Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 34/2003
Burgdorf gilt in der Schweiz als eine Verkehrsmodellstadt. Zwischen 1996 und 2001 wurde mit der "Fußgänger- und Velomodellstadt" ein umfangreiches Energiespar-, Fußgänger- und Radförderungsprojekt mit schweizweiten Ausstrahlungswirkungen umgesetzt. Momentan ist die zweite Phase im Gang. Die erste Phase bis 2001 umfasste rund ein Dutzend größerer Einzelprojekte. Ziel der in dem besprochenen Rechenschaftsbericht dokumentierten ersten Phase war es, die Möglichkeiten und Grenzen des nichtmotorisierten Verkehrs zur Energieeinsparung aufzuzeigen und Verbesserungen in der Verkehrssicherheit zu bewirken.
Getragen wurde das Modellvorhaben in der ersten Phase vom Schweizer Programm Energie 2000 (zur Förderung einer rationellen Energienutzung), der Stadt Burgdorf, dem Verkehrsclub Schweiz, dem Gewerbe von Burgdorf, dem Fachverband Fußverkehr Schweiz sowie dem Kanton Bern. Alle diese Träger waren gleichrangig in einer Projektkommission vertreten, die die strategischen Beschlüsse zum Projekt traf. Die operative Leitung übernahm eine dreiköpfige Projektleitung.
Das Finanzbudget der rund fünfjährigen ersten Phase umfasste 840.000 Franken, davon 320.000 Franken Bundesmittel, 220.000 Franken der Stadt Burgdorf, Eigenleistungen trugen der VCS, Fußverkehr Schweiz und das Gewerbe bei. Die Stadt Burgdorf brachte außerdem beträchtliche personelle Eigenleistungen ein. Das Projektbudget des Jahres 2001 lag umgerechnet beispielsweise bei rund 10 Franken pro Einwohner (insges. 15.000 Einw.).
Zu Beginn des Projekts stand eine umfangreiche Ideenfindung unter Mitwirkung der Einwohner, bei der rund 140 Projektideen gewonnen wurden. Eine Exkursion nach Deutschland zeigte, dass Projekte in Burgdorf im Vergleich weniger infrastrukturlastig sein mussten.
Bekanntestes Projekt der Modellstadt ist die sogenannte "Flanierzone": in einer ersten Phase für 105.000 Franken als eine auf Tempo 20 begrenzte "Wohnstraße" mit Fußgängervortritt in innerstädtischen Geschäftsstraßen eingerichtet, mit Wegnahme von Mittellinien und Fußgängerüberwegen, später mit einigen Kunststoff Schwellen. Erst noch vier Jahren wurden wenig aufwändige bauliche Installationen (für 735.000 Franken) vorgenommen: Niveaugleichheit zwischen Fahrbahn und Trottoir, Straßenverlauf mit horizontalem Versatz, Gestaltung von Eingangssituationen, Stelen als Identifikationssignale, Entfernung von Fußgängerüberwegen auch vor dem Bahnhof.
Die Flanierstraße ist zwar trotz Fußgängervortrittsrecht keine Fußgängerzone, was die V85 von 29-30 km/h zeigt. Von Burgdorf ausgehend konnte das Prinzip allerdings im Schweizer Straßenverkehrsrecht unter dem Namen "Begegnungszone" verankert werden - und dies bereits fünf Jahre nach dem ersten Versuch in Burgdorf. Sie gilt seit Januar 2002 mit einer eigenen Signalisation auf Straßen - in Wohn- oder Geschäftsbereichen, auf denen Fußgänger die ganze Verkehrsfläche benützen dürfen. und gegenüber Fahrzeugen bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h vortrittsberechtigt sind.
Mit Vorher-Nachher-Messungen konnte gezeigt werden, dass die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge in Burgdorf um 16 km/h auf Werte zwischen 28 und 30 km/h sanken, ohne dass es zu einem Anstieg von Unfällen kam, Höhere Geschwindigkeiten treten vor allem in den Nachtstunden und am Wochenende auf.
Weitere Themen des Modellprojekts waren und sind zum Teil noch ein Fußgängerleitsystem, die Öffnung von Wegen für Radfahrer, Lobbyarbeit für ein Kunstmuseum an einem fußgängerfreundlichen Standort, ein Schulwegsicherungsprogramm, eine Mobilitätsberatung für Sportvereine, mit der die Autonutzung bei Fahrten zum Training zugunsten des Fahrrads ,verringert werden konnte, die farbliche Gestaltung von Fußgänger- und Veloquerungen ("Anhaltspunkte"), ein Maßnahmenprogramm für die Beseitigung von "Angsträumen".
Impulse wurden auch für einen Fahrrad-Lieferservice der Velostation Burgdorf sowie für das aktuelle Zusteige Mitnahme System "Carlos" im ländlichen Umland von Burgdorf gegeben. Zu den gescheiterten Projekten zählt der quer zum Autoverkehr und längs zur Fußquerung markierte Fußgängerüberweg. Er wurde aus Sicherheitsgründe aufgegeben, weil er vom Auto aus schlechter als der konventionelle Zebrastreifen, erkennbar war. Zur Modellstadt gehörte eine umfangreiche Begleitforschung .durch beauftragte Büros sowie die Universität Bern.
Die Entwicklung und Umsetzung der Modellstadtprojekte ist beispielhaft: Ein wichtiger Erfolgsfaktor war die Verankerung des Projekts beim Gewerbe (gefördert unter anderem durch eine gemeinsame Studienfahrt, konsensorientierte Ziel- und Maßnahmen-Klausuren und einen Verzicht auf Parkplatzbeschränkungen).
Hinzu kam ein starkes Engagement der städtischen und kantonalen Planung und die nennenswerte finanzielle Unterstützung durch ein Bundesprogramm. Die Projekte worden auf der Basis von Ideen aus der Bevölkerung entwickelt. Sie konnten in den behördenverbindlichen "Richtplan Stadtentwicklung" der Stadt Burgdorf aufgenommen werden und erhielten dadurch ein hohes planerisches Gewicht. Die Laufzeit der ersten Modellstadtphase war mit 5 Jahren ausreichend lang bemessen. Im Gegensatz zu deutschen Projekten zur Verkehrsberuhigung wurde weniger auf infrastrukturelle und mehr auf "weiche" und kommunikative Maßnahmen gesetzt.
Natürlich unterwegs. Schlussbericht 1996 2001 Fussgänger- und Velomodellstadt Burgdorf, Burgdorf, Februar 2002, 94 Seiten
Herausgeber: Fussgänger- und Velomodellstadt Burgdorf, Texte: H. K. Schiesser, A. Blumenstein
Stadt Burgdorf, Stadtbauamt, Lyssachstrasse 92, CH3401 Burgdorf, Tel. 0041344294211, e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!; Internet: www.burgdorf.ch sowie www.modelcity.ch, Preis kostenlos
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, März 2003. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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