Am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien wurde in den 70er Jahren die traditionelle Lehre des Verkehrswesens übernommen aber bald begonnen, die in der Praxis auftretenden Phänomene, die auf Widersprüche zwischen den in der traditionellen Lehre getroffenen Annahmen und daraus resultierenden Erwartungen und den Erfahrungen entstehen, nachzugehen und zu analysieren.
Ausgehend von den einfachsten Elementen der Verkehrsanlagen wie etwa den Breiten bis hin zu den komplexen Zusammenhängen von Wirtschaft, Siedlungsstruktur und Verkehrssystem wurden in den vergangenen 30 Jahren Schritt um Schritt neue Grundlagen des Verkehrswesens entwickelt, die heute von qualifizierten Planern in der Praxis angewandt werden. Vor über 30 Jahren wurde festgestellt, dass etwa die Fahrstreifenbreiten der Richtlinien keine wissenschaftlich gesicherten Grundlagen besitzen, sondern auf Annahmen oder der Übernahme bestehender älterer Vorschriften beruhen. Dieser unbefriedigende Zustand wurde dadurch behoben, dass man unter Anwendung der Evolutionstheorie und Berücksichtigung von fünf anderen Wissenschaften den Mechanismus entdeckte, der Menschen befähigt, sich mit einem Fahrzeug mit relativ hoher Geschwindigkeit relativ sicher auf einem relativ schmalen Streifen zu bewegen.
Das Ergebnis war ein gut gesicherter Zusammenhang zwischen Fahrstreifenbreite und gewählter Geschwindigkeit mit dem man die gewünschten Tempolimits baulich a priori berücksichtigen kann.
In der Zunft des Verkehrswesens führt dies nun keineswegs zu einer Änderung der Richtlinien, sondern zu Gruppenbildung und Mehrheitsbeschluss durch demokratische Abstimmung, was richtig und was falsch sei. Erst nach Jahrzehnten und unter dem Druck des Städtebaues bequemte man sich, die alten falschen Querschnitte in den Richtlinien zu beseitigen, die Praxis nimmt allerdings davon bisher kaum Notiz.
Traditionelles Verkehrswesen beruht vielfach auf Annahmen und nicht auf wissenschaftlich gesicherten Grundlagen. Es sind dies im Wesentlichen drei Dogmen, die das Denken und Handeln in dieser Disziplin bestimmen:
Der Vorteil bei diesen Mythen besteht aber darin, dass man sie empirisch und auch theoretisch analysierend untersuchen kann, um ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit nachzuweisen.
Die Annahme des Mobilitätswachstums beruht auf einem Beobachterfehler und einer zwecklosen oder zweckfreien Definition von Mobilität. Mobilität außer Haus hat immer einen bestimmten Zweck, nämlich den Mangel im Haus zu kompensieren. Sie dient dem Aufsuchen des Arbeitsplatzes, des Einkaufes, dienstlichen Erledigungen, Sozialkontakten, Freizeitaktivitäten und der Ausbildung. Und daran ändert sich mit oder ohne Auto nichts. Die empirischen Befunde liefern uns seit Jahrzehnten den Beweis dafür. Das leichte Ansteigen der durchschnittlichen Wegezahl pro Einwohner in den vergangenen fünf Jahrzehnten ist nicht auf eine erhöhte Zahl der Zwecke, sondern viel mehr auf verloren gehende Logistik und schrumpfende Familiengrößen zurückzuführen. Die erste Annahme ist daher falsch.
Die zweite Annahme geht von einer Unverrückbarkeit von Strukturen im Raum aus, unabhängig davon, welche Geschwindigkeiten das Verkehrssystem aufweist. Dies ist allerdings ein grober Irrtum, denn das Verkehrssystem macht sich selbst seine Strukturen, wie ein Blick auf die europäische Landkarte erkennen lässt. Städte entstanden früher Tagesreisen voneinander entfernt, also etwa alle 25-40 km und sind bis heute diesem Muster weitgehend treu geblieben. Es war das langsame Verkehrssystem des Fußgehers oder Pferdefuhrwerkes, das diese Strukturen bildete. Ebenso bildet auch das schnelle Verkehrssystem seine Strukturen, unter der gleichen Randbedingung: die Mobilitätszeit im System bleibt konstant.
Steigt die Geschwindigkeit, nimmt die Weglänge zu und daher ändern sich die Strukturen, weil sich die Ziele und Quellen ändern. Damit sind aber sämtliche Berechnungen mit denen schnelle Verkehrssysteme durch eine Nutzen-Kosten-Analyse begründet werden falsch. Denn die Größe, auf der der Nutzen beruht, nämlich die Zeiteinsparung, existiert nicht. Damit ist die zweite Grundhypothese traditionellen Verkehrswesens ungültig.
Und in Kürze noch die dritte: die Fähigkeit zur Verkehrsmittelwahl. Die Verkehrsmittelwahl wird durch die Strukturen bestimmt, denn Strukturen bedingen das Verhalten. Dabei spielt der Parkplatz die zentrale Rolle und determiniert die Verkehrsmittelwahl. Die heutige Form der Parkraumorganisation beruht auf der Reichsgaragenordnung und legt jedem normalen Bürger nahe, das Auto zu benutzen, ja sie zwingt ihn dazu. Die Versuche diesen fundamentalen Fehler an Quell- und Zielorten durch Maßnahmen im Fließverkehr wie Road Pricing, Tempolimits und ähnliches zu kompensieren sind grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, weil damit nur Symptome und nicht die Ursachen angesprochen werden.
Sind die Grundannahmen und die darauf aufbauenden Theorien falsch, ist es gleichgültig wo und wie man sie anwendet – das Ergebnis wird immer falsch sein. In der „Wachstumsphase“ der vergangenen 50 Jahre wurden die fundamentalen Fehler herkömmlichen Verkehrswesens dadurch überdeckt, dass man annahm, die Begleiterscheinungen der Motorisierung wären zwingend gegeben und ein Schicksal, dem man nicht entgehen könne. Das man nur mit Hilfe der so genannten Experten so gut wie möglich zu bewältigen hätte. Und die Experten bereiteten auch die Entscheidungen vor.
Eigentlich hätte man in den letzten 50 Jahren darauf kommen müssen, dass etwas falsch läuft in diesem System. Man hat aber angenommen, dass mit wachsendem Wohlstand zwangsläufig die Probleme ebenfalls wachsen müssen. Dies widerspricht allerdings allen anderen Entwicklungen, da mit wachsendem Wohlstand das Gesundheitssystem besser wurde und viele andere Bereiche des Lebens verbessert werden konnten – nur das Verkehrssystem ist immer schlechter geworden. Eindeutig nachgewiesen ist, dass herkömmliches Verkehrswesen in der Lage ist, verlässlich jene Probleme zu erzeugen, von denen es vorgibt, sie zu lösen. Es ist eine problemerzeugende Disziplin anstatt einer problemlösenden.
Besonders dramatisch sichtbar werden diese Irrtümer aber erst bei Abnahme der Bevölkerung bzw. bei schrumpfenden Städten. Hier zeigt sich das Übermaß falscher riesiger Infrastruktur, die nicht mehr erhalten werden kann und von Wirtschaftsstrukturen, die nicht mehr erreicht werden können, falls billige Energie nicht endlos zur Verfügung steht. Plötzlich entdecken die Menschen, dass sie in der Falle sitzen.
Es war eine Falle der Bequemlichkeit und der Gedankenlosigkeit, die mit Hilfe verschiedener Disziplinen, unter anderem auch jener des Verkehrswesens, in den vergangenen 50 Jahren mit immer größerer Perfektion und zunehmender elektronischer Ausstattung gebaut wurde, in der der Großteil der Menschheit heute sitzt und vermutet, es würde keinen Ausweg aus dieser Falle finden.
Die gestellten Fragen:
Zu den Antworten:
An meinem Institut müssen sämtliche Studierende seit über 20 Jahren eine Stunde Erfahrung mit dem Rollstuhl oder dem Kinderwagen machen und darüber ein Protokoll verfassen. Diese „freiwillige“ Übung dient dazu, den angehenden Planern die Augen dafür zu öffnen, was ihre Vorgänger nicht gesehen haben, nämlich den Menschen im Verkehrssystem, insbesondere den behinderten Menschen, das Kind oder den Alten. Sie erkennen plötzlich, dass ein Bordstein ein unüberwindliches Hindernis ist und ebenso eine Straßenbahn oder ein Autobus mit einer Plattformhöhe weit über dem Bahnsteig.
Fragt man die Studenten, was ihnen bei dieser Übung am schwersten gefallen ist, dann erhält man fast immer die Antwort: dass sie nicht aufstehen durften, wenn andere Kollegen oder Mitreisende ihnen mit dem Rollstuhl in die Straßenbahn oder den Autobus geholfen haben. Sie waren plötzlich auf das soziale Verhalten der Mitmenschen angewiesen.
Dies hat dazu geführt, dass diese Absolventen – trotz des erbitterten Widerstandes ihrer Vorgesetzten und Kollegen, die an anderen Universitäten ausgebildet werden, begonnen haben, Gehsteige durchzuziehen und nicht Gehsteige abzusenken, damit nicht der Fußgeher den Höhenunterschied zu überwinden hat, sondern der Autofahrer. Außerdem lernen sie aus den elementaren Beziehungen der Mechanik den Ruck als wirksame Steuergröße für die Geschwindigkeit zu nutzen, indem sie geeignete Aufpflasterungen an Stellen vorsehen, um die Geschwindigkeit in dem Bereich des evolutionär Verantwortbaren zu bringen, nämlich auf den Wert von 30 km und weniger.
Geschwindigkeit in einer zukunftsorientierten modernen Verkehrsplanung hat keineswegs mehr die zentrale Rolle wie in der von Irrtümern beherrschten traditionellen Verkehrsplanung, sondern ist ein Indikator, der auf die Not einer Struktur hinweist, die so mangelhaft gebaut und konstruiert wurde, dass sie hohe Geschwindigkeiten braucht, um ihre Funktionen aufrecht erhalten zu können. Schnelle Verkehrssysteme sind daher für eine qualifizierte Verkehrsplanung der Beweis für die Unfähigkeit der Planer und auch der Politiker in der Stadtgestaltung und im Verkehrssystem. Gut organisierte Systeme brauchen keine hohen Geschwindigkeiten.
Die Stadt der kurzen Wege ist symptomatisch für die irreführende Betrachtungsweise in der herkömmlichen Verkehrsplanung – ein unerreichbares Wunschbild. Die Stadt der kurzen Wege hat es früher gegeben, sie wurde ersetzt durch die Stadt der langen Wege. Das Geheimnis für die Siedlungen der kurzen Wege ist der Fußgeher. Jede normale Stadt ist daher in erster Linie eine Fußgeherstadt, ergänzt durch den Radfahrer und den öffentlichen Verkehr. Das Auto dient für bestimmte Sondertransporte.
Auch heute ist die Situation nicht anders, denn die Zahl der Autofahrten, die benötigt wird um Lasten zu transportieren, die schwerer sind als sie ein Fußgeher oder Radfahrer oder Benutzer des öffentlichen Verkehrs tragen kann, liegt in allen empirischen Erhebungen, die der Verfasser seit 40 Jahren durchführt, fast immer unter 10 % der heutigen Autofahrten. Der Rest dient nur der Bequemlichkeit oder dem Zwang, der aus falscher Standortwahl entsteht.
Eine Stadt der geringen Geschwindigkeiten ist aber auch eine Stadt des vielfältigen Angebotes auf kleinem Raum – nämlich die Stadt. Was man heute als Stadt bezeichnet, ist in Wirklichkeit meist ein Siedlungshaufen, urban sprawl, der nichts mit der eigentlichen Stadt zu tun hat.
Die Stadt muss den Bewohnern alle täglichen Aktivitäten innerhalb der Gehwegdistanz bieten, bei größeren Distanzen innerhalb der Gehweg-, der Fahrraddistanz oder gut erreichbar mit dem öffentlichen Verkehr innerhalb des gleichen Zeitbudgets. Eine solche Stadt ist stabil und kann sich den demographischen Entwicklungen wesentlich besser anpassen. Das Ausmaß des Autoverkehrs – überschreitet dieses den Wert von 5-10 % aller Wege – ist ein Zeichen für den Mangel in der Stadtplanung und dem Verkehrssystem.
Die Vorsorge für morgen: Beseitigung der Vorschriften der Reichsgaragenordnung, die immer noch gültig sind durch menschengerechte Bestimmungen. In der Reichsgaragenordnung vom 1. April 1939 wurde die „Hauptsünde“ der heutigen Stadt- und Verkehrsplanung begangen, indem jedem Objekt und jeder Aktivität auf dem eigenen Grundstück oder in unmittelbarer Nähe ein Parkplatz vorgeschrieben wurde. Der Zweck der Reichsgaragenordnung war die Förderung der Motorisierung und nicht die Lösung von urbanen oder Verkehrsproblemen.
In ihr kommt die völlige Verständnislosigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Menschen im städtischen Organismus zum Ausdruck. Leider wurde diese Bestimmung bis heute in den Bauordnungen weitergeführt. Man hat nicht erkannt, dass der Parkplatz dem Abfahrtsort eines technischen Verkehrsmittels, also der Haltestelle des öffentlichen Verkehrs, entspricht. Da technische Verkehrsmittel tief in das Unterbewusstsein des Menschen, in den Energiehaushalt seines Körpers eingreifen, können sie daher durch spätere Maßnahmen, die nicht in der gleichen Tiefe wirksam sind, nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden.
Es ist die physisch falsche Struktur, die das heutige Verkehrssystem antreibt und die Probleme erzeugt. Es ist die falsche Parkraumorganisation. Ist das Auto in geringerer Entfernung als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs zu erreichen, wird jeder Mensch zum Autofahrer oder versucht es zumindest zu werden. Aus individueller Sicht ergibt sich damit für ihn der optimale Zustand, wenn er über ein Auto verfügt und es auch benützt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen und keine noch so attraktive Gestaltung des öffentlichen Verkehrs wird ihn daran hindern.
Wenn daher die oben aufgeworfenen Fragen sinnvoll beantwortet und gelöst werden sollen ist es nur dadurch möglich, dass durch eine neue Parkraumorganisation der heute chancenlose öffentliche Verkehr in eine zumindest annähernd gleiche Position gebracht wird wie das Auto. Dies ist nur möglich, wenn die Fahrzeuge nicht mehr bei den Quellen und Zielen der Wege untergebracht werden dürfen, sondern in einer Entfernung, die mindestens genauso groß zu den Aktivitäten des Menschen sein muss, wie die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. D.h. die Autos sind in Sammelgaragen unterzubringen und grundsätzlich aus der Fläche zu entfernen.
Damit entfallen aber auch die Gehsteige, die vor allem dazu gedient haben, dem Autofahrer jenen Teil des seinerzeitigen Straßenraumes zu reservieren, den er für seine hohen Geschwindigkeiten benötigt, um sie bequem zu genießen. Über 70 % des Straßenraumes werden damit frei von Autoverkehr – ausgenommen ist der Lieferverkehr, manche Handwerker und die Körperbehinderten, die eben mit Schrittgeschwindigkeit diese Bereiche aufzusuchen haben, die von Fußgehern, Radfahrern und den wieder in die Städte zurückkehrenden Aktivitäten frequentiert werden.
Langsame Geschwindigkeiten bedingen eine Vielfalt von kleinen Geschäften. Hohe Geschwindigkeiten vernichten die kleinen Wirtschafts-, Handwerks- und Handelsstrukturen und ersetzen sie durch große aber dezentral außerhalb der Stadt liegende Shopping-Center auf der grünen Wiese, die nicht mehr vom öffentlichen Personennahverkehr erreicht werden.
Die Frage, wie der ÖPNV von morgen aussehen soll, um den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden, lässt sich daher ohne Berücksichtigung der Strukturen, die der ÖPNV bedienen soll, nicht beantworten. In einer autofreien Umgebung sind die Alltagsbewegungen gehen oder Rad fahren in jeder Art von Gesellschaft – ob jünger oder älter – zur körperlichen und geistigen Gesunderhaltung möglich und erforderlich und daher eine Grundverpflichtung für jede Art von Regierung. Diese Verpflichtung kann nur erfüllt werden, wenn das Auto flächenhaft aus der Stadt entfernt wird, weil es der körperlichen und geistigen Gesunderhaltung aller Schichten der Bevölkerung abträglich ist.
Alte wie junge Menschen lernen immer das Verhalten, das ihnen die Strukturen anbieten. Ein kostengerechter Flugverkehr wirkt weder für Junge noch für Alte attraktiv und die Frage, ob ein Winterquartier, das ausschaut wie das Sommerquartier, das ideale sein soll, ist nur im Zusammenhang mit dem Erlebnisprofil und der Werterhaltung des Einzelnen zu beantworten. Die fernen Massen-Winterquartiere im Sommer unterscheiden sich ja oft – mit Ausnahme der Umgebung und der Temperatur – durch nichts von den nahen Massen-Werktagsquartieren, die man den Menschen im neuzeitlichen Städtebau seit den letzten 50 Jahren zugemutet hat.
Bislang beruhte die Praxis im Verkehrswesen auf falschen Annahmen, die zu falscher Infrastruktur in den Städten führte. Diese Fehler wurden in der Wachstumsphase überdeckt, heute, bei Schrumpfung und Stagnation treten sie klar zu Tage. Der Autor plädiert für temposenkende Infrastruktur bzw. eine Umverteilung des Raumes. Zentral ist dabei eine andere Parkraumorganisation, die die Kfz-Stellplätze aus den Stadtvierteln verbannen muss.
Dieser Artikel von Prof. Hermann Knoflacher ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2007, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.