Deutschland ist mobil. Wir haben Freude am Fahren, die Bahn kommt, und geflogen wird zum Taxipreis. Ausgedrückt in Zahlen und Fakten heißt das: die Motorisierung steigt, die Zahl zurückgelegter Personenkilometer ebenfalls, es werden jährlich Millionen in den Ausbau der Infrastruktur investiert, um die immer schnellere, immer bessere und immer bequemere Überwindung von Entfernungen für alle Menschen möglich zu machen. Alle Menschen? Wirklich alle? Und was, wenn nicht?
Auch wenn für Viele das “Prinzip Freude” heißt, Leben ist Bewegung, weil wir, um an die Orte zu kommen, an denen das Leben statt findet, die dazwischen liegenden Distanzen überwinden müssen. Und die sind dank veränderter wirtschaftlicher Beziehungen, gesellschaftlicher Prozesse und räumlicher wie verkehrlicher Entwicklungen in den letzten fünfzig Jahren immer länger geworden. Daraus resultiert ein gestiegener Mobilitätsbedarf, der seinen Ausdruck in mehr Verkehr findet.
Der überwiegenden Mehrheit der Menschen gelingt es scheinbar mehr oder minder gut, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Ein Auto zu haben ist dabei oft der Garant für die uneingeschränkte Verwirklichung des Mobilitätsbedürfnisses, aber manchmal reicht auch das nicht aus. Was aber geschieht mit denen, die ihre Mobilitätsbedürfnisse nicht verwirklichen können, die unfreiwillig zu wenig mobil sind? Gibt es das in Deutschland überhaupt, und wenn ja, wer ist davon betroffen, und mit welchen Folgen und aufgrund welcher Ursachen?
Zugegeben, ganz neu ist das Thema nicht. Die Diskussion um “gleiche Mobilitätschancen” brandet je nach politischer Lage, Höhe des öffentlichen Kassenstands, Engagement der zuständigen Wissenschaftler, Planer und Politiker und gern auch zielgruppenspezifisch immer wieder auf. Ansonsten bildet sie zusammen mit anderen schwer fassbaren, sozialen, daher meist qualitativen und somit als “weich” eingestuften Aspekten eher ein Hintergrundrauschen in der nach wie vor recht technikzentrierten Verkehrsdebatte.
In anderen europäischen Ländern scheint man dagegen schon weiter zu sein, allen voran Frankreich und Großbritannien. Im angelsächsischen Sprachraum ist der Aufhänger dabei die zusammenhängende Betrachtung von Mobilität und sozialer Ausgrenzung. Ein reichhaltiger Fundus an Literatur konstatiert eindrucksvoll den theoretischen Zusammenhang und belegt ihn durch zahlreiche Fallstudien. Im wesentlichen läuft alles darauf hinaus, dass ein Zu-Wenig an Mobilität die Chancen in anderen Lebensbereichen erheblich beeinträchtigt. Zentral ist dabei die Frage nach dem Zugang zum Arbeitsmarkt, da die Beschäftigungssituation von Individuen und Haushalten maßgeblich ausschlaggebend für die Gestaltung anderer Lebensbereiche ist.
Noch immer gilt, dass die finanzielle Ausstattung (vulgo: Geld) entscheidend dafür sein kann, welche Türen sich im Leben für wen öffnen. Dies gilt u.a. für Bildungschancen, medizinische Versorgung, kulturelle Teilnahme, Ausstattung mit Gütern und Waren, aber auch für die Bildung und Pflege sozialer Netzwerke und gesellschaftliches sowie politisches Engagement. Die Teilnahme an jeder einzelnen der genannten Aktivitäten setzt an sich ebenfalls Bewegung im Raum voraus, die, wenn sie nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden kann, die Teilnahme selbst behindert. Unter sozialer Ausgrenzung wird verstanden, dass Personen oder Gruppen sich auf verschiedenen Ebenen (ökonomisch, institutionell, kulturell, sozial) vom “durchschnittlichen gesellschaftlichen Standard” entfernen (Häußermann 2000). Soziale Ausgrenzung ist ein komplexer, dynamischer Prozess, bei dem viele Faktoren auf individueller und institutioneller Ebene miteinander verwoben sind.
Ähnlich komplex ist die Rolle des Verkehrs in diesem Zusammenhang: Er verbindet Strukturen und Prozesse miteinander, die Ausgrenzung tendenziell bedingen oder verringern können (z.B. Arbeitsmärkte mit ihren Anforderungen und Arbeitssuchenden mit ihren Qualifikationen); formt aber gleichzeitig selber eine Zugangshürde, die nicht immer und nicht von jedem ohne weiteres überwunden werden kann. Was genau damit gemeint ist, illustriert die nachfolgende Abbildung.
Wie hier schematisch dargestellt, verbindet das Verkehrssystem Start- und Zielpunkt einerseits räumlich (a), andererseits stellt er aber auch die Verbindung zwischen den dort jeweils vorherrschenden Strukturen und Prozessen dar (b). Zudem beeinflussen diese die Zugangsmöglichkeiten zum Verkehrsnetz selbst (c), welches darüber hinaus über seine eigenen, charakteristischen Zugangsdeterminanten verfügt. Diese interagieren mit den Faktoren, die durch Individuen und Märkten etc. bedingt sind (d), und können – so die These – verstärkend bzw. abschwächend wirken.
Das britische Department for Transport (DfT 2000) nennt Raum, Zeit, Kosten sowie persönliche Merkmale der Nutzer als die vier Ebenen, auf denen die Ausgestaltung des Verkehrssystems der Verwirklichung von Mobilitätsbedürfnissen entgegenstehen kann. Eine eindeutige Trennung zwischen diesen ist in der Praxis nicht möglich, und darüber hinaus sind sie selber Folge persönlicher oder gesellschaftlicher Gegebenheiten und Entwicklungen. Will sagen, die speziellen Merkmale der Nutzer einerseits und die Merkmale des Verkehrssystems andererseits wirken mit darüber hinaus existierenden Strukturen und Prozessen zusammen.
Aus den Komponenten arbeitslose alleinerziehende Mutter ohne Auto, teure Monatskarte, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, billige Wohnsiedlung am einen, potenzielle Arbeitsstätte am anderen Ende der Stadt lässt sich ein eindrucksvolles, zugegebenermaßen stilisiertes, aber dennoch nicht unrealistisches Beispiel formen, in dem sich das Verkehrssystem als inadäquat erweist, die Mobilitätsbedürfnisse der Frau zu erfüllen. Es kann einerseits Diskrepanz zwischen den nicht zusammenpassenden Strukturen von Arbeitsmarkt, Kinderbetreuungsmöglichkeiten und wohnungsmarktwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht überbrücken und agiert andererseits selbst als eine Barriere, da die zeitliche sowie die finanzielle Ebene den notwenigen Zugang erschweren.
Der Versuch, diese Zusammenhänge begrifflich wie grundsätzlich zu fassen, führte zur Prägung des Begriffs “transport poverty” (Social Exclusion Unit 2003). Dieser Begriff ist jedoch nicht klar definiert und wird z.T. unterschiedlich verwendet. Eine Übersetzung ins Deutsche unter dem Begriff ‚Verkehrsarmut’ scheint zudem ungeeignet, die angesprochenen Zusammenhänge insbesondere im Hinblick auf die Folgen für die Betroffenen adäquat zu beschreiben.
Zutreffender schiene wohl der Begriff der Mobilitätsarmut, vor allem wenn dieser auch die aus der Verminderung der Beweglichkeit an sich resultierenden negativen Folgen in anderen Lebensbereichen beinhaltet (Runge 2005). Eine Arbeitsdefinition könnte daher wie folgt lauten: Mobilitätsarmut bedeutet die verringerte Möglichkeit zur Verwirklichung vorhandener Mobilitätsansprüche und –bedürfnisse, die zu einer Benachteiligung der Betroffenen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führt. Auch wenn dieser Definition noch einige konzeptionelle Lücken anhaften, so wird daraus schon deutlich, dass eine gesamtheitliche Betrachtung nötig ist, die soziale, d.h. individuelle und gruppenspezifische, mit der räumlichen Ebene zusammenbringt (Grieco 2003).
Städtischen Räumen wird zwar oft unterstellt, dass sie im Gegensatz zum ländlichen Raum den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen einen gleichermaßen guten Zugang bieten, dass dies nicht so ist, konnten Church et. al (2000) eindrucksvoll am Beispiel Londons zeigen, wo ca. ein Viertel aller Einwohner nicht ausreichend (verkehrlichen) Zugang zu den Möglichkeitsräumen haben, die eine vollständige soziale Teilhabe gewährleisten.
Natürlich führt verringerte Mobilität nicht zwangsläufig zu sozialer Ausgrenzung, aber in den meisten Fällen müssen die Betroffenen Abstriche in ihrer täglichen Lebensweise sowie hinsichtlich ihrer Chancen in den unterschiedlichen Lebensbereichen hinnehmen. Wie oben bereits angedeutet, liegen die Folgen einer verminderten Mobilität darin, dass die Betroffenen Abstriche in ihrer täglichen Lebensweise sowie hinsichtlich ihrer Chancen in den unterschiedlichen Lebensbereichen hinnehmen müssen. Dazu haben Untersuchungen aus Großbritannien festgestellt, dass aufgrund unzureichender verkehrlicher Anbindung
Dabei trifft es im Regelfall polemisch ausgedrückt die “üblichen Verdächtigen”, d.h. alle die, die es immer zu treffen scheint, wenn von gesellschaftlichen und sozialen Missständen die Rede ist. Namentlich sind dies Arme, Alte, körperlich Eingeschränkte, Frauen, Kinder. Das soll nun wiederum nicht heißen, dass Reiche, Junge, Gesunde, Männer und die dem Kindesalter Entwachsenen nicht ebenso betroffen sein können. Sie sind es nur nicht so häufig und vielleicht auch nicht mit den gleichen gravierenden Konsequenzen, z.T. auch, weil sie in der Lage sind, fehlenden Zugang zum Verkehr anderweitig auszugleichen.
Hinsichtlich der Frage, was man den hier skizzierten Zusammenhängen entgegensetzen kann, gibt es grundsätzlich zwei Ansätze:
Dafür sind keine “exotischen” Maßnahmen nötig, sondern eine integrierte Betrachtung von Verkehr, Raum und den sich darin bewegenden Menschen, wie sie längst selbstverständlich sein sollte. Zunächst einmal bedeutet es jedoch, dass das Bewusstsein für diese Probleme sowie das Wissen um die speziellen Zusammenhänge auch in Deutschland konsequenter geschaffen werden müssen. Von besonderer Relevanz scheint dabei die aktuelle Diskussion im die Folgen des demographischen Wandels unter dem Leitmotiv des “Wir werden weniger, grauer, bunter”. Sollte, wie vielerorts bereits vorsichtig vermutet wird, dazu noch für einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung ein “ärmer” kommen, zeichnen sich ganz neue Spannungsfelder für die Verkehrspolitik ab.
Dieser Artikel von Diana Runge ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2006, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.