Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 51/2007

Ausgangslage

In einer berühmten Studie untersuchte Donald Appleyard in den 1970er Jahren den Einfluss des Verkehrs auf die Nachbarschaftsbeziehungen und das Wohlbefinden von Bürgern in San Francisco. Die vorliegende Studie orientierte sich an dem von Appleyard entwickelten „ökologischen Modell des Straßenlebens“ und führte ähnliche Untersuchungen in Straßen verschiedener Typen in der Stadt Basel durch. Gefördert wurden diese Arbeiten im Rahmen des Schweizer Nationalen Forschungsprogramms 51 „Integration und Ausschluss“. Die Sozialwissenschaftler Daniel Sauter (urban mobility research) und Marco Hüttenmoser (Dokumentationsstelle „Kind und Umwelt“), setzten damit eigene frühere Forschungen zum Mobilitätsverhalten und zur verkehrsbezogenen Sozialisation fort.

Inhalt

Empirische Grundlagen: Für die empirischen Analysen wurden drei Straßentypen in sozial durchmischten Quartieren der Stadt Basel einbezogen:

a) eine Straße mit Tempo 50 und relativ viel Verkehr (mit relativ hohem Anteil von Ausländern und jüngeren Menschen in der Wohnbevölkerung), b) eine Strasse in einer Tempo 30-Zone, c) drei Begegnungszonen, in denen mit maximal 20 km/h gefahren werden darf, Vortritt für FußgängerInnen gilt und das Kinderspiel grundsätzlich erlaubt ist. Eine dieser Begegegnungszonen wurde nach neuem Schweizer Recht eingerichtet, die beiden anderen sind ältere Wohnstraßen.

Methodik: In diesen Straßen wurde eine schriftliche Haushaltsbefragung bei netto 271 Haushalten durchgeführt (425 Personen-Fragebogen). Von Kindern liegen 49 Kinderfragebogen vor. Zweitens wurden der Aufenthalt im Strassenraum und die durchgeführten Aktivitäten mit Hilfe von Beobachtungen registriert. Drittens fand eine Zählung des motorisierten Verkehr, des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs statt.

Untersucht wurde im wesentlichen die Frage, ob der Straßentyp mit drei Merkmalsbereichen der Integration zusammen hängt:

a) mit Merkmalen, die die Wahrnehmung der Straße aus Sicht der Bewohner kennzeichnen (strukturelle Dimension); b) mit Merkmalen, die die diskursive Dimension bezeichnen: Nachbarschaftsbeziehungen, Aufenthalt im öffentlichen Raum und Bewegungsaktivitäten, Mitwirkung und Konflikte; c) mit Merkmalen der subjektiven Dimension, wie der Zufriedenheit und dem Integrationsgefühl.

Generelles Ergebnis: Im Allgemeinen sind die Integrationspotenziale um so größer, je verkehrsberuhigter und attraktiver die Straße ist, also je weniger Motorfahrzeugverkehr und Parkplätze die Straßen aufweisen und je niedriger die Fahrgeschwindigkeit ist.

Strukturelle Dimension: Die Befragten an verkehrsberuhigten Straßen fühlen sich wesentlich sicherer und nutzen den öffentlichen Raum häufiger als jene an den anderen Straßen. Sie wohnen hier auch länger als in den anderen Straßentypen.

Diskursive Dimension: Anwohner der verkehrsberuhigten Straßen haben mehr Kontakten zu NachbarInnen auf der anderen Straßenseite, was auch den besonders kontaktintensiven Familien zugute kommt. Die verkehrsberuhigte Straße wird zudem häufiger zum Verweilen genutzt, wobei es auch häufig zu Gesprächen mit Anderen kommt, sie hat also die Funktion eines öffentlichen Raums. Bei den Bewegungsaktivitäten (z.B. dem Zufußgehen) gibt es nur geringe Unterschiede zwischen den Straßen. Dagegen ist das Gefühl, an der Gestaltung der Straße mitwirken zu können, in den Begegnungszonen am stärksten und es hat sich eine Mitwirkungskultur etabliert.

Subjektive Dimension: Die Zufriedenheit mit der Straße ist in den Begegnungsstrassen am größten, während der Wunsch wegzuziehen, in der Tempo-50- und Tempo-30-Zone größer ist. Auch das Gefühl, gut integriert zu sein, ist bei Anwohnern der beiden älteren Wohnstrassen am größten.

Verhalten von Kindern: Rund die Hälfte der Kinder kann unbegleitet im Freien und auch auf der Straße spielen. Wer dies kann, tut dies auch länger als die begleiteten Kinder. Außerdem werden unter diesen Bedingungen auch häufiger organisierte Bewegungsaktivitäten besucht. Fazit der Autoren: „Die Schere zwischen bewegungsinaktiven und bewegungsaktiven Kindern öffnet sich früh, nämlich bei den Möglichkeiten im eigenen Wohnumfeld.“

Die Autoren leiten aus den Ergebnissen mehrere Forderungen ab: Strassen sollen als Lebensräume und nicht nur als Verkehrsflächen gesehen und beplant werden, z.B. durch Aufwertung von Begegnungs- und Aufenthaltsräumen für Erwachsene. Sie sprechen sich für eine Veränderung der Einsatzkriterien und der Bundes-Verordnungen zur Einrichtung dieses Straßentyps aus und fordern eine stärkere Unterstützung durch die Politik. Die Möglichkeiten zur Aneignung der Straße sollen verbessert werden, indem den Bewohnern finanzielle Mittel für die Gestaltung zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt sollen Finanzmittel vom schnellen Fernverkehr in die Aufwertung öffentlicher Räume umgeschichtet werden, denn die Menschen sind 23 Stunden nicht mobil; sie profitierten deshalb viel eher von einem attraktiven Lebensumfeld.

Bewertung

Die Studie geht fundiert und empirisch einer wichtigen, aber selten untersuchten Fragestellung nach. Die Ergebnisse sind eine gute Argumentationshilfe für ein Engagement zugunsten der Aufwertung des Straßenraums in Siedlungen. Die grundsätzlichen Empfehlungen der Studie sind einem Paradigmenwechsel in der verkehrspolitischen Diskussion verpflichtet. Diese ist immer noch auf die Schaffung von Verkehrsinfrastrukturen für den Fernverkehr fokussiert und vernachlässigt dabei Belange der Lebensqualität und der sozialen Integration am Wohnort.

 

Titel:

Integrationspotenziale im öffentlichen Raum urbaner Wohnquartiere. Zusammenfassung der Ergebnisse. Zürich, August 2006, 27 Seiten

Autoren:

Daniel Sauter (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!), Marco Hüttenmoser (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Bezug:

www.kindundumwelt.ch/de/aktuell.htm Schlussbericht erscheint in 2007.

 

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Mai 2007. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de

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