Initiatorin des Bürgerprojektes, Eva Epple, die zusammen mit engagierten Flaneuren/innen diese Wege abgelaufen ist und auf deren Grundlage auch ein Kartenwerk entstanden ist, berichtete über die streckenweise schon verwirklichte Vision vieler grüner Korridore, die Berlin durchziehen. Die ökologischen Wirkungen dieser Korridore sind ganz erheblich und tragen entscheidend dazu bei, einen innerstädtischen Biotopverbund zu schaffen. Dass diese grünen Wege auch eine entscheidende Funktion für das Stadtklima haben, konnten die Teilnehmenden am eigenen Leib erfahren – die an diesem Tag herrschende Schwüle war unter saftig-schattigem Grün weitaus besser zu ertragen, als in der Nähe einer asphaltierten Straße für den privilegierten Autoverkehr.
Bei Cappuccino und Eiskaffe konnten die Teilnehmenden in der Nähe der vor allem bei jungen Menschen beliebten Admiral-Brücke in Kreuzberg alarmierende Fakten und naturwissenschaftliche Details über den stattfindenden Klimawandel erfahren. Gotelind Alber, langjährige Geschäftsführerin Europäisches Klimabündnis der Städte, hat eindrucksvoll die Dramatik des stattfindenden Klimawandels dargelegt und darauf verwiesen, dass der einseitige Modus der Bearbeitung des Klimaproblems auf der technischen Ebene, die Probleme nicht zu lösen vermag. Bewusstseins- und Verhaltensänderungen sind für einen erfolgreichen Klimaschutz unabdingbar. Der westliche Lebensstil ist auch mit gesteigerter Ressourceneffizienz nicht global übertragbar.
So löst eine Elektromobilitätsrevolution zwar das Abgasproblem des Individualverkehrs, jedoch nicht die Probleme steigenden Ressourcenverbrauchs bei der Produktion neuer Produktlinien, die auf einen globalen und damit quantitativ wachsenden Absatzmarkt ausgerichtet sind. Das, was also auf der einen Seite beim Verbrauch der Fahrzeuge eingespart wird, kann schnell vom mengenmäßigen Anstieg der Produktion aufgebraucht oder gar übertroffen werden. Eine Diskussion über den sogenannten „Rebound-Effekt“ ist dringend nötig, um nicht auf der einen Seite Gutes zu tun und auf der anderen Seite Schlechtes zu bewirken. Die Debatte um Biosprit hat ja gezeigt, was passiert, wenn man zu kurz denkt.
Nach einem fachkundigen Spaziergang durch den Graefe-Kiez im „besseren“ Kreuzberg, in dem verschiedene Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zu entdecken waren, die einen ersten Eindruck vermittelten auf ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander aller Mobilitätsteilnehmer/innen, verschwand die Gruppe in den Untergrund, um sich am U-Bahnhof Eberswalder Straße über der Straße wiederzufinden. Hier konnte eine der verkehrsreichsten, turbulentesten und interessantesten Kreuzungen der Stadt erlebt werden. Oben die U-Bahn als Hochbahn, darunter die Straßenbahn, der motorisierte Individualverkehr, Radfahrer/innen, Fußgänger/innen, Kinder und nicht zu vergessen, die in Berlin beliebten Hunde.
Dass nicht alle Mobilitätsformen in der Zukunft ihre jetzige Stellung werden behaupten können, ist unstrittig. Wie sich diese Kreuzung in zehn Jahren darbieten wird, bleibt abzuwarten.
Die Initiative International Fruitday versorgte die Teilnehmenden zum Abschluss einer spannenden Entdeckungsreise durch die materielle Stadtwelt aber auch durch die immaterielle Welt des sich verändernden Geistes mit den nötigen Energiereserven in Form von Obstsalaten und Fruchtcocktails. Körperlich etwas müde aber mit wachen, kreativen und hoffnungsvollen Diskussionen über eine entschleunigte und humane Welt ließ die Gruppe den Samstag im Mauerpark zwischen Ost und Westberlin ausklingen.
Dieser Artikel von Sebastian Stragies ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen.
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