Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe Nr. 79/2014
In vielen Ländern erreicht ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung nicht die empfohlene Dauer moderat-intensiver Bewegung von 150 Minuten pro Woche bei Erwachsenen bzw. 60 Minuten pro Tag bei Kindern. Die Ursachen hierfür werden nicht nur in individuellen Faktoren (z.B. mangelndem Wissen über die gesundheitlichen Konsequenzen), sondern auch in einer Verhaltensumwelt gesehen, die immer weniger zu einer körperlichen Bewegung anregt.
Der vor allem in den USA und einigen europäischen Ländern entwickelte wissenschaftliche Ansatz der Walkability soll Wege aufzeigen, wie dem Bewegungsmangel mit einer Kombination von verhaltenspräventiven Interventionen (mit Bezug auf die Individuen) und verhältnispräventiven Maßnahmen (mit Bezug auf den sozialen Kontext und die Verhaltensumgebung) entgegengewirkt werden kann. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht sportliche Aktivitäten, sondern die leicht- und moderat-intensive Bewegung im Zusammenhang mit Alltagsaktivitäten (Wege zur Arbeit, Spazierengehen etc). Der Sammelband enthält in 29 Kapiteln theoretische, methodische, konzeptionelle und praxisbezogene Beiträge, die diesem anspruchsvollen Ansatz verpflichtet sind.
Walkability geht über das Schaffen von fußgängerfreundlichen Bedingungen in einem verkehrsplanerischen Rahmen hinaus, denn der Begriff der Verhaltensumwelt wird „sozial-ökologisch“ sehr viel weiter gefasst. Er beinhaltet nicht nur die gebaute Umwelt (der Siedlungen und Verkehrsanlagen), sondern auch die soziokulturelle Umwelt, die natürliche Umwelt (z.B. Parks) und die informationsbezogene Umwelt (mediale Vernetzung etc.). Es wird angenommen, dass die objektive Ausgestaltung dieser Umwelten und deren subjektive Bewertung durch die Einwohnerinnen und Einwohner wichtige „Determinanten“ für das Ausmaß der Bewegung im Alltag darstellen. So gesehen sagt Walkability etwas über die Möglichkeit aus, sich im Alltag in einer gegebenen Umwelt ausreichend zu bewegen.
In statistischen Zusammenhangsanalysen wird untersucht, welche Form der Ausgestaltung dieser Umwelt zu mehr Bewegung führt. Im engeren Sinne wurden dabei auf Gemeindeebene fünf Dimensionen identifiziert: Dichte (z.B. Siedlungsdichte), Diversität (Nutzungsmischung), Design (Gestaltung von Siedlungen, Verkehrsanlagen und Aufenthaltsräumen), Erreichbarkeit von wichtigen Aktivitätszielen im Alltag sowie die Distanz zu Haltestellen des ÖPNV. Im weiteren Sinne werden auch ästhetische Qualitäten und Faktoren des sozio-kulturellen Umfeldes (z.B. die Art des Zusammenlebens in einem Quartier) hinzugerechnet. Insbesondere im Ausland wurden auf dieser Basis eine Reihe von Tools entwickelt, die eine Messung der Walkability auf Gemeinde- oder Quartiersebene mit Hilfe von Indizes ermöglichen sollen, um auf dieser Basis Ansatzpunkte für umweltbezogene Interventionen identifizieren zu können.
Der sozial-ökologische Ansatz der Walkability lässt sich zudem aus der im Jahr 2010 präsentierten „Toronto-Charta für Bewegung“ ableiten, die von Ländern, Regionen und Gemeinden ein Engagement für mehr Bewegung, unter anderem im Einflussbereich der gebauten Umwelt, fordert. Diese Charta wurde mittlerweile durch Dokumente zu Umsetzungsstrategien in einzelnen Handlungsfeldern ergänzt (u.a. in den Bereichen Verkehr und Stadtplanung).
Einige der Autoren plädieren dafür, eine solche Bewegungsförderung transdisziplinär - also in der Zusammenarbeit von Wissenschaft, Verwaltungen, weiteren Organisationen sowie Bürgergruppen - umzusetzen und zudem intersektoral anzulegen. Einzelne Formen der politischen und organisatorischen Verankerung eines solchen Ansatzes werden anhand von Fallbeispielen behandelt: z.B. die Funktion eines Fußgängerbeauftragten innerhalb der Stadtverwaltung (Wuppertal), Aktionskreise von Bürgerinnen und Bürgern in Stadtteilen von München und Göttingen, kommunale Gesundheitskonferenzen (in NRW) sowie das Programm einer strukturellen Bewegungsförderung in der Schweiz.
Die Beiträge dieses Sammelbandes geben einen guten Überblick über den Stand der Forschung im Bereich der Bewegungsförderung. Sie legen einen Schwerpunkt auf konzeptionelle Fragen und stellen die wesentlichsten Befunde zu den Zusammenhängen zwischen verschiedenen Einflussgrößen und dem Bewegungsverhalten zusammen, ohne allzu weit in methodische und empirische Details zu gehen. Insofern eignet sich das Buch auch für Personen, die sich neu mit diesem Forschungsfeld beschäftigen möchten.
In den Beiträgen wird häufig, wie in der US-Forschung, ein „transportbezogenes“ Gehen zum Erreichen bestimmter Wegziele (z.B. Einkaufsläden) von einem „freizeitbezogenen“ Gehen unterschieden, was analytisch allerdings grob und im Hinblick auf Gestaltungsmaßnahmen eher nicht zweckmäßig ist. Die theoretische Schwäche des Ansatzes liegt in seinem Hang zu umweltdeterministischen Erklärungen. Der Fokus der empirischen Forschung liegt auf statistischen Querschnittsanalysen (Untersuchung von Zusammenhängen zu einem gegebenen Zeitpunkt). Es liegen noch nicht viele fundierte Begleituntersuchungen von Interventionen in der Bewegungsumwelt vor. Die Befunde in den vorliegenden Studien sind zudem noch uneinheitlich.
Der Vorschlag transdisziplinär und intersektoral abgestimmter Programme der Bewegungsförderung mag richtig sein. Die Herausforderung besteht aber darin, solche komplexen Programme organisatorisch und finanziell zu Stande zu bringen und dauerhaft zu etablieren. Die in den Fallbeispielen präsentierten Erfahrungen sprechen eher dafür, mit enger abgegrenzten Programmen zu beginnen.
Walkability. Das Handbuch zur Bewegungsförderung in der Kommune. Bern 2014 (352 S.)
Jens Bucksch & Sven Schneider
Verlag Hans Huber: Buch (49,95 Euro), eBook (42,99 Euro).
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewe-gung, Mai 2014. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.
Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 78/2013
Victoria Walks ist eine Organisation im australischen Bundesstaat Victoria, die das Zufußgehen aus Gesundheitsgründen unterstützt und dafür öffentliche Mittel erhält. In ihrem Auftrag hat Jan Garrard eine Studie zur Mobilität von Senioren zu Fuß erstellt. Anlass dafür war die Erkenntnis der bisherigen Gesundheitsforschung, wonach die moderate Bewegung zu Fuß gerade für Senioren besonders wichtig ist, weil andere Arten der körperlichen Bewegung in dieser Altersgruppe seltener werden. Zudem ist das Zufußgehen für Senioren ein wichtiges Mittel, um den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden zu verbessern, die persönliche Mobilität sicherzustellen und soziale Bezie-hungen aufrecht zu erhalten. Fördermaßnahmen, die dem Erreichen dieser Ziele dienen, sollten allerdings altersgerecht und räumlich spezifisch ausgerichtet sein. Die Studie will das dafür notwendige Wissen bereitstellen.
Die Untersuchung stellt Ergebnisse der Forschung zu hemmenden und fördernden Einflussfaktoren auf die Mobilität von Senioren vor. Sie präsentiert Ergebnisse von Fokus-Gruppen-Diskussionen mit 32 Senioren sowie einer eigenen quantitativen Befragung von 1.128 Senioren. Auf dieser Basis werden in einem zehnseitigen Kapitel strategische Schlussfolgerungen gezogen und Maßnahmenempfehlungen gegeben.
Aus Befunden der umfangreich ausgewerteten Forschung wird gefolgert, dass ein Rückgang des Gehens in höherem Alter weniger mit einer Abnahme der Lust am Gehen, sondern eher mit diversen Barrieren zu tun habe, die im Alter besonders einschränkend wirken. In der Forschung werde bislang aber noch wenig verstanden, welche Faktoren genau das Gehen von Senioren behindern oder fördern.
Die Diskussionen in den Fokus-Gruppen zeigen eindrucksvoll, dass Senioren dem Gehen - auch im Vergleich zu jüngeren Menschen - einen sehr hohen Stellenwert als Element einer eigenständigen Lebensführung im Alter beimessen. Es besteht der Wunsch, möglichst lange aus eigener Kraft mobil sein zu können.
Die diversen Barrieren, wie z.B. stark befahrene Straßen, Beeinträchtigungen durch Radfahrer auf gemeinsamen Wegen, Regen oder schlechte Beleuchtung, führen nach Auskunft von geübten Zufußgehenden nicht automatisch zu einer Abnahme der Gehhäufigkeit. Sie haben vielfältige An-passungsstrategien zur Folge: z.B. Umwege, ein defensives Verhalten im Straßenraum oder die Wahl der Zeiten des Gehens in Abhängigkeit von den Beleuchtungsverhältnissen. Ein für Senioren sehr wichtiger Sicherheitsaspekt ist die Angst zu stürzen. Dem Zustand des Belags sowie der Beleuchtung der Wege messen sie deshalb eine hohe Priorität bei. Den Gehkomfort schränken Kreis-verkehre (wegen der verlängerten Wegstrecke), aber auch schnelle Fahrradfahrende auf gemeinsam genutzten Wegen sowie nicht angeleinte Hunde ein.
Die Ergebnisse der Befragung weisen darauf hin, dass eine Palette vielfältiger, oft auch kleinerer Verbesserungsmaßnahmen erforderlich ist. Neben den im engeren Sinne verkehrstechnischen Faktoren (inklusive Bodenbelag und Beleuchtung) wird von Senioren auch der Sensibilisierung von Autofahrenden und Radfahrenden eine hohe Bedeutung beigemessen.
Für die meisten Senioren ist eine eigenständige Mobilität so wichtig, dass sie nicht extra motiviert werden müssen, zu Fuß zu gehen. Bei den Empfehlungen tritt deshalb das Schaffen von se-niorengerechten Umfeldbedingungen in den Vordergrund. Dabei sollen jene Aspekte beachtet werden, die Senioren wichtiger als anderen Altersgruppen sind: die Gestaltung und der Unterhalt der Wegeinfrastruktur, auch mit dem Ziel, Stürze zu vermeiden; ein rücksichtsvolles Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmenden (mit Autos, Rädern, Hunden); die Ästhetik der Wegführung; Sitz- und Schutzgelegenheiten unterwegs sowie öffentliche Toiletten.
Der Politik wird empfohlen, eine Fußverkehrsstrategie zu entwickeln, in der das Gehen in der Siedlungs- und Verkehrsplanung besser verankert und auch mit kleinräumigen Maßnahmen geför-dert wird. Seniorengerechte Siedlungen sollen ein Wohnen in Distanzen bis zu einem Kilometer Entfernung von Aktivitätszentren ermöglichen. Garrard empfiehlt, die Mobilität von Senioren zu Fuß in die Straßensicherheitsstrategie des Bundeslandes zu integrieren und mit einem Finanzierungsprogramm für Fußverkehrsinfrastrukturen zu unterstützen.
Lokalen Verwaltungen wird geraten, ein Programm zur Überprüfung der Fußgängerfreundlichkeit (walkability) der für Senioren wichtigen Gebiete zu etablieren, das u. a. Kriterien zur Belagsgestaltung und Beleuchtung sowie zu Grünzeiten an Ampeln enthält.
Diese gründliche Untersuchung gründet sich methodisch auf mehrere Säulen. Dadurch können verschiedene Aspekte des Themas herausgearbeitet werden. Die durchgeführten Gespräche in Fokus-Gruppen lassen z. B. vielfältige Anpassungsstrategien der Senioren erkennen. Auch wird die im Vergleich zu anderen Altersgruppen hohe Bedeutung des Belags sowie der Beleuchtung als Ri-sikofaktoren für die nicht zu vernachlässigende Sturzgefahr deutlich. Die Studie bietet einen reichen Fundus von empirischen Befunden zur Bedeutung des Zufußgehens bei Senioren. Sie empfiehlt zudem eine Reihe von geeigneten Maßnahmen, mit denen die Mobilität der Senioren zu Fuß sichergestellt und damit auch deren Lebensqualität und Gesundheit gewährleistet werden kann.
Senior Victorians and walking: obstacles and opportunities. Final report. Melbourne 2013, 158 S.
Garrard, Jan
Victoria Walks Inc., Melbourne, gratis-download: www.victoriawalks.org.au
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2014. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.
Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 77/2013
In kommunalen Mobilitätsstrategien einer Reihe von Städten wird dem Fußverkehr eine wichtige Rolle beigemessen. Selten wird dabei jedoch ein konzeptioneller Ansatz verfolgt, in dem auf lange Sicht hin Verbesserungsmaßnahmen auf der Grundlage der Anforderungen von Einwohnerinnen und Einwohnern ergriffen werden. Ein gutes Beispiel für einen solchen Ansatz stellt das vor rund zehn Jahren begonnene Konzept Nahmobilität für den Münchner Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt dar.
Es ist in eine Stadtentwicklungsstrategie eingebettet, die in mehreren Handlungsfeldern eine Stärkung der Nahmobilität verfolgt: Die seit rund 15 Jahren verfolgte Stadtentwicklungsstrategie „kompakt, urban und grün“ hat das Ziel einer Innenentwicklung und Verdichtung; ein Zentrenkonzept für Stadtteil- und Quartierzentren soll die Nahversorgung garantieren; ein flächendeckendes Parkraummanagement soll den Zielverkehr verträglich gestalten; ein auf verschiedene Adressatengruppen ausgerichtetes Mobilitätsmanagement motiviert zur Nutzung von Alternativen zum Pkw.
Der besprochene Buchbeitrag stellt die Organisation sowie den Ablauf des Stadtviertelkonzepts Nahmobilität dar und nimmt eine Bewertung der bisherigen Erfahrungen vor. Der Autor Paul Bickelbacher spricht sich in Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen, wie z.B. „aktive Mobilität“, „Basismobilität“ oder „Langsamverkehr“, für den Begriff der „Nahmobilität“ aus, denn darin soll explizit ein Quartiersbezug zum Ausdruck kommen: „Nahmobilität ist die Mobilität zu Fuß, mit dem Fahrrad oder verwandten Verkehrsmitteln wie Roller, Inline-Skates und Rollstuhl, die im Alltag in ihrer Reichweite begrenzt ist und eine aktive Form der Mobilität darstellt, die auf der eigenen Körperkraft beruht.“ Betont werden die mit der Nahmobilität einhergehenden höheren Ansprüche an das städtebauliche Umfeld und die Berücksichtigung der Aktivitätsziele im Wohn- und Arbeitsumfeld.
Als Voraussetzungen für eine attraktive Nahmobilität werden aus diesen Gründen eine Stadtplanung der kurzen Wege, attraktive öffentliche Räume und eine funktionale Wegeinfrastruktur für den Fuß- und Radverkehr angesehen. Bickelbacher schlägt vor, das Konzept der Nahmobilität künftig als dritte Säule neben dem öffentlichen Verkehr und dem motorisierten Individualverkehr zu etablieren. Die Stadt München erarbeitet aktuell einen zweistufigen Grundsatzbeschluss zur Förderung der Nahmobilität bei der Planung aller neuen Stadtquartiere.
Das Stadtviertelkonzept Nahmobilität wurde vor gut zehn Jahren entwickelt. Pilotgebiet ist der südlich der Altstadt gelegene Münchner Stadtbezirk 2 Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt (46.000 Einwohner, 440 ha, 30% Anteil der Wege der Einwohner zu Fuß, 23% mit dem Rad). Kennzeichen des Planungsprozesses ist eine intensive Beteiligung der Bevölkerung. In der Phase der Problemanalyse hatten die Bürgerinnen und Bürger mehrfach Gelegenheit, Schwachstellen zu benennen und Anregungen zur Planung abzugeben: im Rahmen einer Auftaktveranstaltung, via Internet, Fax und Telefon sowie auf mehreren Quartiersexkursionen.
Häufig genannte Verbesserungsvorschläge für den Fußverkehr betrafen dabei Querungen. Zusammen mit den von Planern identifizierten Schwachstellen wurden die Bürgervorschläge in den Entwurf eines Maßnahmenkonzepts eingebracht, der in zwei Bürgerforen diskutiert wurde. Für das zweite Forum wurden Bürgerinnen und Bürger per Zufallsauswahl aus der Einwohnermeldedatei ausgewählt, um ein heterogenes Teilnehmerspektrum zu erreichen. In diesen Foren wurden Planungsgrundsätze gewichtet und besonders aufwändige Maßnahmenvorschläge bewertet. Das Ergebnis dieser Foren wurde in einem Bürgergutachten und einem Schwachstellenplan zusammengefasst.
Daraus wurde eine Zielplanung mit anzustrebenden Zuständen für die Nahmobilität abgeleitet. Das von den begleitenden Planern zusammengestellte Konzept mit 230 Maßnahmen wurde verwaltungsintern abgestimmt; realisierbare kurz- und längerfristige Maßnahmen wurden bestimmt. Nur ein Teil davon wurde bislang umgesetzt. Im Fußverkehr ist gut ein Drittel der Maßnahmen in der geplanten oder einer ähnlichen Form realisiert bzw. eine Umsetzung ist konkret geplant.
Aus den Erfahrungen mit diesem Planungsprozess leitet Bickelbacher Empfehlungen für künftige Vorhaben ab: Stadtteilexkursionen mit Bürgerinnen und Bürgern seien besonders aufschlussreich, wenn sie mit ausgewählten Adressatengruppen (z.B. Eltern-Kind-Initiativen) stattfinden. Der Stadtbezirk wird als geeigneter Planungsraum für den Fußverkehr angesehen. Mit Blick auf die Finanzierung könne aber eine Konzentration auf einzelne Bereiche erfolgen, in denen künftig Bau- bzw. Sanierungsarbeiten stattfinden. Das Maßnahmenprogramm solle nicht nur langfristige, sondern auch sofort umsetzbare Maßnahmen enthalten.
Auf Seiten der Verwaltung müssten ausreichende personelle Kapazitäten, eine personelle Kontinuität und eine geeignete Projektstruktur unter Benennung eines federführenden Amtes geschaffen werden. Die Förderung der Nahmobilität solle mit Maßnahmen des Parkraummanagements, des Mobilitätsmanagements und des öffentlichen Verkehrs unterstützt werden.
Der Beitrag zeigt einen exemplarischen Weg auf, die Situation der Zufußgehenden langfristig unter Mitwirkung der Einwohnerinnen und Einwohner zu verbessern. Das entwickelte Konzept zur Förderung der Nahmobilität verspricht Erfolg, weil es maßstabsgerecht auf der Ebene eines Stadtbezirks angesiedelt ist, denn hier findet ein beträchtlicher Teil des Fußverkehrs der Einwohnerinnen und Einwohner statt. Und die Verfahren der Bevölkerungsmitwirkung können auf dieser Ebene praktikabel umgesetzt werden.
Das dargestellte Beispiel zeigt aber auch, in welchen Zeiträumen - zehn Jahre und länger - und mit welchem hohen organisatorischen Aufwand vorgegangen werden muss, wenn vielfältige Defizite bei den Angeboten der Nahmobilität beseitigt werden sollen. In dieser Hinsicht wären in dem besprochenen Beitrag ergänzende Angaben zu den Planungs- und den Umsetzungskosten hilfreich gewesen. Zu den Wirkungen der bereits umgesetzten Maßnahmen werden noch keine Aussagen getroffen. In Zukunft dürften Wirkungsanalysen zur Überprüfung der Zielerreichung der Vielzahl umgesetzter Einzelmaßnahmen zweckmäßig sein. Deren Ergebnis könnte weitere Argumente für die Förderung der Nahmobilität beisteuern.
Nahmobilität als Schlüssel zum Erfolg - Das Beispiel München.
Paul Bickelbacher
Beitrag in: Mager, T. J. (Hrsg., 2013): Mobilität für die Stadt der Zukunft. Köln: kölner stadt- und verkehrs-verlag. 34 Euro, www.ksv-verlag.de
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2013. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.
Die folgenden unkommentierten Literatur-Hinweise zum Fußverkehr sind lediglich nach dem Erscheinungsdatum in
sortiert. Wenn Sie weitere Hinweise geben möchten, nehmen Sie bitte mit uns Kontakt auf.
BMVBS (2011): Ohne Auto einkaufen. Nahversorgung und Nahmobilität in der Praxis. Werktstatt: Praxis Heft 76.
Verkehrsministerium Baden-Württemberg (1998): Leitlinien zur systematischen Verbesserung von Fußwegenetzen.
WHO (2013): Pedestrian safety. A road safety manual for decision-makers and practitioners.
University of the Wes of England & Living Streets (2011): Making the Case for Investment in the Walking Environment. A review of the evidence
The Gallup Organization (2011): Future of transport. Analytical report. Flash Eurobarometer 312. European Commission.
Mayor of London. Transport of London (2004): Making London a walkable city. The Walking Plan for London
Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 76/2013
Ein Schwerpunkt im Unfallgeschehen sind Unfälle von Zufußgehenden, deren Anzahl sich zudem in den letzten Jahren nicht nennenswert verringert hat. Pro Jahr sind (in der Schweiz) immer noch rund 2.500 Fußgängerunfälle festzustellen. Immerhin 38 % davon finden auf Fußgängerstreifen statt (in der Schweiz sind sowohl Fußgängerfurten von Lichtsignalanlagen als auch Fußgängerüberwege mit Zebrastreifen markiert). In Bezug auf die Entstehung dieser Unfälle besteht ein Forschungsbedarf, will man wirkungsvolle Interventionen vornehmen. Aus dieser Motivation heraus hat eine Gruppe von Experten von Fussverkehr Schweiz und der Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich mit finanzieller Unterstützung des Fonds für Verkehrssicherheit eine detaillierte Analyse der Unfälle von Zufußgehenden in der Stadt Zürich vorgenommen und einen besonderen Fokus auf Fußgängerstreifen gelegt.
Grundlagen dafür waren die Daten des Unfallaufnahmeprotokolls der Verkehrsunfallstatistik der Jahre 2003 bis 2010, die mit weiteren Merkmalen zum Unfallort ergänzt wurden.
Der veröffentlichte Bericht gibt einen Überblick über das Aufkommen an Unfällen auf Fußgängerstreifen, zeigt zeitliche und räumliche Muster auf, geht den infrastrukturellen und örtlichen Umfeldbedingungen nach und arbeitet Unterschiede in der Unfallbeteiligung nach Alter und Geschlecht heraus.
Von den ausgewerteten 1.758 polizeilich erfassten Unfällen von Zufußgehenden in der Stadt Zürich fanden 789 (45%) beim Queren auf dem Fußgängerstreifen einer Lichtsignalanlage (LSA) oder auf einem Fußgängerüberweg (FGÜ) statt. In 23% der Unfälle war eine Lichtsignalanlage in Betrieb. Der typische Unfall von Zufußgehenden geschah also auf einer Strecke (außerhalb eines Knotens) ohne LSA-Regelung.
Die Unfallrate bei Frauen lag höher als bei Männern. Korrigiert mit der höheren Exposition (Teilnahme am Fußverkehr) der Frauen verschwinden die Geschlechterunterschiede aber weitgehend. Was bleibt, ist aber der hohe Anteil der Männer an den in Fußgängerunfälle verwickelten Fahrzeuglenkenden.
Auffallend ist die Unfallhäufung am späten Nachmittag und frühen Abend im Winterhalbjahr, was auf eine Kombination ungünstiger Licht- und Witterungsverhältnisse und hoher Verkehrsbelastungen des Fuß- wie auch des Fahrverkehrs zurückgeführt wird.
Aus dem Fehlen von örtlichen Schwerpunkten wird geschlossen, dass die Unfallursachen nicht primär in einer mangelhaften lokalen Infrastruktur zu suchen sind. An LSA-geregelten Fußgängerstreifen bei ÖPNV-Haltestellen kam es nicht zu einer erhöhten Unfallhäufigkeit.
Ein unvermitteltes Betreten der Fahrbahn durch Fußgänger war, entgegen der öffentlichen Diskussion, kein häufiger Unfallgrund. Im Gegenteil: Die Hälfte der Unfälle geschah auf dem zweiten bzw. weiteren Fahrstreifen. Markant ist auch der hohe Anteil Verunfallter, die aus Sicht der Fahrzeuglenkenden von links kamen. Die Autoren fordern daher, diese Problemsituation vertieft zu analysieren und Maßnahmen zu entwickeln. Dies betrifft z.B. den toten Winkel durch die A-Säule der Autos (Verbindung zwischen Fahrzeugdach und vorderer Spritzwand), Inselschutzpfosten, die Montage von Signalen sowie den Aufmerksamkeitsfokus der Autofahrenden und der Zufußgehenden.
Weitere Empfehlungen betreffen die Ausgestaltung von Sensibilisierungskampagnen, das Erheben von expositionsbereinigten Daten und das Erfassen spezifischer Bedingungen, wie z.B. der Sichtweiten.
In der Arbeit werden die einzelnen möglichen Einflussgrößen und Rahmenbedingungen für Fußgängerunfälle systematisch untersucht. Darüber hinaus werden unterschiedliche Konstellationen von Angebotsbedingungen (Anzahl Fahrstreifen, Gegenverkehr, Vorhandensein einer Insel) in ihren Konsequenzen betrachtet. Zugute kommt diesen differenzierten Analysen die Tatsache, dass die Stadt Zürich über die Unfallstatistik des Bundes hinausgehend zusätzliche Unfallmerkmale erhebt.
Sehr zweckmäßig ist der Ansatz, die verfügbaren Daten zur Exposition einzelner Bevölkerungsgruppen (anhand ihrer Verkehrsleistung zu Fuß und mit Kraftfahrzeugen) zu nutzen. Damit können Fehlschlüsse vermieden und geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Unfallverursachung und der -beteiligung genauer unter die Lupe genommen werden. Der Handlungsbedarf wird relativ klar erkennbar. Und es werden bereits Hinweise zu den Handlungsfeldern und möglichen einzelnen Maßnahmen gegeben. Aufgrund der statistisch-analytischen Zielrichtung der Arbeit müssen die Empfehlungen insgesamt freilich noch recht allgemein bleiben.
Die festgestellten komplexen Probleme erfordern weitere maßnahmenbezogene Abklärungen. Insbesondere betrifft dies die hohen Unfallzahlen in den winterlichen Abendstunden und den hohe Anteil von Unfällen mit Zufußgehenden, die aus Sicht der Fahrzeuglenkenden von links kommen. Erkennbar wird auch, dass die Datengrundlagen weiter verbessert werden sollten, insbesondere, was die Routenwahl und die Wahl der Querungsstellen anbelangt, damit die Exposition der Zufußgehenden in unterschiedlichen Querungssituationen noch genauer berücksichtigt werden kann. Bei der Darstellung der Analyseergebnisse zeichnet sich der Bericht durch eine große Detailfülle aus. Das Dokument ist insgesamt aber gut lesbar. Die Argumentation ist in Bezug auf den weiteren Handlungsbedarf gut nachvollziehbar.
Unfälle auf Fussgängerstreifen in der Stadt Zürich. Detailauswertung der Verkehrsunfallstatistik 2003-2010, Zürich 2012: Fussverkehr Schweiz & Stadt Zürich (DAV), 44 S.
Thomas Schweizer, Wernher Brucks, Mathieu Pochon, Christian Thomas
Download gratis als PDF bei: www.fussverkehr.ch
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, August 2013. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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