Ob in Talkshows, Politikerreden oder Werbeprospekten für Altersvorsorge: Der demographische Wandel ist in aller Munde. Dabei ist der Unterton oft negativ, und der Wandel „gefährdet“ zumeist, etwa unsere Renten oder Krankenversicherungen. Die Diskussion hat seit einiger Zeit auch die Verkehrsplanung erreicht, hier drohen beispielsweise dem öffentlichen Verkehr massive Einschnitte, wenn die sogenannten Captive Riders (Zwangskunden) verloren gehen. In diesem Artikel soll gegen den Trend der Versuch gewagt werden, dem demographischen Wandel zumindest eine praktische Seite abzuringen: In einer alternden Gesellschaft sind Prognosen für die mittlere Zukunft einfacher zu bewerkstelligen.
Die demographische Entwicklung einer Gesellschaft hängt von mehreren Faktoren ab, die wichtigsten lauten dabei:
Die aktuelle Pyramide ist offensichtlich bekannt, die Geburtenrate liegt seit mehreren Jahrzehnten recht verlässlich bei rund 1,4 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter, während die Lebenserwartung zwar immer wieder leicht steigt, sich aber in der jüngeren Vergangenheit dennoch als recht gut vorhersehbar erwiesen hat. Setzt man nun eine halbwegs stabile Situation in Deutschland voraus, also z.B. keine Kriege oder Epidemien, so ist die eigentliche Unbekannte in der Prognose die Migration. Diese hängt von mehreren unsicheren Größen ab, unter anderem von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland sowie in den Quell- und Zielländern.
Trifft man unterschiedliche Annahmen für Migration, Lebenserwartung und Geburtenrate, so sind verschiedene Vorhersage-Szenarien denkbar. In der Mehrheit der Szenarien ist bis 2050 mit einer deutlichen Abnahme der Bevölkerung zu rechnen. Das eigentliche Problem liegt jedoch nicht in der Schrumpfung, sondern in der Alterung der Bevölkerung. Abbildung 1 zeigt diese Entwicklung im Mittleren Szenario des Statistischen Bundesamtes: (1) Haben zur Jahrtausendwende die über 50jährigen noch rund ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht, so stellen sie 2050 bereits etwa die Hälfte. Umgekehrt sinkt der Anteil der Minderjährigen kontinuierlich, somit bricht auf dem Land dem öffentlichen Verkehr eine wichtige Kundengruppe weg, die Schülerverkehre, was ein zufriedenstellendes Angebot dort noch schwieriger machen dürfte.
Wo bleibt also die gute Nachricht für den Verkehrsplaner? Betrachtet man in Abbildung 1 beispielsweise den Balken für 2030, so werden lediglich rund 20% der Bevölkerung erst in den kommenden 23 Jahren geboren werden – der Rest ist eine gealterte Fassung der heutigen Bevölkerung. Nimmt man ferner an, dass ein erheblicher Teil des Mobilitätsverhaltens bereits in der Kindheit und Jugend geprägt wird, dann können schon heute recht zuverlässige Vermutungen über das Mobilitätsverhalten vieler Bürger im Jahr 2030 getroffen werden. Wenn wir also „Mobilitätsbiographien“ (2) verstehen, so begreifen wir auch einen erheblichen Teil der zukünftigen Verkehrsnachfrage und können somit die Prognosegüte verbessern.
Abbildung 1 „Entwicklung der Altersklassen“
Interessant ist hierfür zuerst die Entwicklung zukünftiger PKW-Verfügbarkeit. Quelle dazu sind eigene Auswertungen der KONTIV 1982 und der MiD 2002 – beides Querschnittserhebungen, in denen mehrere Zehntausend Personen zu ihrem Mobilitätsverhalten befragt wurden. (3) Betrachtet man die Entwicklung der Führerscheinzahlen bei den Frauen, so ergibt sich der Verlauf für 2002 grob aus einer Verschiebung der Kurve von 1982 um 20 Jahre nach rechts. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Kohorteneffekt, die Führerscheinzahlen erklären sich also weniger durch absolutes Alter denn durch das jeweilige Geburtsjahr. Verschiebt man die Kurve nun weitere 20 Jahre, dann werden die Seniorinnen der Zukunft zumeist den Führerschein haben. Bei den Männern ist dies schon heute weitgehend der Fall (siehe obere Kurve).
Der Führerschein in der Brieftasche gewährleistet dabei nicht unbedingt auch den PKW im Haushalt – interessant sind in diesem Zusammenhang besonders die jungen Erwachsenen, hier klafft eine gewisse Lücke zwischen Fahrerlaubnis und verfügbarem Fahrzeug. Bemerkenswert ist in dieser Gruppe ferner die Entwicklung der PKW-Verfügbarkeit: Während diese zwischen 1982 und 2002 anstieg, kann in der jüngeren Vergangenheit ein leichter Rückgang der Motorisierung bei den jüngeren Erwachsenen festgestellt werden.(4)
Neben der PKW-Verfügbarkeit ist von besonderem Interesse die Entwicklung des gemessenen Verhaltens. Dazu wurden wieder die KONTIV 1982 sowie die MiD 2002 ausgewertet, ohne Berücksichtigung der Fernreisen (hier definiert als Wege über 100 Kilometer), um statistische Verzerrungen der Alltagsmobilität zu vermeiden. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der zurückgelegten Kilometer (in allen Verkehrsmitteln) abhängig vom Alter bei Frauen. Hierbei stechen drei Dinge ins Auge:
Abbildungen „Verkehrsleistung pro Person und Tag - Männer und Frauen“
Bei Männern zeigt sich ein anderer Verlauf der Mobilitätsentwicklung: Während auch hier zur Volljährigkeit ein starker Sprung zu beobachten ist, bleibt die Mobilitätsnachfrage bis jenseits der 50 auf einem hohen Niveau und beginnt erst dann zu sinken. Auffallend außerdem: Die Kurven von 1982 und 2002 liegen nicht sonderlich weit auseinander, in einzelnen Altersklassen lag in den achtziger Jahren die Nachfrage sogar oberhalb der Kurve für 2002.
Als weitere Vergleichsgröße bietet sich die Zahl der Wege an, unabhängig von ihrer Länge. Während auch hier leichte biographische Effekte beobachtet werden können, so ist die Wegezahl doch deutlich schwächer beeinflusst von Untersuchungsjahr, Alter und Geschlecht. Die Varianz der zurückgelegten Kilometer erklärt sich somit vor allem durch unterschiedliche Weglängen.
Zum Abschluss sollen zwei Ereignisse näher beleuchtet werden, welche bei Betrachtung der Abbildung 2 und Abbildung 3 anscheinend großen Einfluss auf die Verkehrsnachfrage haben: Führerscheinerwerb und Rentenalter. Dazu wird das Deutsche Mobilitätspanel untersucht. (5) In dieser Erhebung werden Personen bis zu drei Jahre in Folge befragt; treten zwischen den Befragungen Änderungen ein, können deren Auswirkungen auf das Verhalten analysiert werden. Im Datensatz von 1994 – 2004 können insgesamt 101 Personen identifiziert werden, welche zwischen zwei Jahren den Führerschein bestehen, ebenso viele gehen zwischen zwei Jahren in Rente.
Der Führerscheinerwerb geht dabei einher mit einer deutlichen Steigerung der Mobilität: Die Probanden legen durchschnittlich rund fünf Kilometer pro Tag mehr zurück, die PKW-Nutzung steigt sogar um rund 12 Kilometer pro Person und Tag. Mit dem neuen Führerschein sind die Probanden also nicht nur mehr unterwegs, sie verlagern auch massiv von anderen Verkehrsmitteln aufs Auto.
Nicht so deutlich sind dagegen die Effekte bei Renteneintritt: Der Rückgang der gesamten Mobilität liegt lediglich bei gut 2 Kilometer pro Tag, er ist ferner nicht „signifikant“, kann also statistisch nicht von Zufallsschwankungen unterschieden werden. Es kann jedoch ein moderater und signifikanter Rückgang der PKW-Nutzung festgestellt werden: Neu-Rentner legen durchschnittlich 4 Kilometer pro Person und Tag weniger mit dem Auto zurück.
Hirtz hat am Institut für Verkehrswesen zum Renteneintritt weitere Untersuchungen vermittels der Daten des Deutschen Mobilitätspanels durchgeführt und unter anderem festgestellt: Die Verhaltensänderung hängt signifikant vom Alter bei Renteneintritt und dem Umfang der Erwerbstätigkeit ab, nicht jedoch vom Geschlecht. Im Laufe der Rente scheint es eine Art nachgelagerten Effekt der Mobilitätsabnahme zu geben, so geht die Verkehrsnachfrage deutlich zurück, wenn z.B. der Partner stirbt.(6)
In einer alternden Gesellschaft bietet das Verständnis der Verkehrsnachfrage über ein Menschenleben („Mobilitätsbiographie“) Vorteile für die Prognose zukünftiger Entwicklungen der Verkehrsnachfrage. Auffallend sind vor allem zwei Effekte: Der starke Anstieg der zurückgelegten Kilometer beim Führerscheinerwerb sowie der Rückgang ab einem bestimmten Alter – bei Frauen anscheinend deutlich früher als bei Männern. Dieser Rückgang findet nicht notwendig zeitgleich mit Renteneintritt statt, sondern ist häufig nachgelagert. Deutlich unabhängiger von Alter, Geschlecht und Beobachtungsjahr ist die Zahl der zurückgelegten Wege.
Auch wenn die Seniorinnen und Senioren der Zukunft den Führerschein haben, sprechen die Ergebnisse dafür, dass ab einem gewissen Alter gleichwohl die Verkehrsnachfrage zurückgeht. In einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft scheint es somit wahrscheinlich, dass die Verkehrsleistung schon mittelfristig eher zurückgeht als steigt.
Dieser Artikel von Peter Ottmann ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2007, erschienen.
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