Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 45/2005
Für größere Investitionen in die Infrastrukturen des Strassenverkehrs und des öffentlichen Verkehrs werden Nutzen-Kosten-Untersuchungen durchgeführt. Volkswirtschaftlich sinnvoll ist eine Investition dann, wenn die zusätzlichen Nutzen die Kosten des Bauvorhabens übersteigen. Diese Untersuchungen werden in der Regel nach den Vorgaben der „Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Strassen (EWS)“ sowie der „Standardisierten Bewertung von Verkehrswegeinvestitionen des öffentlichen Verkehrs“ durchgeführt. Auch im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung wurden Bewertungen mit Hilfe von Nutzen-Kosten-Analysen vorgenommen.
Diese drei Bewertungsverfahren sind jedoch nicht für Investitionen in die Infrastrukturen des Fuß- und Fahrradverkehrs entwickelt worden. Bei der Durchführung entsprechender Untersuchungen muss an vielen Stellen Neuland betreten werden. Die im Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick mit dem Kaisersteg geplante Wiederherstellung einer historischen Spreequerung für FussgängerInnen und RadfahrerInnen ist eine der ersten Pilotanwendungen für solche Nutzen-Kosten-Untersuchungen.
In der Nutzen-Kosten-Analyse werden die monetarisierbaren, also in Geld darstellbaren (volkswirtschaftlichen) jährlichen Nutzen des Kaiserstegs den jährlichen Kosten gegenüber gestellt. Für die Quantifizierung des Nutzens mussten zuerst die verkehrlichen Effekte des Stegs für alle von der Brücke beeinflussten Verkehre abgeschätzt werden. Hierzu wurden Primärerhebungen – Zählungen und Befragungen sowie Reisezeitmessungen für spezifische Fahrradrouten - durchgeführt, um das Verkehrsaufkommen, die Quelle-Ziel-Strukturen und die Nachfragepotenziale im aktuellen Zustand zu bestimmen.
Die auf die neue Brücke verlagerbaren aktuellen Verkehre betreffen den Radverkehr über die benachbarten Brücken (Treskowbrücke und Stubenraumbrücke) sowie ÖPNV-Benutzer der Relation Bahnhof Schöneweide – Firlstrasse. Darüber hinaus wurde das zukünftig entstehende Nutzerpotenzial bestimmt. Es besteht aus Schülern, die einen neuen Gymnasiumsstandort aufsuchen müssen, aus FH-Studenten auf dem künftigen Campus Schöneweide, aus Galerie- und Ausstellungsbesuchern der Reinbeck-Hallen sowie aus Personen, die aufgrund der attraktiveren Wegebeziehungen infolge der neuen Brücke zusätzliche Freizeitwege zu Fuß oder mit dem Fahrrad über die Brücke unternehmen. Diese letzte Gruppe stellt den durch die Brücke induzierten, das heisst neu enstehenden Verkehr dar. Die anderen Gruppen umfassen Personen, die aufgrund der Brücke ihre Routen zum Ziel ändern.
Als Nutzen wurden in der Studie Reisezeitersparnisse für die beschriebenen Nutzergruppen sowie die Erhöhung der Verkehrssicherheit im Fuß- und Radverkehr betrachtet. Für die Berücksichtigung anderer Nutzenkomponenten liegen für diesen Anwendungsfall noch keine methodischen Ansätze vor; diese Nutzen wurden nur verbal als qualitative Nutzen beschrieben (z.B. Intensivierung sozialer Beziehungen, städtebauliche Nutzen, geringere Luftbelastung).
Reisezeitgewinne zählen nach der Nutzen-Kosten-Philosophie zu den volkswirtschaftlichen Nutzen. Für jede Verkehrsgruppe wurde die durch den Kaisersteg mögliche Reisezeitverkürzung in Minuten bestimmt, mit der Anzahl davon profitierender FußgängerInnen und RadfahrerInnen multipliziert und auf ein Jahr hochgerechnet. Die Anzahl so ermittelter Reisezeitgewinne in Stunden wurde mit den pauschalen Kostensätzen aus den beiden Bewertungsverfahren „EWS“ (niedriger Ansatz von 4.86 Euro pro Stunde) bzw. „Standardisierte Bewertung“ (Ansatz von 7 Euro pro Stunde) multipliziert. Daraus resultierte für jede Gruppe ein unterer und oberer Wert für den Zeit-Nutzen.
Zur Quantifizierung des Sicherheitsnutzens wurde erst einmal die Unfallsituation im Rad- und Fußverkehr im Untersuchungsraum analysiert und anhand der Unfallschwere in Verbindung mit Unfallkostensätzen monetär bewertet. Eine Erhöhung der Verkehrssicherheit ergibt sich dadurch, dass ein Teil der Radfahrer und Fußgänger nicht mehr die heutigen Routen, auf denen relativ schwere Unfälle auftreten, sondern die sicheren Verbindungen über den Kaisersteg benutzen wird. Es wurde angenommen, dass die berechnete 50-prozentige Abnahme des Fuß- und Radverkehrs auf den bisherigen Routen zu einer Abnahme der Unfallzahlen und damit der Unfallkosten um 30-40% führen wird.
In der Summe ergeben sich jährliche Nutzen aus Reisezeitgewinnen im Fuß- und Radverkehr von mindestens 406.000 Euro und von 146.000 Euro aus erhöhter Verkehrssicherheit. Dem stehen jährliche Kosten pro Jahr von je 137.000 bzw. 160.000 Euro gegenüber. Es sind die auf Jahreswerte umgerechneten Investitionskosten (von total 3,27 Mio Euro), zuzüglich jährlicher Unterhaltskosten (Wartung, Instandhaltung, Erneuerungen). Damit liegt das Nutzen-Kosten-Verhältnis im ungünstigsten Fall bei 3,4 zu 1, im günstigeren Fall bei 6 zu 1, es überwiegt also deutlich der Nutzen.
Es wird gezeigt, dass Nutzen-Kosten-Untersuchungen in diesem Anwendungsfall möglich sind und teilweise auf vorhandene Grundlagen zurückgegriffen werden kann. Das verkehrliche Mengengerüst muss aber detailliert aufgearbeitet werden; auch die künftige Entwicklung von Standorten im Untersuchungsraum muss abgeschätzt werden. Forschungsbedarf besteht darin, die vielen weiteren Nutzen der Investitionen in Anlagen des Fusß- und Radverkehrs zu monetarisieren, damit sie formell in die Rechnung einbezogen werden können (z.B. städtebauliche Nutzen). Denkbar ist, neben den in dieser Studie betrachteten Routenwahleffekten auch Modal-Split-Effekte (die Verlagerung von Autofahrten auf die Füße oder das Rad) und die damit verbundenen Nutzen (geringere Fahrtkosten, positive Umweltwirkungen) zu quantifizieren. Wünschbar ist eine feinere Differenzierung der Zeitkosten nach Fahrtzwecken respektive Verkehrsgruppen.
Nutzen-Kosten-Untersuchung für den Kaisersteg. Bearb.: R. Genow, S. Dannenberg, Proj.leit. Prof. Richter, TU Berlin, Fachgebiet Strassenplanung und Strassenbetrieb. Berlin, September 2004
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin, Referate IV C und VII A
Als CD beim Auftraggeber
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Dezember 2005. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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