Gender Mainstreaming in der Verkehrsplanung

Die „Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen“ ist seit 1998 in der Magistratsdirektion-Stadtbaudirektion als Koordinations- und Steuerungsstelle aller technischen Dienststellen der Stadt Wien angesiedelt. Neben frauen- und mädchenspezifischer Planung ist Gender Mainstreaming im Planungs- und Verkehrsbereich ein zentrales Thema der Leitstelle.

Mobilitätschancen hängen sehr stark von der individuellen Lebenssituation ab und werden von Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft bestimmt. Als Strategie der Chancengleichheit sieht Gender Mainstreaming die Einbeziehung der unterschiedlichen Interessenlagen in alle Entscheidungen und Maßnahmen vor. Diese sind im Verkehrswesen relativ leicht nachzuvollziehen. Der Modal-Split ist dabei ein zentraler Zielindikator. In Wien werden 59 Prozent aller Autofahrten von Männern, 60 Prozent aller Fußwege von Frauen zurückgelegt (vgl. Sozialdata 2003). Wegezwecke-Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen in Wien beinahe um die Hälfte mehr Begleit- und Versorgungswege zurücklegen als Männer. 50 Prozent dieser Wege sind Fußwege, die sich besonders in Kombination mit Erwerbsarbeit durch komplexe Wegeketten auszeichnen (vgl. ebenda).

Auch Kinder, Jugendliche und alte Menschen sind häufig zu Fuß in der Nähe der Wohnung unterwegs. Sie haben erhöhte Ansprüche an Verkehrssicherheit, an Barrierefreiheit und an Bewegungsraum: Jugendliche und Kinder, wenn sie zu ihren Treffpunkten und Spielräumen unterwegs sind genauso wie Eltern mit Kinderwägen und Kleinkind an der Hand. Kinder können Verkehrssituationen nicht ausreichend abschätzen und sind daher – im Sinne einer eigenständigen Mobilität – auf verkehrssichere Räume angewiesen. Ältere Menschen wünschen sich Sitzbänke zum Ausruhen zwischendurch, Barrierefreiheit wird mit zunehmendem Alter immer wichtiger.

Masterplan Verkehr Wien 2003

In der Wiener Verkehrsplanung wurde Gender Mainstreaming zunächst auf der Leitbildebene bei der Erstellung des Masterplans Verkehr Wien 2003 berücksichtigt, der in einem hohen Detaillierungsgrad Maßnahmenbereiche für den Fußgängerverkehr enthält.

Zu den Qualitätsstandards zählen beispielsweise die Vorgabe einer freibegehbaren Durchgangsbreite von mindestens 2 Meter (1) oder die Programmierung von Lichtsignalanlagen mit einer maximalen Wartezeit von 40 Sekunden und einer maximal notwendigen Gehgeschwindigkeit von 1m/sec über die Kreuzung. Die breite Beteiligung maßgeblicher AkteurInnen bei der Erstellung führte zu einer im Vergleich mit früheren Verkehrsleitbildern höheren Akzeptanz bei der Umsetzung der Inhalte. Der Masterplan Verkehr befindet sich derzeit in einer Evaluierungsphase. Es ist die Einschätzung der zuständigen Arbeitsgruppe, dass die Fußgängerbelange seit 2003 stärker verankert werden konnten, systematische Grundlagenschaffung und Maßnahmensetzung jedoch weitgehend fehlt.

Gender Mainstreaming - Musterbezirke

Die Finanzierung von Maßnahmen im untergeordneten Straßennetz liegt in Wien bei den 23 Bezirken. Um die Bezirke bei der Entscheidungsfindung für Vorhaben im öffentlichen Raum zu unterstützen, wurden daher im Rahmen des Projekts „Gender Mainstreaming Musterbezirke“ Karten entwickelt, die „Netzqualitäten“ und „Netzdefizite“ der Fußwege im Bezirk zeigen. Aus dem Kartenteil „Netzdefizite“ sind zu schmale Gehsteige, Beeinträchtigungen durch Gehsteig-Parker, Unfallhäufungspunkte für FußgängerInnen und schlechte Gehbeläge ersichtlich.

Verortete Ziele wie Kindergärten, Schulen oder Spitäler geben Aufschluss über das erwartbare Fußgängeraufkommen und etwaige spezifische Anforderungen an Breitenbedarf, Aufenthaltsqualität und Verkehrssicherheit. Diese systematische Darstellung hat auch das Ziel, eine Prioritätenreihung der Maßnahmen zu ermöglichen und die gesetzte Maßnahme – neben der punktuellen Verbesserung – im Kontext eines qualitätvollen Fußwegenetzes zu sehen. Die 2006 aktualisierten und verbesserten Karten werden von den unterschiedlichen Dienststellen der Stadt und den Bezirken verstärkt genutzt.

Gender Mainstreaming - Pilotbezirk

2002 wurde Mariahilf als „Gender Mainstreaming Pilotbezirk“ ausgewählt. Mariahilf ist Teil des dicht bebauten Stadtgebiets mit sehr engen teilweise vorgründerzeitlichen Straßenquerschnitten. Aus dem Nutzungsdruck resultierende Konfliktfälle im öffentlichen Raum wurden lange Zeit zu Lasten des Fußgängerverkehrs entschieden. Dies war auch Ergebnis traditioneller Verkehrsplanung. Neben dem starken motorisierten Individualverkehr ist in Wien auch der öffentliche Verkehr gut vertreten, die Position des Radverkehrs wurde durch Umweltbelange gestärkt. Der Fußgängerverkehr stellte lange Zeit den blinden Fleck der Verkehrsplanung dar. Nach einem politischen Wechsel im Bezirk 2001 wurde die Verbesserung der Bedingungen fürs Zufußgehen von der neuen Bezirksvorsteherin schwerpunktmäßig zum Thema gemacht. Mariahilf ist auch der einzige Bezirk, der über eine Frauenkommission verfügt.

Dem eigentlichen Pilotprozess unter der Federführung der Leitstelle ging eine intensive Vorbereitungsphase voran. Die Leitstelle beauftragte eine umfassende Bestandsaufnahme des gesamten Mariahilfer Fußwegenetzes von 27 km bezüglich der im Masterplan Verkehr festgelegten Qualitätskriterien und Anforderungen des Fußgängerverkehrs. Die Studie zeigt flächenhaft Potenziale für Verbesserungen zugunsten der FußgängerInnen. Neu war die Festlegung eines hierarchisierten Fußwegenetzes als Grundlage für eine fußgängerorientierte Prioritätenreihung der Maßnahmen.

Sieben Magistratsabteilungen – jeweils mit dem öffentlichen Raum auf Bezirksebene befasst – waren am Prozess beteiligt. Die Herausforderung bestand in der Schärfung des Bewusstseins der MitarbeiterInnen für die sozialen Anliegen ihrer Tätigkeit. Wichtig war dabei die systematische Schulung der vor Ort tätigen MitarbeiterInnen für die Anliegen der Chancengleichheit im öffentlichen Raum. Anhand ausgewählter Leitprojekte wurden die unterschiedlichen zielgruppenspezifischen Bedürfnisse ausgewiesen und bei der Projektentwicklung weitgehend berücksichtigt. Dafür wurden abteilungsspezifische Vorgangswiesen und Instrumente entwickelt. Eine Checkliste für Projektierungen im Straßenbau beispielswiese gibt neben verkehrsplanerischen Qualitätsstandards für die einzelnen Verkehrsarten auch über „weiche“ Faktoren, wie die Berücksichtigung wichtiger Ziele in der Umgebung oder Wunschgehlinien Aufschluss.

Während der Projektlaufzeit zwischen 2002 und 2005 wurden zahlreiche Verbesserungen für den Fußgängerverkehr umgesetzt. An die 1.000 Meter Gehsteige wurden verbreitert und 40 Querungshilfen neu errichtet (33 Gehsteigvorziehungen, sieben Gehsteigdurchziehungen). In der Nähe einer Volksschule wurde für eine Druckknopfampel Sofort-Grün für FußgängerInnen programmiert, an drei Kreuzungen wurden diesen Voreilzeiten eingeräumt, um Konflikte mit den gleichzeitig abbiegenden Autos zu reduzieren. In fünf Fällen wurden Stufen aus dem Gehsteigbereich entfernt und bei Stufenanlagen jeweils eine Kinderwagenrampe und ein Lift errichtet. Die Beleuchtung wurde an 23 Stellen für die FußgängerInnen verbessert, drei Plätze sind neu gestaltet und an neun Orten Bänke aufgestellt worden. Die teilweise sehr kleinteiligen Maßnahmen erzielten in Summe beachtliche Ergebnisse, da die punktuelle Wirksamkeit überstiegen und als Netzqualität spürbar wurde.

Entscheidungsspielräume lassen sich erst in der aktiven Teilnahme an konkreten Vorhaben erkennen. Die Anliegen der Chancengleichheit wurden so konkreter als durch abstrakte „Gender-Schulungen“. Mithilfe der entwickelten Instrumente konnte die Leitbildebene, also die Qualitätsansprüche des Masterplans Verkehr, auf die Verwaltungsroutine von Projektierenden und Werkmeister der Verkehrsabteilungen hinuntergebrochen werden. Durch regelmäßige Vernetzungstreffen entstand eine positive Motivation, die die große Mehrzahl der beteiligten MitarbeiterInnen überdurchschnittlich innovativ und aktiv für neue Maßnahmen werden ließ – keine Selbstverständlichkeit im Verwaltungsalltag. Grenzen der Umsetzung wurden jedoch im übergeordneten Straßennetz spürbar, wo Ansprüche aus Sicht des Fußgängerverkehrs wesentlich schwieriger durchzusetzen waren.

Die im Prozess gesetzten Maßnahmen wurden von der Leitstelle in einer Broschüre „Stadt fair teilen“ für die Bezirkspolitik, für die Mitarbeiterschaft in der Verwaltung und für Planungsbüros anschaulich aufbereitet. Die Broschüre wird auch von anderen Städten stark nachgefragt.

Insgesamt ist es gelungen, den Interessen der FußgängerInnen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Um das Engagement der Bezirke im Bereich der geschlechtssensiblen Gestaltung des öffentlichen Raums weiter zu unterstützen, ist derzeit auf Initiative des Stadtrats für Stadtentwicklung und Verkehr eine Gender Mainstreaming-Best-Practice-Schau ausgeschrieben, an der alle Bezirke teilnehmen können. Bei dieser Schau bekommen die Bezirke die Gelegenheit, qualitätvolle Projekte zu zeigen, die sich durch „sozialen Mehrwert“ auszeichnen. Die besten Projekte sollen im Rahmen der europäischen Mobilitätswochen prämiert werden, eine Ausstellung über alle eingereichten Projekte wird anschließend durch die Bezirke wandern.

Gender Mainstreaming Leitprojekte

Um die gewonnenen Erkenntnisse und erprobten Vorgangsweisen auf eine breitere Ebene zu stellen, wählen seit 2006 alle Verkehr- und Stadtplanungsabteilungen jährlich thematisch und räumlich breit gestreute Gender Mainstreaming Leitprojekte aus ihren laufenden Arbeitsprogrammen. Die Leitstelle berät die Abteilungen projektspezifisch, auch Schulungen werden in den einzelnen Abteilungen abgehalten. Insgesamt wurden und werden seit 2006 rund 40 Leitprojekte bearbeitet. Die Maßstabsebene der Projekte betrifft dabei nicht nur Straßenprojektierungen, sondern reicht bis zur Ebene großräumiger Stadtentwicklungsprojekte, ein relativ junges Aufgabengebiet der Leitstelle.

Aber bereits auf der Ebene der Stadtentwicklung werden durch die räumliche Vernetzung des Gebietes (im Sinne einer Stadt der kurzen Wege) für die spätere fußgängerfreundliche Gestaltung relevante stadträumliche Situationen generiert. Für die Erstellung des städtebaulichen Masterplans Flugfeld Aspern (200 ha) wurden daher ausgehend von vier exemplarischen Wohnstandorten im Gebiet Wegeketten unterschiedlicher Personengruppen in ihren spezifischen Alltagssituationen dargestellt und so die Attraktivität möglicher Alltagswege überprüft. Dabei wurde auch zwischen Tag- und etwaigen Nachtrouten unterschieden. Für den städtebaulichen Wettbewerb Nordwestbahnhof (42 ha) wurde die möglichst kurze Entfernung zwischen Wohnbebauung, öffentlichen Freiraum, sozialer Infrastruktur oder Haltestellen des öffentlichen Verkehrs als Beurteilungskriterium festgelegt und in der Jury auch gewertet.

Die Analyse der Wunschgehlinien der FußgängerInnen analog zu den Zielen der Umgebung hat sich für viele Leitprojekte als essentielle Bearbeitungsgrundlage herausgestellt. Bei den Wettbewerben zur Neugestaltung des Mariahilfer Platzls und des Liesinger Platzes wurden die Wunschgehlinien vorab festgelegt und ihre Berücksichtigung als Vorgabe für die Wettbewerbsausschreibung übernommen. Im Projekt „Verlängerung U1 in Richtung Rothneusiedl“ war die möglichst kurze Erreichbarkeit sensibler Einrichtungen Grundlage für die Festlegung der genauen Stationslagen und Situierung der Ausgänge.

Allen bearbeiteten Projekten ist der starke Alltagsbezug gemein. Neue Qualitäten und Sichtweisen in Planungs- und Projektierungsprozess durchzusetzen, die auch etwaige bisherige Defizite und damit potenzielle zusätzliche Aufgabenstellungen aufzeigen, zumindest jedoch in vielen Fällen Schwerpunktverlagerungen nahelegen, hat prinzipiell mit erheblichen „systemischen“ Widerstand zu rechnen. Die zielgruppenspezifische Betrachtung der Verkehrsplanung ist für die Identifizierung der häufig auf den ersten Blick nicht ersichtlichen, vielfältigen Ansprüche der FußgängerInnen jedoch eine wichtige Unterstützung. Zusätzliche Qualitäten können bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Planung verankert werden. Mit diesem Anspruch ist Gender Mainstreaming eine vielversprechende Strategie der Qualitätssicherung und ein wichtiger Beitrag für einen fair gestalteten öffentlichen Raum.

In Kürze

Mobilitätschancen hängen von der individuellen Lebenssituation ab. Vor allem Frauen, aber auch Kinder und ältere Personen legen viele Alltagswege zu Fuß und in der näheren Wohnumgebung zurück. Maßnahmen für den Fußgängerverkehrs wurden von der Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen der Stadt Wien im Leitbild, dem Masterplan Verkehr Wien und in konkreten Pilotprojekten, wie dem Gender Mainstreaming Pilotbezirk Mariahilf verankert. Die kleinteiligen Maßnahmen haben über die Summe ihrer punktuellen Wirksamkeit hinaus zu einer flächig spürbaren Qualitätssteigerung im öffentlichen Raum geführt.

Quellennachweis:

  1. Im Bereich des dicht bebauten Stadtgebietes ist Wien vom gründerzeitlichen Straßenraster geprägt, das sehr schmale Querschnitte aufweist.

Weitere Informationen:

  • Die Bezugsadresse der Broschüre ist: Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen, Ebendorferstraße 1, 3. Stock, Zi 335, A-1010 Wien, Tel. ++43 1 4000 82663 Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

Dieser Artikel von Eva Kail und Elisabeth Irschik ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2008, erschienen.

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