Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 77/2013
In kommunalen Mobilitätsstrategien einer Reihe von Städten wird dem Fußverkehr eine wichtige Rolle beigemessen. Selten wird dabei jedoch ein konzeptioneller Ansatz verfolgt, in dem auf lange Sicht hin Verbesserungsmaßnahmen auf der Grundlage der Anforderungen von Einwohnerinnen und Einwohnern ergriffen werden. Ein gutes Beispiel für einen solchen Ansatz stellt das vor rund zehn Jahren begonnene Konzept Nahmobilität für den Münchner Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt dar.
Es ist in eine Stadtentwicklungsstrategie eingebettet, die in mehreren Handlungsfeldern eine Stärkung der Nahmobilität verfolgt: Die seit rund 15 Jahren verfolgte Stadtentwicklungsstrategie „kompakt, urban und grün“ hat das Ziel einer Innenentwicklung und Verdichtung; ein Zentrenkonzept für Stadtteil- und Quartierzentren soll die Nahversorgung garantieren; ein flächendeckendes Parkraummanagement soll den Zielverkehr verträglich gestalten; ein auf verschiedene Adressatengruppen ausgerichtetes Mobilitätsmanagement motiviert zur Nutzung von Alternativen zum Pkw.
Der besprochene Buchbeitrag stellt die Organisation sowie den Ablauf des Stadtviertelkonzepts Nahmobilität dar und nimmt eine Bewertung der bisherigen Erfahrungen vor. Der Autor Paul Bickelbacher spricht sich in Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen, wie z.B. „aktive Mobilität“, „Basismobilität“ oder „Langsamverkehr“, für den Begriff der „Nahmobilität“ aus, denn darin soll explizit ein Quartiersbezug zum Ausdruck kommen: „Nahmobilität ist die Mobilität zu Fuß, mit dem Fahrrad oder verwandten Verkehrsmitteln wie Roller, Inline-Skates und Rollstuhl, die im Alltag in ihrer Reichweite begrenzt ist und eine aktive Form der Mobilität darstellt, die auf der eigenen Körperkraft beruht.“ Betont werden die mit der Nahmobilität einhergehenden höheren Ansprüche an das städtebauliche Umfeld und die Berücksichtigung der Aktivitätsziele im Wohn- und Arbeitsumfeld.
Als Voraussetzungen für eine attraktive Nahmobilität werden aus diesen Gründen eine Stadtplanung der kurzen Wege, attraktive öffentliche Räume und eine funktionale Wegeinfrastruktur für den Fuß- und Radverkehr angesehen. Bickelbacher schlägt vor, das Konzept der Nahmobilität künftig als dritte Säule neben dem öffentlichen Verkehr und dem motorisierten Individualverkehr zu etablieren. Die Stadt München erarbeitet aktuell einen zweistufigen Grundsatzbeschluss zur Förderung der Nahmobilität bei der Planung aller neuen Stadtquartiere.
Das Stadtviertelkonzept Nahmobilität wurde vor gut zehn Jahren entwickelt. Pilotgebiet ist der südlich der Altstadt gelegene Münchner Stadtbezirk 2 Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt (46.000 Einwohner, 440 ha, 30% Anteil der Wege der Einwohner zu Fuß, 23% mit dem Rad). Kennzeichen des Planungsprozesses ist eine intensive Beteiligung der Bevölkerung. In der Phase der Problemanalyse hatten die Bürgerinnen und Bürger mehrfach Gelegenheit, Schwachstellen zu benennen und Anregungen zur Planung abzugeben: im Rahmen einer Auftaktveranstaltung, via Internet, Fax und Telefon sowie auf mehreren Quartiersexkursionen.
Häufig genannte Verbesserungsvorschläge für den Fußverkehr betrafen dabei Querungen. Zusammen mit den von Planern identifizierten Schwachstellen wurden die Bürgervorschläge in den Entwurf eines Maßnahmenkonzepts eingebracht, der in zwei Bürgerforen diskutiert wurde. Für das zweite Forum wurden Bürgerinnen und Bürger per Zufallsauswahl aus der Einwohnermeldedatei ausgewählt, um ein heterogenes Teilnehmerspektrum zu erreichen. In diesen Foren wurden Planungsgrundsätze gewichtet und besonders aufwändige Maßnahmenvorschläge bewertet. Das Ergebnis dieser Foren wurde in einem Bürgergutachten und einem Schwachstellenplan zusammengefasst.
Daraus wurde eine Zielplanung mit anzustrebenden Zuständen für die Nahmobilität abgeleitet. Das von den begleitenden Planern zusammengestellte Konzept mit 230 Maßnahmen wurde verwaltungsintern abgestimmt; realisierbare kurz- und längerfristige Maßnahmen wurden bestimmt. Nur ein Teil davon wurde bislang umgesetzt. Im Fußverkehr ist gut ein Drittel der Maßnahmen in der geplanten oder einer ähnlichen Form realisiert bzw. eine Umsetzung ist konkret geplant.
Aus den Erfahrungen mit diesem Planungsprozess leitet Bickelbacher Empfehlungen für künftige Vorhaben ab: Stadtteilexkursionen mit Bürgerinnen und Bürgern seien besonders aufschlussreich, wenn sie mit ausgewählten Adressatengruppen (z.B. Eltern-Kind-Initiativen) stattfinden. Der Stadtbezirk wird als geeigneter Planungsraum für den Fußverkehr angesehen. Mit Blick auf die Finanzierung könne aber eine Konzentration auf einzelne Bereiche erfolgen, in denen künftig Bau- bzw. Sanierungsarbeiten stattfinden. Das Maßnahmenprogramm solle nicht nur langfristige, sondern auch sofort umsetzbare Maßnahmen enthalten.
Auf Seiten der Verwaltung müssten ausreichende personelle Kapazitäten, eine personelle Kontinuität und eine geeignete Projektstruktur unter Benennung eines federführenden Amtes geschaffen werden. Die Förderung der Nahmobilität solle mit Maßnahmen des Parkraummanagements, des Mobilitätsmanagements und des öffentlichen Verkehrs unterstützt werden.
Der Beitrag zeigt einen exemplarischen Weg auf, die Situation der Zufußgehenden langfristig unter Mitwirkung der Einwohnerinnen und Einwohner zu verbessern. Das entwickelte Konzept zur Förderung der Nahmobilität verspricht Erfolg, weil es maßstabsgerecht auf der Ebene eines Stadtbezirks angesiedelt ist, denn hier findet ein beträchtlicher Teil des Fußverkehrs der Einwohnerinnen und Einwohner statt. Und die Verfahren der Bevölkerungsmitwirkung können auf dieser Ebene praktikabel umgesetzt werden.
Das dargestellte Beispiel zeigt aber auch, in welchen Zeiträumen - zehn Jahre und länger - und mit welchem hohen organisatorischen Aufwand vorgegangen werden muss, wenn vielfältige Defizite bei den Angeboten der Nahmobilität beseitigt werden sollen. In dieser Hinsicht wären in dem besprochenen Beitrag ergänzende Angaben zu den Planungs- und den Umsetzungskosten hilfreich gewesen. Zu den Wirkungen der bereits umgesetzten Maßnahmen werden noch keine Aussagen getroffen. In Zukunft dürften Wirkungsanalysen zur Überprüfung der Zielerreichung der Vielzahl umgesetzter Einzelmaßnahmen zweckmäßig sein. Deren Ergebnis könnte weitere Argumente für die Förderung der Nahmobilität beisteuern.
Nahmobilität als Schlüssel zum Erfolg - Das Beispiel München.
Paul Bickelbacher
Beitrag in: Mager, T. J. (Hrsg., 2013): Mobilität für die Stadt der Zukunft. Köln: kölner stadt- und verkehrs-verlag. 34 Euro, www.ksv-verlag.de
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2013. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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