Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 1/1992

Ausgangslage

1992 hat der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) das Jahr der Fußgänger ausgerufen, dabei unter anderem eine umfangreiche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit betrieben und einen Gemeinde-Wettbewerb "Vorrang für Fußgänger" durchgeführt. Parallel dazu hat das Ressort für Verkehrswissenschaft des VCÖ das Handbuch "Vorrang für Fußgänger" zusammengestellt.

Inhalt

Neben der Dokumentation vorbildlicher Lösungen aus dem Wettbewerb werden in dem Handbuch die wesentlichen Aspekte des Fußgängerverkehrs behandelt: von Grundlagen der Mobilität über verkehrsplanerische bis zu bautechnischen Fragen. Dem Fußgängerverkehr mißt der VCÖ eine grundlegende Bedeutung bei: "Die Bewegungsqualität für das Zufußgehen ist der Maßstab für die Lebensqualität in unseren Siedlungsräumen."

Planungsgrundlagen:

Die Chance für Fußgänger, bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 50 km/h mit leichten Verletzungen davon zu kommen, beträgt nur 20 %, die Tötungswahrscheinlichkeit 40 %. Bei Tempo 30 liegt die Überlebenschance noch bei 95 %. Das Krebsrisiko durch Schadstoffe der Außenluft (Dieselruß und Benzol) liegt in Hauptverkehrsstraßen um das zehn- bis dreißigfache höher als in ländlichen Gebieten.

Bezieht man sich nicht auf "das hauptsächlich genutzte Verkehrsmittel", sondern auf alle Bewegungen, die zu Fuß zurückgelegt werden, so stellen Fußwege nach Berechnungen des VCÖ ca. 70 % aller Wege dar. Die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit liegt in österreichischen Kleinstädten bei 3,1 bis 3,3 km/h, in Wien bei 4,4 km/h. Nur 26 % der Fußgänger gehen mit leeren Händen, d. h. ohne Tasche, Gepäck oder Kindern, die an der Hand geführt werden. Autofahrer transportieren im Schnitt seltener als Fußgänger Gegenstände (Stadt Graz).

Als mittleren Bewegungsraum für einen Fußgänger ermittelte Knoflacher einen 85-%-Wert von 101 cm. Als psychologisch erwünschten Begegnungsabstand übernimmt der VCÖ einen Wert von 40 cm.

Das juristische Querungsschema "gerade gehen - gerade queren" entspricht nicht dem tatsächlichen Querungsverhalten, das auch die "Querung aus dem Gehen" und die "indirekte Querung" umfaßt. Neben der Anlage von Querungshilfen ist für Fußgänger daher eine generelle Temporeduktion im Kfz-Verkehr wichtig. Nur dadurch entstehen Zeitlücken zwischen Fahrzeugen, die auch für ältere Fußgänger und Kinder annehmbar sind. In Anlehnung an Zibuschka werden Annahmezeitlücken zwischen 6,9 Sek. bei Einrichtungsverkehr und 9,9 Sek. bei Zweirichtungsverkehr mit mehr als 10 m Fahrbahnbreite angesetzt.

Die subjektiv empfundene Reisezeit zu Fuß hängt wesentlich von der Attraktivität der Wege und der Umgebung ab. Attraktivitätsverbesserungen erhöhen die Bereitschaft, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (und bewirken dadurch modal split-Veränderungen), auch wenn sich die objektive Gehzeit nur geringfügig verkürzt. Die Autoren plädieren daher für eine Straßenraumgestaltung, die über rein verkehrstechnische Verbesserungen hinausgeht.

Planungsansätze und -empfehlungen:

Wegenetze: Bei termingebundenen Wegen oder einem Transport von Gütern soll der Umwegfaktor maximal bei 1,2 liegen. Wegentfernungen bis 1000 m werden für regelmäßige Wege als zumutbar eingestuft und sollen im Rahmen einer fußgängerfreundlichen Siedlungsplanung ermöglicht werden. Der VCÖ fordert u.a., daß in Bebauungsplänen dichte Fußwegenetze zu den Versorgungseinrichtungen vorgeschrieben werden. Wegenetze mit einer Maschenweite von etwa 100 m sollen angestrebt werden. Planungspriorität sollen folgende Wegtypen haben: Wege mit großer Bedeutung für Kinder, ältere Menschen und Behinderte (besondere Anforderungen hier: Sicherheitsbelange); Wege mit starker wirtschaftlicher Nutzung und hohem Fußgängeraufkommen (wichtiges Kriterium: Attraktivität); Wege zu Bahnhöfen und Haltestellen (Kriterien: direkte und sichere Wege, Aufenthaltsqualität an Haltestellen).

Dimensionierung von Wegen: Die Gehqualität wird in Abhängigkeit zur Behinderungswahrscheinlichkeit gebracht. Ein sehr bequemer Gehkomfort liegt nach dem VCÖ vor, wenn max. alle 50 Meter Behinderungen beim Begegnen oder Überholen auftreten. Als Bemessungsgrösse für die Gehwegdimensionierung wird die behinderungsfreie Begegnung zweier Personen mit aufgespannten Regenschirmen bzw. Gepäck gewählt. Standard-Gehwege müssen dann nach den VCÖ-Empfehlungen mind. 2,50 m breit sein, für "sehr bequemen" Gehkomfort 3,50 m. Die ebenfalls vertretene Forderung, Wege so zu dimensionieren, daß auch noch spontane Reaktionen von Kindern möglich sind, wird hierbei nicht berücksichtigt. Mindestwerte für andere Wegtypen: Geschäftsstraßen mit Auslagen 5,05 m; stark frequentierte Geschäftsstraßen 9,45 m; Warteflächen an Haltestellen 5,50 m; Gehwege an Straßen mit hoher Kfz-Dichte 3,75 m (inkl. Abstand zur Straße von 1,00 m) bzw. 5,25 m Breite (bei 2,50 m breitem Grünstreifen zur Fahrbahn); Wege im Park 3,40 m; vor Schulen/Kindergärten 4,25 m; behindertengerechte Gehwege 3,70 m (Begegnung eines Rollstuhlfahrers und einer weiteren Person). Wo die Mindestmaße nicht erfüllt sind, sollen Wege verbreitert oder Mischflächen ausgewiesen werden.

Als Querungshilfen ermpfiehlt der VCÖ Fahrbahnteiler (mit Verschwenk), Gehsteigdurchziehungen (Kfz queren den Gehweg), Aufpflasterungen, Zebrastreifen (an Kreuzungen umlaufend, mit Gehwegnasen) und einen Verzicht auf Dreiecksinseln durch Kreuzungsrückbau. Lichtsignalanlagen sollen mit Gehgeschwindigkeiten von 0,8 - 1,0 m/sec bemessen werden. "Rundum-Grün-Schaltungen" sollen an allen Kreuzungen mit Umsteigebeziehungen im ÖV eingerichtet werden. Für Druckknopfampeln werden "Alles-Rot für Sofort-Grün"-Schaltungen gefordert. Unterführungen sollen nur als Zusatzangebot zu den generell oberirdisch einzurichtenden Querungsmöglichkeiten vorkommen.

Bewertung

In seiner Konzeption wendet sich das Handbuch an Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung sowie an Meinungsbildner und verkehrsengagierte Bürger. Es ist als Lese- wie als Nachschlagewerk - auch für Nutzer außerhalb von Österreich - geeignet und in dieser Art eine sehr gründliche Zusammenstellung zum Fußgängerverkehr. Die Empfehlungen werden systematisch entwickelt. Auch qualitative Aspekte des Gehens, wie die soziale Sicherheit im öffentlichen Raum oder Kommunikation und Verweilen als Bestandteile der Mobilität zu Fuß finden, wenn auch nur am Rand, Eingang. Die Vorschläge zur Dimensionierung von Gehwegen sind wichtige Diskussionsbeiträge, wenngleich die Breiten bei einigen Wegtypen nach oben hin korrigiert werden könnten.

 

Titel: Vorrang für Fußgänger Herausgeber: VCÖ Verkehrsclub Österreich. - Wien 1993 Verfasser: Peter Glasl, Wolfgang Rauh, Franz Skala, Christoph Stadlhuber Bezug: VCÖ, Dingelstadtgasse 15, A-1150 Wien, Tel. 0043/222/85 83 86

Impressum:

Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Juni 1994. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de

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