Senioren zu Fuss

Ältere Menschen rücken im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheitsarbeit in Deutschland immer mehr in den Vordergrund. Die Folgen von Straßenverkehrsunfällen mit Beteiligung von Senioren werden von Unfallforschern als „alarmierend“ bezeichnet. Allerdings ist die ältere Generation zum einen im Gegensatz zur Zielgruppe Kinder nicht mehr über eine Pflicht-Institution (Kindergarten, Schule) anzusprechen, zum anderen will sie in der Regel zum Thema Verkehrssicherheit auch nicht gerne Ratschläge annehmen. Die Aussage „Ich hatte noch nie einen Unfall“ wird zum schlagenden Argument und möglicherweise bei fehlender Aufmerksamkeit über die eigene körperliche Entwicklung zur Falle. FUSS e.V. hat mit www.senioren-sicher-mobil.de eine neue Website ins Netz gestellt, in der herausgearbeitet wird, dass Verkehrssicherheitsarbeit zukünftig inhaltlich und auch organisatorisch breiter aufgestellt werden muss.

Neben den Kindern gehören ältere Menschen zu den am stärksten betroffenen Opfern von Verkehrsunfällen. Im Jahr 2008 waren etwa 20 % der Einwohner in Deutschland 65 Jahre alt oder älter; dagegen waren knapp ein Viertel aller getöteten VerkehrsteilnehmerInnen, über die Hälfte der getöteten FußgängerInnen sowie die Hälfte der getöteten RadfahrerInnen im Seniorenalter. Seit 1996 steigt die Verunglückten-Zahl im Vergleich zum gesamten Unfallgeschehen überproportional an. Die demografische Entwicklung ist bekannt. Wenn jetzt nicht intensiv gegengesteuert wird, könnte die Zahl der Straßenverkehrsopfer wieder zunehmen, obwohl die europäischen Staaten sich zum Ziel gesetzt haben, von 2010 bis 2020 die Zahl der Verkehrstoten in Europa zu halbieren.

Stolperstein: „Gesundheit“

Auch deshalb hat der Fachverband Fußverkehr Deutschland FUSS e.V. im Jahr 2010 von der Verkehrslenkung Berlin (VLB) der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin den Auftrag bekommen, die gemeinsame Website der Unterzeichner der Berliner Charta für die Verkehrs­sicherheit www.berlin-sicher-mobil.de durch Angebote und Hintergrundinformationen im Bereich der Senioren-Verkehrssicherheitsarbeit anzureichern. Dies erst, nachdem der Verband den „Stolperstein“ überwand und dazu bereit war, im Förderantrag aus der Formulierung „Verkehrssicherheit, Gesundheit und Mobilität bis ins hohe Alter“ den Begriff „Gesundheit“ herauszunehmen. Dies sei nicht Aufgabe der Stadtentwicklung, sondern die der Senatsverwaltung für Gesundheit.

Interessanterweise kamen aufgrund der Nachfragen insbesondere aus den Bezirksverwaltungen Hinweise zur Gesunderhaltung und zu Bewegungs­trainings als Angebote zur Verbesserung der Verkehrssicherheit von älteren Menschen. Aufgenommen wurde davon in der gemeinsamen Website bisher nichts, es wird allerdings auf die Informationen auf der Website www.senioren-sicher-mobil.de hingewiesen, die allein in der Verantwortung des FUSS e.V. liegt. Dies soll hier nicht „nachtragend“ notiert sein, sondern beispielhaft aufzeigen, dass es immer auch eine Aufgabe von Verbänden sein muss, themenübergreifende Verknüpfungen herzustellen, wenn Verwaltungen die Hände gebunden sind oder es auch nur gefühlte Probleme mit einer die Verwaltungsgrenzen überschreitenden Herangehens­weise gibt.

Aus der Mitte Juli 2011 vom Berliner Senat verabschiedeten „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ wird hervorgehen, dass das Gehen die Gesundheit verbessert, nicht aber, dass die Gesunderhaltung eine der Grundlagen ist, im Straßenverkehr zu überleben - es sei denn, man bewertet die Aussage „sichert die Mobilität bis ins hohe Alter“ auch als eine Verkehrssicherheitsaussage. Insgesamt sind das vage Andeutungen, die kaum dazu führen werden, bei Verkehrssicherheitskonzepten z.B. das Thema Erhalt der Beweglichkeit als ein echtes Standbein einzufügen. Es scheint mitunter so, als ob die Begriffe „Verkehrssicherheit“ und „Gesundheit“ verwaltungstechnisch bedingt aus zwei Welten sind. Das ist insbesondere im Hinblick auf die ältere Generation absurd.

Der Konflikt ist formalistisch, weil wohl niemand daran zweifelt: Ein Mensch mit Problemen bei der Überwindung von Kanten und Stufen, wie z.B. an Bordsteinkanten, ist deutlich mehr gefährdet im Straßenverkehr als ein Mensch, der darüber überhaupt nicht nachdenkt und durch seine Laufbewegung tatsächlich fast immer am Bordstein so ankommt, dass kein Zwischenschritt notwendig ist. (Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Nein, gut so. Dann gehören Sie noch zu den Menschen, bei denen es mit automatischer Steuerung funktioniert.)

Durch Bewegung Mobilität erhalten

Im bundesdeutschen Rahmen stehen nicht nur „harte“ Maßnahmen wie technische Weiterentwicklungen am Fahrzeug und Verbesserungen der Infrastruktur im Fokus der Anstrengungen, sondern vor allem Gesundheit, Ernährung und Bewegung. Zur Förderung dieser Faktoren für Mobilität hat sich das Bundesministerium für Gesundheit bereits 2007 im Eckpunktepapier „Gesunde Ernährung und Bewegung – Schlüssel für mehr Lebensqualität“ positioniert. Dort heißt es:

„Im Alltag der Menschen, im Wohnum­feld, am Arbeitsplatz, in Kindergärten und Schu­len oder in Seniorenheimen, müssen ausreichend attraktive Bewegungsmöglichkeiten vorhanden sein. Das Wohnumfeld muss so gestal­tet sein, dass es genügend Bewegungsanreize schafft. Dazu zählen abwechslungsreiche Spiel­plätze, sichere und reizvolle Fuß- und Fahrrad­wege, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten und attraktive Parks. Auch müssen Sport- und ande­re Bewegungsangebote leicht erreichbar sein.“

Eines der zentralen Ziele ist es, „bis 2010 … das Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern.“ Im Eckpunktepapier steht allerdings nicht, dass diese Maßnahmen auch zur Erhöhung der „Verkehrssicherheit“ beitragen würden, weil das Ministerium mit einer solchen Wortwahl wohl beim zuständigen Bundesminister für Verkehr anecken würde.

Übrigens: Im Rahmen der Kampagne „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ wird deutlich hervorgehoben, dass „Strukturen geschaffen [werden müssen] die es Menschen ermöglichen, einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu führen.“ Bedauerlicherweise sind die Träger, das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und das Ministerium für Gesundheit für Infrastrukturmaßnahmen, nicht zuständig. Vom Verkehrsministerium BMVBS ist nicht bekannt, ob sie Kommunen in Vorhaben unterstützen, diese Strukturen zu schaffen.

Verkehrssicherheitsberatung durch Ärzte

Im Oktober 2010 legte nun der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seiner Stellungnahme ein Gesamtkonzept zur Erhöhung der Straßenverkehrssicherheit in Deutschland vor. Im Hinblick auf die zunehmende Teilnahme älterer Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer im Straßenverkehr wird darin ausgeführt:

„Da der Alterungsprozess sehr individuell verläuft und Defizite durch Erfahrung und Anpassung des Verkehrsverhaltens kompensiert werden können, andererseits jedoch die Einsicht in zurückgehende Leistungsmöglichkeiten im Alter vielfach schwerfällt, ist eine zielgruppengerechte und persönliche Beratung von zentraler Bedeu­tung. Älteren Kraftfahrern sollten Anreize gegeben werden zur verstärkten Prüfung ihrer Leistungsfähigkeiten. Gestärkt werden sollte die Rolle der Ärzte in der Verkehrssicherheitsberatung Älterer, da sie von den Senioren als kompetente und vertrauenswürdige Ansprechpartner geschätzt werden.“ Auch hier wird also im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheitsarbeit nicht der Begriff „Gesundheit“ verwendet, aber immerhin mit den Ärzten der Gesundheitssektor angesprochen.

Übrigens: Diese Verknüpfung reifte im Zusammenhang mit der Erarbeitung des „Weißbuches zur Straßenverkehrssicherheit 2011-2020“ der Europäischen Kommission, weil dort die deutsche Bundesregierung die Abgabe des Führerscheins aus Altersgründen verhindern wollte. Die Einbindung des Gesundheitssektors in die Verkehrssicherheitsberatung war also nicht als allgemeine und logische Verknüpfung gedacht, sondern als weicher Kompromiss für eine ganz individuelle Entscheidung über die eigene Verkehrstüchtigkeit.

Themenverknüpfung notwendig

Aufgrund der eklatanten Zunahme der weltweit im Straßenverkehr getöteten Menschen (2004: 1,27 Mio., Prognose 2030: 2,4 Mio. Straßenverkehrstote pro Jahr) schlug die Weltgesundheitsorganisation der UN (WHO) 2009 „in einem weiter greifenden Ansatz die Koordination der Verkehrsunfallverhütung mit der Verletzungs- und Schadensprävention in anderen Lebensbereichen […] vor.“ (z.B. Community Safety-Programme). Wesentlich ist bei diesem Ansatz die Kooperation mit Institutionen des Gesundheitswesens. Im Dezember 2009 wurde z.B. das Land Brandenburg als erstes deutsches Bundesland als Mitglied des internationalen Netzwerkes der „Safe Communities“ (Sichere Gemeinden) der Weltgesundheitsorganisation WHO zertifiziert, in dem auch der FUSS e.V. mit Verkehrssicherheits-Projekten integriert ist (vgl. Meldung in der mobilogisch 1-10).

Mindestens ein „E“ zu wenig

Im Alter zwischen 50 und 60 Jahren verdrängen oder erkennen die meisten Menschen ihre ersten Anzeichen körperlicher Alterungsprozesse deutlicher, als dies in den Lebensjahren davor war. Häufig beginnt das mit dem Nachlassen der Seh- (z.B. im Nahbereich, Blendempfindlichkeit, etc.) oder Hörfähigkeit (z.B. Probleme mit der Trennung gleichzeitiger unterschied­licher Geräuschquellen). Auch ermüden Körper schneller und die Aufmerksamkeit lässt eher nach. Mit Hilfsmitteln (Lesebrille, Hörgerät, Gehhilfen, Veränderungen am Fahrzeug) oder Verhaltensänderungen (z.B. weniger bei Dunkelheit unterwegs, bedächtigere Geschwindigkeiten, usw.) lassen sich viele dieser ganz natürlichen Veränderungen ausgleichen. Durch mehr Bewegung in der Freizeit und im Alltag (z.B. Treppen steigen, zu Fuß gehen, Fahrrad fahren) kann diese Entwicklung entschleunigt (Prävention) oder teilweise sogar rückgängig gemacht (Therapie) werden.

Diese Zusammenhänge werden auch in der zur Verminderung oder Behebung von Sicherheitsmängeln in allen Lebens- und Arbeitsbereichen verwendeten sogenannten „3-E-Formel“ weitgehend ausgeblendet:

  • Planerische und technische Maßnahmen (engineering),
  • legislative Maßnahmen, Kontrolle und Überwachung (enforcement) und
  • erzieherische und kommunikative Maßnahmen (education).

Wenn ich das richtig sehe, ist es u.a. Bernhard Schlag (Verkehrspsychologe TU Dresden) zu verdanken, mit den zusätzlichen Begriffen

  • Anreizsysteme (encouragement) und
  • Kosten (economy)

die Formel auf die „5-E der Verkehrssicherheitsarbeit“ erweitert zu haben. Die beiden „E“s waren zwar zusammen gefasst, aber da „Anreiz“ und „Kosten“ wie Zuckerbrot und Peitsche sind, sollen sie hier auch getrennt erscheinen. Mit diesen Begriffen wurde anerkannt, dass die Verkehrsmittelwahl einen entscheidenden Einfluss auf die Verkehrssicherheit hat und das zum Umsteigen auf den verkehrssicheren Umweltverbund motiviert werden kann.

Die Begriffserweiterung wird sich wahrscheinlich in unserer Generation nicht mehr durchsetzen, weil so etwas seine Zeit braucht und weil die Werbebranche uns erzählt, dass 3 Begriffe das Optimum sind, auf die man alles in dieser Welt zusammenfassen können muss (siehe „quadratisch. praktisch. gut“). Und dennoch wurde der Erhalt der Beweglichkeit und Gesundheit durch die Verkehrsteilnehmer selbst bisher nicht als „Maßnahme“ aufgenommen, weil die Bürger allenfalls als Zielgruppe, aber kaum als eigenständig handelnde Wesen betrachtet werden. Darüber hinaus fand sich vielleicht auch kein weiteres „E“, denn selbstverständlich muss auch dies in englisch ausdrückbar sein. Dazu fand ich den Satz „A bit of exercise will do you good“ (Etwas Bewegung wird dir gut tun.) und spätestens damit wird die „6-E-Formel für die Verkehrssicherheit“ in die Geschichte eingehen mit zusätzlich:

  • Körperliche Betätigung, Bewegung (exercise).

Damit ist möglicherweise ein ernsthaftes Versäumnis bisheriger Verkehrssicherheitsstrategien zu beseitigen.

Wer bis ins hohe Alter mobil sein, sowie Eigen­unfälle (Stürze) und Straßenverkehrsunfälle ver­meiden möchte, sollte sich über die relevanten Verkehrsregeln für das möglichst konfliktfreie Miteinander informieren, einige Verhaltens-Tipps beherzigen, welche für die an sich selbst festgestellten Veränderungen relevant sind und gleichzeitig möglichst viel dazu beitragen, um körperlich und geistig fit zu bleiben. In den gewonnenen Jahren sollte man die Verantwortlichen bedrängen, die beiden anderen „E“s umzusetzen, d.h. sichere Infrastrukturen zu schaffen und die Einhaltung der Sicherheitsregeln auch durchzusetzen.

Fazit

In der Medienberichterstattung über Verkehrsunfallfolgen ist es nach wie vor verpönt, darüber zu sprechen oder zu schreiben, dass die Betroffenen damit ihre Gesundheit eingebüßt haben, also krank sind (sie wurden „verletzt“ oder „schwerverletzt“) oder gar tot („sie erlagen ihren Verletzungen“). Allenfalls in der wissenschaftlichen Literatur findet man Hinweise und Belege dafür, dass die Verkehrsunfallfolgen unser Gesundheitssystem ganz beträchtlich belasten. Dennoch hat die Verkehrssicherheitspolitik in der öffentlichen Diskussion offenbar recht wenig mit der Gesundheitspolitik zu tun; die Themen sind politisch, verwaltungsmäßig und auch von den Programmen her weitestgehend getrennt. Das ist nicht nachvollziehbar und fatal, insbesondere dann, wenn man sich Gedanken über die Verkehrssicherheitsarbeit macht und dabei die Bemühungen der Gesundheitsprävention nicht einbezieht.

Dabei ist das Risiko, an einem Unfall beteiligt zu sein, ganz entscheidend von dem physischen und psychischen Zustand der Unfallbeteiligten abhängig. Den Verkehrsteilnehmern wird zwar empfohlen, den Beipackzettel ihrer Medikamente genau zu lesen, ob sie aber fit sind und sich fit halten, wird nicht gefragt. Die Bewegung als eine der wesentlichen Beiträge zur Gesundheits-Prävention wird in der Regel zur Vorbeugung von Krankheiten, zur Verminderung der Sturzgefahr oder gegen die Fettleibigkeit empfohlen, nicht aber auch als ein Beitrag zur Minderung des Risikos, an einem Verkehrsunfall beteiligt zu sein. So wird auf der einen Seite ein Vortrag über die Gefahren im Straßenverkehr, bei dem die Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen, Kaffee trinken und Kuchen essen als Verkehrs­sicherheitsarbeit angesehen. Auf der anderen Seite aber zum Beispiel nicht die Gymnastik, die letztlich dazu führen kann, dass ein älterer Mensch im Stande ist, seinen Kopf so zu wenden, dass er später am Straßenrand stehend in Blickkontakt mit den Fahrerinnen und Fahrern des rollenden Verkehrs treten kann.

In Kürze

FUSS e.V. liefert mit seiner neuen Website www.senioren-sicher-mobil.de nicht nur eine umfassende Hintergrundinformation, sondern fragt z.B. wie hoch das Verkehrsunfall-Risiko für Senioren ist, ob sie häufiger Unfälle verursachen als anderen Generationen oder welchen Stellenwert die Mobilität für ältere Menschen hat. Da in mobilogisch Infrastrukturmaßnahmen im Sinne aller nichtmotorisierten Verkehrs­teilnehmer ein kontinuierliches Schwerpunktthema sind, wurde in diesem Beitrag die Fragestellung behandelt, ob der Erhalt der Gesundheit und der Beweglichkeit nicht eine zentrale Fragestellung auch im Rahmen der Verkehrssicherheitsarbeit sein müsste.

Info:

www.senioren-sicher-mobil.de erläutert die Begriffe „Senioren“, „Sicherheit“ und Mobilität“ und vermittelt Hintergrundwissen über die Verbesserung der Verkehrssicherheit, den Zusammenhang von Bewegung und Gesundheit mit der eigenen Sicherheit, seniorenfreundliche Infrastrukturmaßnahmen, die Verkehrsmittelwahl, das Verkehrsverhalten älterer Menschen, Verhaltens-Tipps für die Teilnahme am Straßenverkehr sowie eine Auswahl von Projekten und Angeboten für Senioren und Multiplikatoren deutschlandweit und in den Bundesländern.

Die Website bietet eine Zusammenstellung politischer und planerischer Zielvorgaben und Konzepte (Beschlüsse, politisch/strategische Ziele, Verwaltungsrichtlinien, etc.), auf die Sie Ihre Gemeinde, Stadt, Ihr Bundesland oder die Bundesregierung immer wieder hinweisen sollten. Ein Literatur-Register rundet die Informationen ab. Auf der Website finden Sie alle Quellenangaben zu diesem Beitrag.

 

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2011, erschienen.

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Entwicklung zielgruppenspezifischer Mobilitätsangebote für Senioren

Aufgrund der Alterung der Gesellschaft rückt die Gruppe der SeniorInnen zunehmend in den Blickpunkt der Mobilitätsforschung; von Jüngeren unterscheiden sie sich im Verkehrsverhalten insbesondere aufgrund der wegfallenden Berufstätigkeit sowie altersbedingt zunehmenden körperlichen Einschränkungen. Gleichzeitig führen eine höhere Pkw-Verfügbarkeit und veränderte Lebensstile der so genannten „jungen Alten“ zu höheren Mobilitätsraten gegenüber früher. Unterschiede innerhalb der wachsenden Gruppe der älteren Menschen zu erforschen und aufzuzeigen, war das Ziel des 2009 begonnenen ILS-Projekts „Segmentierung von Senioren zur Entwicklung zielgruppenspezifischer Mobilitätsangebote“.

Während SeniorInnen derzeit einen höheren Anteil ihrer Wege zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen als jüngere Erwachsene (z. B. BMVBS 2010), werden in Zukunft immer mehr ältere Menschen – insbesondere Frauen – einen Führerschein besitzen und über einen Pkw verfügen können. Dies wird schon heute bei einem Vergleich der verschiedenen Altersgruppen von SeniorInnen deutlich: bei den über 80-Jährigen zeigen sich noch sehr ausgeprägte Geschlechterunterschiede im Führerscheinbesitz, in den jüngeren Segmenten sind diese deutlich geringer.

Obwohl eine negative Korrelation zwischen dem Lebensalter und der Anzahl der zurückgelegten Wege besteht (z. B. Páez et. al., 2007) sind ältere Menschen aufgrund eines veränderten Lebensstils und besserer Gesundheit mobiler. Dabei nehmen insbesondere Freizeit- und soziale Aktivitäten zu.

Im Hinblick auf die Verkehrssicherheit und die Umwelt hat zu erwartende wachsende Anzahl älterer Pkw-FahrerInnen Konsequenzen. Programme zur Verbesserung des Fahrvermögens und zur Steigerung des Bewusstseins für die speziellen Anforderungen, denen sich SeniorInnen beim Fahren gegenüber sehen werden genauso entwickelt wie Automobile, die den besonderen Bedürfnissen älterer Menschen gerecht werden. Benötigt werden jedoch auch Maßnahmen, die eine umweltfreundliche Alternative zum Pkw darstellen und dennoch die Mobilitätsoptionen verbessern. Dabei stellt der barrierefreie Zugang zum ÖV zwar eine notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Bedingung dar. Damit die Entwicklung und Implementierung von (neuen) Mobilitätsangeboten den zunehmend heterogenen Bedürfnissen älterer Menschen auch gerecht werden kann, bedarf es einer genauen Differenzierung der möglichen Zielgruppen.

Empirische Grundlage

Auf Grundlage einer telefonischen Befragung von 1.500 älteren Menschen (ab 60 Jahre) aus NRW wurden das Mobilitätsverhalten und potenzielle Einflussfaktoren hierauf erhoben. Erfasst wurden dabei sowohl Aspekte der persönlichen Lebenssituation als auch räumliche und infrastrukturelle Voraussetzungen sowie mobilitätsbezogene Einstellungen.

Das Mobilitätsverhalten wurde erhoben, indem die SeniorInnen zu 16 möglichen Arten von Aktivitäten (Freizeitaktivitäten, Erwerbs-/ Reproduktionsarbeit, Einkaufen/private Erledigungen), zu deren Häufigkeit und zur jeweiligen Verkehrsmittelwahl befragt wurden.

Die TeilnehmerInnen waren im Durchschnitt 71,4 Jahre alt; knapp 60 % waren Frauen. Die Stichprobe ist repräsentativ für die ältere Bevölkerung im Hinblick auf soziodemografische Daten wie Geschlecht und Siedlungsstruktur der Gemeinden. Das Bildungsniveau ist überdurchschnittlich hoch (26,9 % Abitur/Studium), was sich auf eine generell erhöhte Teilnahmebereitschaft höher gebildeter Menschen an wissenschaftlichen Studien zurückführen lässt.

Mobilitätstypen älterer Menschen

Auf Grundlage der Befragung konnten in zwei Schritten vier verschiedene Mobilitätstypen herausgearbeitet werden. Zunächst wurden die Faktoren mit der höchsten Vorhersagekraft in Bezug auf das Mobilitätsverhalten ermittelt. Im zweiten Schritt wurden auf Basis dieser stärksten Einflussfaktoren Clusteranalysen durchgeführt, deren Ziel es war, weitgehend homogene Teilgruppen älterer Menschen zu bilden, die sich in den für das Mobilitätsverhalten relevanten Merkmalen – und damit auch im Mobilitätsverhalten selbst – möglichst stark unterscheiden. Die resultierenden Mobilitätstypen (Segmente) wurden „Pkw-Fixierte“ (Anteil: 19%), „Junge wohlhabende Mobile“ (27%), „Selbstbestimmt Mobile“ (29%) und „ÖV-Zwangsnutzer“ (25%) genannt.

Die Mobilitätstypen - Einstellungen und ihr Mobilitätsverhalten

  • Pkw-Fixierte

Die „Pkw-Fixierten“ verfügen häufig über einen privaten Pkw und bewerten diesen am positivsten im Hinblick auf dessen affektiv-symbolische Funktion. Bemerkenswert ist ihre negative Bewertung gegenüber dem Umweltverbund. Der Pkw-Anteil ihrer Wege ist im Vergleich zu den anderen Mobilitätstypen am höchsten, der Anteil der Fuß- und Fahrrad-Wege am niedrigsten. Drei Viertel von ihnen fahren nie mit dem Fahrrad; über die Hälfte fährt nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln (vgl. Abb. 3 und 4). Pkw-Fixierte sind häufig von ihrem Pkw abhängig, da sie in der Regel weniger zentral wohnen oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten haben, öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu nutzen.

Interessant ist, dass sie trotzdem keine überdurchschnittlich große Distanz pro Jahr mit dem Auto zurücklegen, was damit zusammenhängen könnte, dass sie sich in eher kleineren sozialen Netzen bewegen und dass sie verglichen mit den anderen Gruppen weniger aktiv sind. 57 % der Pkw-Fixierten sind Frauen; das entspricht in etwa der Verteilung in der Gesamtstichprobe. Sie sind mit 74,5 Jahren überdurchschnittlich alt und haben häufiger eine ihre Mobilität einschränkende Behinderung: 45 % zu 23 % in der Gesamtstichprobe, auch schätzen sie ihren Gesundheitszustand schlechter ein. Sie weisen ein geringeres Bildungsniveau und Nettoeinkommen auf und leben häufiger allein. Insgesamt zeigen sie die geringsten Zufriedenheitswerte bezüglich ihrer Mobilitätsmöglichkeiten.

  • Junge wohlhabende Mobile

Fast alle „Jungen wohlhabenden Mobilen“ verfügen über einen Pkw und mehr als die Hälfte von ihnen legt damit jährlich über 10.000 km zurück. Charakteristisch für sie ist ein hohes subjektives Mobilitätsbedürfnis. Sie wohnen eher am Stadtrand oder in den Vororten. 20 % aus dieser Gruppe sind noch berufstätig (Gesamtstichprobe 9 %) und bezüglich ihrer Freizeitaktivitäten sehr aktiv. Sie erleben ihre ÖV-Nutzungsmöglichkeiten als eingeschränkt und nutzen öffentliche Verkehrsmittel auch entsprechend selten. Die anderen Verkehrsmittel bewerten sie jedoch durchschnittlich. Im Sommer nutzen mehr als 60 % das Fahrrad mindestens einmal wöchentlich, allerdings eher für Freizeit- als für Arbeitswege (vgl. Abb. 4).

Dem Zu-Fuß-Gehen wird von den „Jungen wohlhabenden Mobilen“ eine eher geringe Bedeutung beigemessen. Der Männeranteil ist in dieser Gruppe überdurchschnittlich hoch (51 % zu 41 %) und sie sind mit durchschnittlich 68 Jahren die jüngste Gruppe. Ihr Nettoeinkommen und Bildungsniveau liegen deutlich über dem der anderen Gruppen. Sie leben häufig (73 %) in festen Partnerschaften, nur zu einem kleineren Anteil (19 %) allein. Zugleich ist dieses Segment für neue Kommunikationsmittel am ehesten aufgeschlossen: 90 % dieser Gruppe verfügen über ein Mobiltelefon, 72 % über einen Internetanschluss.

  • Selbstbestimmt Mobile

Sie ähneln in vielerlei Hinsicht den „Jungen wohlhabenden Mobilen“. Sie empfinden jedoch keine ausgeprägte Notwendigkeit, ständig mobil zu sein. Sie haben einen guten Zugang sowohl zum Pkw als auch zum ÖV und weisen eine durchschnittliche Pkw-Bewertung auf. Dabei fasst Pkw-Bewertung zusammen, wie positiv die Aspekte Erlebnis, Autonomie und Privatheit beim Autofahren bewertet werden.

Die „Selbstbestimmt Mobilen“ weisen die positivste Einstellung gegenüber dem Radfahren und Zu-Fuß-Gehen auf. Von ihnen wird kein Verkehrsmittel ausgeschlossen und sie sind auch von keinem Verkehrsmittel abhängig. Sie sind, wie die „Jungen wohlhabenden Mobilen“, eher Männer, jünger als der Durchschnitt und leben häufiger in Paarhaushalten. Sie erfreuen sich einer relativ guten Gesundheit, haben nur selten ein Handicap und sind ziemlich aktiv. Die „Selbstbestimmt Mobilen“ erreichen die höchsten Zufriedenheitswerte bezüglich ihrer Mobilitätsmöglichkeiten und unterscheiden sich in dieser Hinsicht signifikant von den drei anderen Gruppen.

  • ÖV-Zwangsnutzer

„ÖV-Zwangsnutzer“ verfügen am seltensten über ein Auto; nur ein Drittel von ihnen besitzt überhaupt einen Führerschein. Ihre Einstellung dem Pkw gegenüber ist vergleichsweise negativ, während das Radfahren und das Zufußgehen eher durchschnittlich beurteilt werden. Der Anteil der Fußwege ist bei ihnen mit einem Drittel bis zur Hälfte (je nach Wegetyp) am höchsten. Sie absolvieren anteilsmäßig die wenigsten Wege mit dem Pkw und die meisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Mehr als die Hälfte aller Befragten nutzt den ÖV mindestens einmal wöchentlich (vgl. Abb. 3). Sie empfinden die höchste ÖV-Autonomie und die ÖV-Nutzung als einfach. „ÖV-Zwangsnutzer“ wohnen (auch wegen des fehlenden Pkw) eher innenstadtnah und profitieren von einer guten ÖV-Anbindung. Mit 83 % sind Frauen in diesem Segment stark überrepräsentiert. Verglichen mit den anderen Mobilitätstypen zeichnen sie sich wie die „Pkw-Fixierten“ durch ein höheres Alter, ein geringeres Bildungsniveau und ein geringeres Einkommen aus. Sie sind außerdem häufiger durch Behinderungen in ihrer Mobilität eingeschränkt, wohnen häufiger allein und haben weniger Kontakt zu Freunden und Verwandten. Dennoch sind die „ÖV-Zwangsnutzer“ aktiver und mit ihren Mobilitätsmöglichkeiten zufriedener als die „Pkw-Fixierten“.

Ableitung von zielgruppenspezifischen Maßnahmen

Das Wissen über die verschiedenen Nutzungsvoraussetzungen, die unterschiedlichen Mobilitätseinstellungen und das spezifische Mobilitätsverhalten gibt Aufschluss darüber, welche Angebote für die einzelnen Typen am ehesten attraktiv sein könnten.

Die negative Einstellung der „Pkw-Fixierten“ gegenüber anderen Verkehrsmitteln sowie ihre gesundheitlichen Restriktionen und ihre eher suburbanen Wohnstandorte erschweren eine Veränderung ihrer Verkehrsmittelwahl. Hier sind kompensierende Mobilitätsdienstleistungen, wie Lieferdienste oder Begleitservices bei der ÖV-Nutzung angemessen. Allerdings scheint es auf die Zukunft bezogen wichtiger und erfolgversprechender zu sein, rechtzeitig einzugreifen, um zu verhindern, dass sich dieser Mobilitätstyp herausbildet, da dieser sich als der am meisten benachteiligte/ eingeschränkte herausstellt. Als präventive Maßnahmen könnten gesundheitsbezogene Aufklärungskampagnen dienen. Weiterhin scheinen Maßnahmen, die städtebaulich gestaltend das Wohnumfeld verbessern oder die ältere Menschen zum Umzug in zentralere Lagen bewegen sinnvoll. All diese Maßnahmen sollten jedoch ergriffen werden, bevor Menschen alt, körperlich beeinträchtigt und unflexibel werden.

Da von den „Jungen wohlhabenden Mobilen“ alle Fortbewegungsarten relativ gut bewertet werden, scheint ein Wechsel zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln hier deutlich realistischer. Für kurze Wege könnten technisch hochwertige Fahrräder in diesem Segment beworben werden. Für längere Wege ins Stadtzentrum und in Nachbarstädte könnten öffentliche Verkehrsmittel durchaus eine Alternative zum Automobil darstellen, wenn die ÖV-Nutzung flexibler wäre (z. B. durch die Einführung eines elektronischen Tickets). Der hohe Anteil von Internetnutzern deutet auf eine Offenheit gegenüber neuen Technologien hin.

Die „Selbstbestimmt Mobilen“ weisen wegen ihrer positiven Sicht auf das Zufußgehen und Radfahren sowie einer hohen „ÖV Autonomie“ und eher gering wahrgenommenen Mobilitätserfordernisse die besten Voraussetzungen für eine freiwillige Verlagerung vom Pkw hin zu anderen Verkehrsmitteln auf. Aufklärungskampagnen, die die gesundheitlichen und umweltbezogenen Vorzüge anderer Fortbewegungsarten hervorheben, könnten diesen Mobilitätstyp positiv bestärken. Darüber hinaus erscheinen sie aus finanziellen und ökologischen Gründen eine passende Zielgruppe für Car-Sharing zu sein.

Unter den „ÖV-Zwangsnutzern“ schließlich haben die meisten keine andere Wahl, als umweltfreundliche Verkehrsmittel zu nutzen. Da sie in der Regel zentral leben, scheint das kein Problem darzustellen. Verglichen mit „Pkw-Fixierten“ weisen sie einen deutlich höheren Grad an Freizeitmobilität auf, obwohl beide Gruppen ungefähr gleich alt sind. Dafür scheinen die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Zufußgehen und Radfahren, die signifikante Indikatoren für die Anzahl der Freizeitaktivitäten sind, eine Rolle zu spielen, was auch erklären könnte, warum „ÖV-Zwangsnutzer“ im Durchschnitt weniger gesundheitliche Probleme haben als die „Pkw-Fixierten“.

Fazit

Die Ergebnisse zeigen, dass auch ältere Menschen eine heterogene Gruppe sind und dass ihr Mobilitätsverhalten viele verschiedene Facetten hat. Neben den Einstellungen ist auch die Erreichbarkeit der wichtigsten Einrichtungen für ältere Menschen eine Schlüsselvariable, um mobil zu bleiben, was eine Voraussetzung für hohe Lebensqualität darstellt.

Der hier verwendete Segmentierungsansatz, der sowohl Einstellungen als auch typenkonstituierende Variablen beinhaltet, liefert wichtige Informationen für verschiedene Aspekte des Mobilitätsverhaltens. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass eine hohe Pkw-Abhängigkeit mit einer geringeren Zufriedenheit mit anderen Mobilitätsoptionen und einem relativ schlechten Gesundheitszustand einhergeht, wenngleich die Frage nach Ursache und Wirkung nicht mithilfe von Korrelationsdaten geklärt werden kann. Längsschnittuntersuchungen könnten in Zukunft Auskunft darüber geben, wie beständig diese Mobilitätstypen sind und inwiefern gesundheitliche Einschränkungen aus spezifischen Mobilitätsstrukturen (wie z. B. einer ausschließlichen Nutzung des Pkw) folgen oder umgekehrt.

In Kürze

Vier Mobilitätstypen konnten bei den SeniorInnen herausgearbeitet werden, mit unterschiedlichen Einstellungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten bei der mobilen Teilhabe. Will man das mobile Verhalten beeinflussen bzw. verbessern, muss an den Wertevorstellungen und Möglichkeiten der jeweiligen Zielgruppe spezifisch angesetzt werden.

Weitere Informationen:

  • BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2010: Mobilität in Deutschland 2008 (MID) Ergebnisbericht
  • Haustein, Sonja; Stiewe, Mechtild (2010): Mobilitätsverhalten von Seniorinnen und Senioren – zur Entwicklung zielgruppenspezifischer Mobilitätsangebote. In: ILS-trends, Heft1/10
  • Haustein, Sonja; Hunecke, Marcel und Kemming, Herbert (2008): Mobilität von Senioren. Ein Segmentierungsansatz als Grundlage zielgruppenspezifischer Angebote. Internationales Verkehrswesen, 60, S. 181-187
  • Páez, A., Scott, D., Potoglou, D., Kanaroglou, P. und Newbold, K.B. (2007): Elderly mobility: Demographic and spatial analysis of trip making in the Hamilton CMA, Canada. Urban Studies, 44, S. 123-146

 

Dieser Artikel von Mechtild Stiewe, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im ILS Institut für Landes-und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund, ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.

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Etwa 50 Millionen Menschen in der Europäischen Union sind älter als 65 Jahre. Und wir alle leben immer länger. Viele von uns werden ein Alter von 85 Jahren oder mehr erreichen. Aber wie sieht diese Zukunft für alte Menschen aus?

Die europäischen Fußgängerverbände haben in den letzten Jahren verstärkt nach Antworten und Perspektiven gesucht. Besonders beschäftigte uns die Frage, wie wir alle mit unserem Leben zurechtkommen und es genießen können, wenn es beschwerlicher geworden ist.

Die Antworten, die wir aus ganz Europa erhalten haben, sind erschütternd. Dadurch, dass fast überall Autos die Möglichkeit bekommen haben, sich nach Belieben zu bewegen, wurde vielen älteren Menschen die Möglichkeit genommen, ihren Ruhestand wirklich zu genießen.

Wir haben ein Europa geschaffen, in dem Menschen über 65 vermehrt

  • außerstande sind auszugehen
  • ihr Leben riskieren, wenn sie es trotzdem tun
  • lieber daheim bleiben, weil ihre Umgebung so unfreundlich geworden ist.

Schon jetzt verläßt etwa die Hälfte der pensionierten Bevölkerung (ca. 25 Mio. Menschen) an einem beliebigen Tag ihr Zuhause überhaupt nicht.Wie kam es dazu?

Eine gefährliche neue Umgebung

Eines Tages werden auch wir die Erfahrung machen, dass wir uns wieder zu Fuß fortbewegen - vielleicht zum ersten Mal seit unserer Kindheit. Das wird ein Schock für diejenigen sein, die, solange sie nur konnten, mit dem Auto gefahren sind. Die Straßen, die sie dann benutzen, sind nicht mehr die ihrer Kindheit, genauso wenig wie ihre Füße. Einer von dreien wird im Alter eine Behinderung haben, die die Bewegungsfreiheit einschränkt.

Die Erfahrungen von Millionen älterer Europäer haben folgende Gemeinsamkeiten:

  • Überhaupt außer Haus zu gehen, ist schon eine Prozedur, sagen die meisten. Menge und Schnelligkeit des Verkehrs verursachen Lärm und können einen einschüchtern.
  • Es gibt nicht genug sichere Übergänge.
  • In ländlichen Gebieten fehlen Bürgersteige oft ganz. In Städten sind sie zugeparkt, uneben und werden von Radfahrern genutzt, denen die Straßen Probleme bereiten .
  • Einrichtungen, die ältere Leute gerne erreichen würden, wie Geschäfte oder sogar Postämter, werden in steigendem Maße außerhalb der Stadtzentren angelegt, um Autofahrern einen bequemeren Zugang zu ermöglichen.
  • Öffentlicher Nahverkehr existiert oft nicht, oder er bereitet Schwierigkeiten beim Einsteigen oder ist für den täglichen Gebrauch zu teuer.

Viele ältere Menschen erreichen ihr Ziel nicht. Ungefähr die Hälfte der Todesopfer unter den Fußgängern sind Menschen über 65. Diese stellen aber nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung dar.

Was wir tun können

Es ist an der Zeit, für unsere Lebensqualität im Alter vorzusorgen. Ein erster Schritt ist gemacht: 1988 hat das Europäische Parlament die Charta der Rechte der Fußgänger verabschiedet, als einen Versuch, grundlegende Freiheiten zu bewahren. (1) Besonders älteren Menschen garantiert sie das Recht auf Lebensbedingungen, die ihre Einschränkungen nicht verschlimmern, sondern dazu ermutigen, aus dem Haus zu gehen und Kontakte aufrechtzuerhalten.

Hier treten wir auf den Plan: Der nächste Schritt ist die Umsetzung dieser Charta in ein Arbeitsprogramm:

  • Auf lokaler Ebene müssen wir ältere Menschen in den Planungsprozess miteinbeziehen – niemand kennt die Probleme besser als sie.
  • Auf nationaler Ebene brauchen wir den Überblick über alle Regelungen, die die Bewegungsmöglichkeiten der Fußgänger berühren, z.B. hinsichtlich der Benutzung der Fußwege und der Überwege.
  • Von der Europäischen Union brauchen wir die Unterstützung für die Verwirklichung beispielhafter Projekte in jedem Mitgliedsland, die uns zeigen, dass Mobilität zu Fuß auch im Alter mit Menschenwürde zu vereinbaren ist.

Diese Fragen gehen uns alle an: Es sind nicht nur die älteren Menschen, die durch diese Lebensumgebung betroffen sind. Es gibt aber zwei besondere Gründe, warum wir herausarbeiten sollten, was es bedeutet, als älterer Mensch aus dem Haus zu gehen:

  • Erstens gilt es, den humanitären Aspekt zu berücksichtigen - darauf weist die Europäische Charta für die Rechte der Fußgänger so pointiert hin. Ältere Menschen haben nicht die Energie und Beweglichkeit wie ihre jüngeren Mitbürger. Aber müssen wir ihnen das immer wieder warnend vorhalten, wenn sie einen einfachen Weg unternehmen wollen? Wir schulden ihnen zumindest eine Umwelt, die sie nicht auf Schritt und Tritt benachteiligt.
  • Aber wir brauchen - zweitens - ein schärferes Bewusstsein für die Bedeutung dieser Wege im Alter. Sie sind die Lebensader für ein ganzes Spektrum von Aktivitäten, die den späten Lebensjahren Würze und Freude vermitteln. Sie sind für ältere Menschen der Zugang zu Wohlbefinden und Unabhängigkeit. Wenn wir jetzt versäumen, auf die Qualität dieser Wege zu achten, werden wir humane und ökonomische Kosten tragen müssen, die kein europäischer Staat bewältigen kann.

Diese beiden Gesichtspunkte werden wegen der veränderten Alterspyramide drängender. Heute bereits ist fast jeder sechste Europäer im Ruhestand. Fast 25 Millionen Menschen sind über 75.

Aber die Zukunft verlangt größere Beachtung: Immer mehr Menschen können mit einer immer längeren Zeit des Ruhestands rechnen - wir werden immer älter. Immer mehr Menschen werden mit den Straßen in ihrer Wohnumgebung zurechtkommen müssen:

Über 75 Jahre alt sind

  • zu fast 60 Prozent Frauen,
  • die alleine leben (heute bereits etwa ein Drittel) und
  • in irgendeiner Weise behindert sind (ebenfalls etwa ein Drittel).

Wir sind erstaunt, dass diese Entwicklung bis jetzt in der öffentlichen Diskussion keine Beachtung findet. Zumindest im städtischen Wohnumfeld berücksichtigt nur ein kleiner Teil der Straßen die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Älteren. Oft hält deren Zustand davon ab, überhaupt hinauszugehen. Die Wege der Älteren werden oft übersehen; kurze, zu Fuß zurückgelegte Wege tauchen in vielen Statistiken nicht auf, z.B. zur nächsten Straßenecke zu gehen, wo ein Freund wohnt.

Jüngere Menschen bevorzugen dagegen das Auto, auch dann wenn der Weg kurz ist und gerade für sie leicht zu Fuß zu gehen wären. Die per Auto zurückgelegten Wege sind in den Verkehrsstatistiken vertreten - und die dafür benutzten Autos stehen den Fußgängern im Weg, z.B. auf Bürgersteigen.

Die Hälfte der Wege, die sie außerhalb des Hauses unternehmen, gehen ältere Menschen zu Fuß. Durchschnittlich zweimal am Tag gehen sie aus dem Haus – gegenüber dreimal bei jüngeren Leuten. Aber hinter diesen Durchschnittswerten gibt es erhebliche Unterschiede: Unter den Älteren gibt es viel eher Menschen, die überhaupt nicht aus dem Haus gehen – nach einer belgischen Untersuchung die Hälfte (im Unterschied zu 10% der Jüngeren).

Auf die Frage, warum sie nicht aus dem Haus gehen, sagten ältere Briten, sie wären zu gebrechlich. 90% gaben diese Antwort – dreimal so viel wie tatsächlich in der einen oder anderen Weise behindert sind. Daher sind es wohl die Straßen, die Hindernisse und Behinderungen verursachen.

Gehwege sind nicht nur in Großbritannien berüchtigt. Dort sind Stolperstellen und Müll ein großes Problem: Die großen Gehwegplatten, die dort normalerweise verwendet werden, brechen unter dem Druck von Autos. Nach offiziellen Statistiken gibt es alle 40 Meter Müll auf dem Bürgersteig. Drei Millionen Menschen werden jährlich verletzt, weil sie auf dem Bürgersteig stürzen – das sind fünf Prozent der britischen Bevölkerung.

Die wesentlichen Probleme sind

  • unebene Oberflächen
  • Platzmangel, so dass man nicht sicher gehen oder einen Rollstuhl schieben kann
  • Radfahren und geparkte Autos.
  • Hundekot, Müll, Laub, Schnee

Wie wir weitergehen

Der erste Schritt hin zu einer Welt, in der ältere Menschen ihren Platz haben, ist nicht weiter als bis zur nächsten Stadt- oder Gemeindeverwaltung - in unserem Wohnort. Wenn es uns nicht gelingt, die Straßen rings um unsere eigene Wohnung zu verbessern, werden wir auch anderswo nichts erreichen. Wir müssen das Spektrum der Maßnahmen erkennen, die den älteren Menschen zu einer würdigen und freien Mobilität verhelfen. Wie diese Maßnahmen kombiniert werden müssen, ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Wir sehen vier Schritte. Der erste ist ganz einfach ein Spaziergang.

Das Problem erleben

Menschen, die jung und fit sind, vor allem diejenigen, die üblicherweise Auto fahren, haben wahrscheinlich keine Vorstellung, welche Probleme die Straßen für ältere Menschen darstellen. Erst wenn man sich auf den Spuren eines älteren Menschen bewegt, wird man diese Schwierigkeiten nachvollziehen können. Und neben jedem älteren Menschen, den wir da begleiten, gibt es einen, der unsichtbar zuhause bleibt und den ganzen Tag nicht aus dem Haus geht.

Wichtig ist, dass Menschen überall in Europa diese Erfahrung machen. Sie sollten auch versuchen, einen Rollstuhl zu fahren. Und sie könnten darauf achten, wie schwer es ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie könnten erleben, wie weit es zu Fuß bis zu wichtigen Zielen ist, z.B. zu einer Bibliothek, zum nächsten Park oder zum Postamt. Sie könnten darauf achten, wie lange sie brauchen, um – in einer Grünphase nach der andern - über eine Kreuzung zu kommen.

Besonders nützlich wäre es, wenn ältere Menschen selbst diese Wege in ihren Städten und Dörfern gehen würden, ihre Beobachtungen dokumentieren und diskutieren würden. Sie sind die Experten. Dann sollten sie Kommunalpolitiker einladen, damit diese aus erster Hand die Probleme erkennen - als Einstieg in die Suche nach Problemlösungen.

Beziehungen herstellen

Schon eine einmalige Aktion, die die Aufmerksamkeit auf einen schwarzen Fleck des Unfallgeschehens lenkt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber noch wichtiger ist, die älteren Menschen in kontinuierlichen Kontakt mit denen zu bringen, die für die örtliche Infrastruktur Verantwortung tragen. Und dann müssen wir diese örtlichen Verantwortlichen und die kommunalen Serviceeinrichtungen aus ihrem eigenen Blickwinkel unter die Lupe nehmen. Nur so erreichen wir mehr als schlichte Kopien von Problemlösungen.

Eine Vielzahl von Ideen sind in den letzten Jahren Wirklichkeit geworden. Die meisten Städte haben jetzt autofreie Einkaufsstraßen und Plätze. Die Oberflächen solcher Straßen und Plätze sind erneuert worden und erleichtern meistens das Gehen. Quasi automatisch wirkende Geschwindigkeitsbegrenzungen sind in Wohngebieten eingeführt worden. Experimente mit Lichtsignalanlagen, die einem Fußgänger genügend Zeit zum Überqueren lassen, sind unternommen worden. Busse und Straßenbahnen mit niedrigen Einstiegen sind erfolgreich eingeführt worden.

Das alles hilft. Aber es sind isolierte Maßnahmen in einer Umgebung, die den Bedürfnissen und Wünschen älterer Menschen wenig Respekt zollt. Innovative Techniken sind manchmal nicht die bestmögliche Antwort, z.B. wenn die Menschen die bessere Instandhaltung der bestehenden Fußwege einer neuen Oberfläche in einer Einkaufsstraße vorziehen. Wer hat die älteren Leute gefragt, was sie wollen?

Wir müssen mit ihrer Hilfe einen breiteren Einblick bekommen: Erlauben die kommunalen Einrichtungen es ihnen, das Leben zu meistern?

  • Können sie die Ziele erreichen, die ihnen wichtig sind? Das hat Konsequenzen für die Lage dieser Einrichtungen, wie auch für die Gestaltung der Wegebeziehungen.
  • Können sie ihre Wege leicht gehen? Das wirft Fragen auf nach der Markierung von Parkplätzen (auf Bürgersteigen), nach der Art der (Sperr-) Müllsammlung, der Anlage von Bushaltestellen (Buskaps?), der Platzierung von Werbung, Wühltischen und sonstigen kommerziellen Einrichtungen in den Straßen und nach dem Zustand der Straße selbst.
  • Können sie sich sicher bewegen? Hierzu gehören Fragen nach Überquerungsmöglichkeiten, nach der Qualität von Oberflächen und Stufen, dem Design von Bussen und Wartegelegenheiten und nach der Straßenbeleuchtung.
  • Wie ist es um die Annehmlichkeit des Gehens in diesen Straßen bestellt? Die Fragen betreffen den Reinigungsstandard, die verfügbare Breite, Sitzgelegenheiten, Straßenbäume und andere Pflanzen und die Qualität der Luft.

Solche Fragen werden selten gestellt. Wir müssen sie aber überall stellen und die Erfahrungen älterer Menschen in die alltäglichen Planungsprozesse und in die Umsetzung in den Städten und Gemeinden einbeziehen.

Über die Rahmenbedingungen nachdenken

Im dritten Schritt kommen die EU- Mitgliedsländer in´s Spiel, denn diese gestalten den Rahmen, in dem Städte und Gemeinden handeln. Sie beeinflussen insbesondere

  • allgemeine Umweltstandards
  • die Regulierung des Verkehrswesens
  • die Gelder für den Straßenbau.

Die Ziele dafür müssen so formuliert werden, dass sie den Fußgängern - insbesondere Kindern und älteren Menschen - gerecht werden: Es ist z.B. wichtig, die Ziele für die Luftqualität dort zu erreichen, wo Fußgänger und gerade Kinder diese Luft einatmen, nämlich recht dicht über dem Boden.

Es darf nicht von Demonstrationen und Kampagnen abhängen, ob es überhaupt einen Bürgersteig gibt (wobei dessen Breite eine Frage für sich ist) oder ob es in einer stark und schnell befahrenen Straße einen sicheren Fußgängerüberweg gibt.

Die Revision der Regelungen könnte damit beginnen, dass wir die sehr ungleichen Rechte von Kraftfahrern und Fußgängern erkennen. Die meisten nationalen Straßenverkehrsordnungen bieten Fußgängern nichts Besseres als die Aufforderung, vorsichtig zu sein und Autos aus dem Weg zu gehen. Alle Nationen sind sehr zurückhaltend hinsichtlich der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die von Kraftfahrern verlangt werden müssen, auch wenn es darum geht, diese über die Jahre hinweg beim einzelnen Fahrer sicherzustellen. Wir sind anscheinend nicht einmal in der Lage, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Vorschriften für das Parken von Kraftfahrzeugen zur Geltung zu verhelfen.

Vielleicht fangen wir am falschen Ende an: Sollten wir eher auf die Art der Fahrzeuge achten, die wir auf den Straßen zulassen? Welches Fahrverhalten ist z.B. von Fahrern zu erwarten, deren Geländefahrzeuge durch Spurverbreiterung und Vergrößerung der Bodenfreiheit Kampfpanzern ähneln? Außerdem: Wir lassen die Autofahrer zu billig aus der Pflicht, gemessen an den Kosten, die sie verursachen und anderen aufladen.

Die Gelder für den Straßenbau brauchen viel mehr kritische Analysen, um deutlich zu machen, ob sie die einfachen Lösungen, die sie für sich in Anspruch nehmen, auch wirklich erbringen und zu welchem Preis sie das tun. Wie viele sichere Bürgersteige und wie viele Überwege sind für den Preis von 10 km neuer Straßen möglich?

Wir wollen eine Anhörung der Fußgänger in die Planungsphase von Straßen einführen. Dabei gilt es auch, die Effekte auf den Autoverkehr in den Zielgebieten zu untersuchen, insbesondere die zu erwartende Zunahme von Gefährdungen und Beeinträchtigungen. Diese Fragen gehen uns alle an: Es sind nicht nur die älteren Menschen, die durch diese Lebensumgebung betroffen sind.

Quellennachweis

  1. Entschließung zum Schutz der Fußgänger und zur Europäischen Charta der Fußgänger. Dokument A2-154/88, Straßburg, 12.10.1988. Die autorisierte deutsche Übersetzung ist beim FUSS e.V. erhältlich. Die europäischen Fußgängerverbände betrachten seit 1989 den 12. Oktober als „Europäischen Tag der Fußgänger“.

 

Dieser Text entstand auf der Grundlage der Veröffentlichung anlässlich des Europäischen Jahres der Senioren: Older People On Foot - Why We Must Act. Report of Federation of European Pdestrian Associations (FEPA) for the European Year of Older People. This report is written by Jane Morton, of the Pedestria`s Association in the UK. Den Haag 1995. Verfasser des Abschnittes über die BRD: Manfred Bernard, FUSS e.V., der auch den hier vorliegenden Text verfasst hat. Er ist ein Auszug aus der Veröffentlichung: SENIOREN zu FUSS - Aufsätze, Dokumente und Zwischenrufe, FUSS e.V. (Hrsg.), 2000

Die Veröffentlichung „SENIOREN zu FUSS - Aufsätze, Dokumente und Zwischenrufe“ ist bei uns für 4,50 zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Senioren bestellen.

„Alt wird man wohl,
wer aber klug?“(1)

Zahlreiche Senioren von heute gehören zu den Pionieren des Kfz-Verkehrs von gestern. Als Überlebende des 2. Weltkrieges haben sie größtenteils die Massenmotorisierung begrüßt und viele, ja sehr viele von ihnen haben schon vorher jede neue Straße voller Freude registriert. Es soll noch heute Menschen unter den Senioren geben, die einem gerade mal 12 Jahre lang regierenden ”Führer” trotz aller scheußlichsten Untaten zugute halten, dass er ”Autobahnen” gebaut hat.

Aber gleich nach dem Wegräumen des Schutts von der Straße ging es auch schon los mit der Totalmobilisierung. Der Slogan ”Freie Fahrt für freie Bürger” war ein Befreiungsakt, das eigene Auto das höchste Glücksgefühl. Mann wollte vergessen und hielt sich am Steuerknüppel fest. Die Frau hatte sich Steine klopfend am Aufbau ausreichend emanzipiert, jetzt wurde sie wieder zur ”Mit”fahrerin.

Betrachtet man die Statistiken der Autofahrer nach der Altersstruktur, ist erkennbar, dass viele Senioren noch heute an dieser ”Freiheit” festhalten, obwohl oder vielleicht auch gerade weil sie nicht mehr richtig gehen, sehen oder hören können; das Autofahren ist für sie selbst immer noch das Sicherste. Auch wegen der vielen Kriminellen und Ausländer, die bei eintretender Dunkelheit sofort zuschlagen würden, wenn man als Senior kein Schutzblech hätte. So sind unsere Senioren. Sind sie so?

Die ältere Generation hat versucht, die Leiden im Krieg und in den Nachkriegszeiten durch Konsum und Auto auszugleichen. Das ist sehr verständlich. Doch muss hinzugefügt werden, dass sie der Fluch der Autobesessenheit nun einholt, so dass sie wiederum die Leidtragenden sind. Eine mehrfach betrogene Generation bekommt die Folgen der Massenmotorisierung zu großen Teilen als Fußgänger zu spüren: Auf den Bürgersteigen ist kein Durchkommen, die Zebrastreifen sind nahezu abgeschafft, die Wege zur nächsten Ampel oder zur Haltestelle sind weit und vor allem, das Queren der Straße ist gefährlich, lebensgefährlich.

Da hilft der Hinweis nur wenig weiter, dass die Menschen im Alter von 65 Jahren aufwärts rein statistisch bei den Verkehrsverletzten unterrepräsentiert und beim Anteil der Verkehrstoten mit ca. 16 % fast genau mit ihrem Bevölkerungsanteil betroffen sind. (2) Wieso sollte sich auch eine ängstliche 80jährige Frau beim Versuch einer Fahrbahnquerung dafür interessieren, dass der vor Lebenskraft nur so sprühende 30jährige Lenker des Motorrades ein dreimal so hohes Todesrisiko hat? (3)

Auf die Gefahren des Straßenverkehrs, auf Barrieren und Beschwernisse reagieren ältere Menschen in der Regel mit dem Rückzug. Die Tatsache, dass die Verkehrsteilnahme im Alter sehr stark abnimmt, lässt die Risikobetrachtungen in einem ganz anderen Licht erscheinen:

Das Fußgänger-Unfallrisiko der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung nimmt etwa bis zum 65. Lebensjahr kontinuierlich ab, steigt etwa bis zum 75. Lebensjahr wieder an und nimmt dann für Menschen im Alter von über 75 Jahren erschreckende Höchstwerte an.

Bezogen auf die Einwohnerzahl der Altersgruppe steigt die Zahl der Verunglückten etwa ab dem 65. Lebensjahr auf das Doppelte. Viel dramatischer ist die Entwicklung bei der Zahl der Verunglückten, bezogen auf die Zeit der Verkehrsteilnahme. Als Fußgänger gehören ältere Menschen ab 65 Jahren zu den am stärksten unfallgefährdeten Verkehrsteilnehmern. Die Angst dieser Generation vor einem Verkehrsunfall ist also mehr als berechtigt.

Etwa 35.000 Menschen im Alter ab 65 Jahren verunglücken jährlich im Straßenverkehr. In den Mobilitäts-Tageszeiten älterer Menschen wird ca. alle 10 Minuten in Deutschland ein Mensch ab 65 verletzt oder getötet. Warum gibt es keinen Aufschrei, dass es so nicht weitergehen darf?

Die Verminderung der Kraftfahrzeug-Geschwindigkeiten im Stadtverkehr und Einschränkungen des Kfz-Verkehrs auf ein stadtverträgliches Maß hätten für ältere Fußgänger große Vorteile:

  • Auf freien Bürgersteigen geht es sich angenehmer und sicherer.
  • Mehr Straßenbahnen und Busse könnten ihnen längere Fußwege abnehmen.
  • Gibt es wieder mehr Geschäfte in der Nachbarschaft, so sind Selbstversorgung und Unabhängigkeit länger möglich.

Wäre das Gehen in unseren Straßen angenehmer, könnten sich vereinsamte Senioren leichter ”unter´s Volk mischen”. Gibt es mehr Fußgänger, können Senioren sich sicherer vor Überfällen fühlen. Sie finden dann auch häufiger Hilfestellungen beim Überqueren der Straße. Sicher lassen sich nicht alle Unannehmlichkeiten des Alters beseitigen. Aber die schöneren Seiten des Alters sind dann eher zu erleben, wenn wir uns öfter ohne Blechpanzer begegnen.

Im Sinne des von den Seniorenverbänden eingebrachten Manifestes ”Schafft den Ruhestand ab!” brauchen wir querdenkende Senioren, die noch unruhig genug sind, um diese Dinge mit anzupacken. Für sich selbst, für ihre Kinder, für die Enkelkinder.

Quellennachweise:

  1. Johann Wolfgang von Goethe: Faust
  2. Verkehr in Zahlen 1998 für das Jahr 1997
  3. vgl. A.F. Fritzsche: Wie gefährlich leben wir? Risikokatalog. Verlag TÜV Rheinland, 1992

 

Dieser Artikel von Angelika Schlansky und Bernd Herzog-Schlagk ist ein Auszug aus der Veröffentlichung: SENIOREN zu FUSS - Aufsätze, Dokumente und Zwischenrufe, FUSS e.V. (Hrsg.), 2000

Die Veröffentlichung „Senioren zu Fuß“ ist bei uns für 4,50 Euro zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Senioren bestellen.

Mit der wachsenden Erkenntnis, dass sich durch die absehbaren demographischen Entwicklungen (der Anteil der Menschen über 60 wird permanent ansteigen) weitreichende Änderungen im Gefüge unserer Städte und der Art, wie wir in ihnen leben, ergeben können, gewinnen ältere Menschen und ihre spezifische Situation auch in der Stadtplanung an Gewicht.

Städtischen Verkehrsanlagen und -systemen wird immer wieder der Vorwurf der automobilorientierten Planung gemacht. Während sich Durchschnittsverkehrsteilnehmer noch vielfach mit den Mängeln arrangieren können, haben viele ältere Menschen Probleme, Verkehrssituationen, für deren Bewältigung sie nicht die nötigen Voraussetzungen mitbringen, zu meistern.

Wer ist gemeint?

Alte bzw. ältere Menschen sind eine sehr heterogene Gruppe. Dies erfordert zumindest den Versuch einer Eingrenzung der Zielgruppe, über die wir heute reden wollen. Schon seit einiger Zeit stimmt das Image der kranken und hilfsbedürftigen Rentner nicht mehr. Es entstand das vereinfachende Schlagwort von den ,,Neuen Alten", die aktiv, mobil und erlebnishungrig ihren Lebensabend genießen wollen und die auch häufig die gesundheitlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür mitbringen. Diese Formulierung drängt die Existenz einer auch weiterhin großen Gruppe von benachteiligten älteren Menschen in den Hintergrund.

Es wird beim Komplex ,,Ältere Menschen im Verkehr" sicherlich Aspekte geben, die auf das gesamte Spektrum von Menschen im Alter zutreffen – unabhängig von ihrer körperlichen oder finanziellen Verfassung - wie etwa ein flexibleres Zeitbudget, das sich aus dem Wegfall der Berufsausübung ergibt. Generell wird jedoch genau zu differenzieren sein, welche Gruppe älterer Menschen durch eine Maßnahme angesprochen werden soll.

Angesichts der Heterogenität der Zielgruppe sind also Entscheidungen über Schwerpunkte und Zielrichtung von Maßnahmen notwendig. Ich will mich deshalb hier weitgehend auf die Gruppe der benachteiligten Älteren beschränken, da diese Gruppe wahrscheinlich die größten Schwierigkeiten hat, sich in einer leistungsorientierten Gesellschaft zurechtfinden. Vorschläge zur Verbesserung der Verkehrssituation benachteiligter älterer Menschen hätten zudem den Vorteil, dass auch andere benachteiligte Gruppen hiervon profitieren würden.

Weshalb die Zielgruppe Senioren?

Ältere Menschen sind - wie viele andere Gruppen auch - in einer hauptsächlich auf den Autoverkehr ausgerichteten Stadt keine gleichberechtigten Verkehrsteilnehmer. Ihre spezifische Verkehrs-Betroffenheit ist durch den Widerspruch zwischen den hohen Mobilitätserfordernissen unserer komplexen postindustriellen Gesellschaft mit Folgen wie Zentralisierung von Dienstleistungen, Vergröberung des städtischen Maßstabs etc. und eingeschränkter individueller Mobilitätsfähigkeit gekennzeichnet. Die Fähigkeit zur Mobilität nimmt bei älteren Menschen infolge unterschiedlicher Faktoren ab. Das sind z.B. individuelle Gründe:

  • nachlassende Muskelkräfte
  • instabile Blutdruckverhältnisse
  • Verlangsamung des Stoffwechsels
  • zunehmende Blend-Empfindlichkeit
  • verlängerte Reaktionszeiten
  • motorische Störungen

Daneben gibt es aber auch äußere Faktoren, die mobilitätsbehindernd auf Senioren wirken, z.B.:

  • hohe Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs
  • große Entfernungen
  • Nutzungsbehinderungen der öffentlichen Infrastruktur

Dies führt zu unfreiwilligen Mobilitätsbehinderungen älterer Menschen mit der Folge zunehmender Gefährdung im Verkehrsgeschehen oder des zwangsläufigen Rückzugs in den häufig unterversorgten Nahbereich bzw. die Wohnung.

Die Notwendigkeit zur Mobilität nimmt bei älteren Menschen dagegen - wenn überhaupt - nur unwesentlich ab. Die Fahrten zur Arbeit fallen zwar weg, dafür kommen häufigeres Einkaufen (da eher kleinere Mengen eingekauft werden), regelmäßige Arztbesuche, nach Möglichkeit tägliche Spaziergänge etc. neu hinzu. Dieses Mobilitätsbedürfnis trifft in der städtischen Realität auf bauliche Barrieren, die eine konkrete Benachteiligung älterer Menschen gegenüber anderen Gruppen bedeuten.

Bauliche, oder besser räumliche Barrieren sind hier nicht nur als gebaute Hindernisse zu verstehen. Vielmehr bestehen sie aus einer Reihe von Komponenten, die sie für ältere Menschen zu einer Erschwernis im Verkehrsgeschehen machen können. Diese Komponenten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Bauliche, d.h. räumlich-physische Barrieren
    sind Hindernisse, die direkt die Verkehrsaktivitäten älterer Menschen hemmen (z.B. Verkehrsschneisen mit fehlenden oder mangelhaften Querungsmöglichkeiten).
  • Raumstrukturelle Barrieren
    haben ihre Ursache in einem Gefüge des städtischen Raums, das den spezifischen Bedürfnissen älterer Menschen nicht gerecht wird (z.B. die Tendenz zur Einkaufsflächenkonzentration mit der Folge einer Verschlechterung der Nahversorgung in Wohngebieten).
  • Organisatorische Probleme
    die verstärkend auf räumliche Barrieren wirken (z.B. zu kurze Ampelphasen oder komplizierte Nahverkehrssysteme).
  • Mentale und körperliche Probleme,
    verstärken die räumlichen Barrieren. Dies trifft dann zu, wenn individuelle Handicaps Situationen, die für Normalbürger problemlos zu meistern sind, plötzlich mit großen Schwierigkeiten versehen (z.B. Beschränkungen der Beinmotorik, die eine Bordsteinkante zum Problem werden lassen).

Nicht alle dieser Komponenten lassen sich durch verkehrsplanerische Maßnahmen beheben. Die Kenntnis ihrer Wirkungszusammenhänge ist jedoch notwendig, wenn man sich mit Verkehrsproblemen älterer Menschen beschäftigt.

Was sollte getan werden?

Der Widerspruch zwischen den Mobilitätserfordernissen einer Autogesellschaft und der eingeschränkten Mobilitätsfähigkeit älterer Menschen lässt zwei Ansatzmöglichkeiten zu:

Entweder müssen Maßnahmen zur Mobilitätssteigerung älterer Menschen ergriffen werden, also z.B.

  • durch vermehrten Einsatz technischer Systeme oder
  • die Verkehrs”erziehung” bzw. -fortbildung älterer Menschen oder
  • durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen unserer städtischen Umwelt, so dass auch ältere Menschen wieder in ihr zurechtkommen.

Nach meiner Meinung sollte konsequenter als bisher der dritte Weg beschritten werden, da viele Verbesserungsmöglichkeiten nicht nur alten-spezifisch sind, sondern generell zu einer lebenswerteren Umwelt beitragen können. Maßnahmen wie z.B. Wohnumfeldverbesserung, Verkehrsberuhigung und die benutzerfreundliche Gestaltung des ÖPNV sind auch aus der Sicht anderer, nicht nur älterer Menschen wünschenswert und notwendig.

Eine städtische Umwelt, die den Bedürfnissen älterer Menschen entgegenkommt, ist zugleich eine menschenfreundliche.

Welche Maßnahmen können ergriffen werden?

Um zu verdeutlichen, welche Bandbreite bei Maßnahmen zur Verbesserung der Situation älterer Menschen im Verkehr existiert, sollen hier exemplarisch einige Ansätze einer altengerechten Verkehrsgestaltung dargestellt werden, schwerpunktmäßig Maßnahmen, die die von älteren Menschen bevorzugten Verkehrsarten betreffen. Es sollte aber beachtet werden, dass hier - ebenso wie bei nicht zielgruppenspezifischen Planungen - sinnvollerweise zu fördernde Verkehrsarten den aus planerischer Sicht nicht zu unterstützenden Verkehrsarten gegenüberstehen.

Fußgängerverkehr

Ältere Menschen legen in der BRD pro Jahr durchschnittlich 400 km zu Fuß zurück. Zum Vergleich: In den USA sind es 45 km, in Dänemark 480 km. Die absolute Unfallhäufigkeit aller Verkehrsarten sinkt mit zunehmendem Alter, lediglich beim Fußgängerverkehr ist bei Personen über 65 Jahren eine eklatante Zunahme der Unfälle zu verzeichnen.

Die Probleme älterer Menschen mit dem Gehen sind zu beheben, soweit die Ursache nicht in der psychischen oder physischen Konstitution liegt: Schon in der Planung sind dann meist die Bedingungen zu wenig berücksichtigt worden, unter denen ältere Menschen zu Fuß unterwegs sind. Verbesserungen sind auch aus Sicht jüngerer Fußgänger notwendig:

Das Zufußgehen muss den anderen Arten der Fortbewegung mindestens gleichgestellt werden.

Kenntlichmachen der Bordsteinkanten
Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass das optische Hervorheben der Bordsteinkanten, z.B. das Bemalen mit Signalfarben, die Unfallhäufigkeit bei Fußgängem vermindern kann.

längere Ampelphasen für Fußgängerüberwege
Die Grünphasen an Fußgängerüberwegen sind - wenn überhaupt - auf die Gehgeschwindigkeit von normalen Durchschnittsfußgängern ausgelegt, bei der ältere Menschen etc. oft nicht mithalten können. Sind Verkehrsinseln vorhanden, so wird die Flüssigkeit des Autoverkehrs der des Fußgängerverkehrs vorgezogen, so dass zum Überqueren einer Kreuzung mehrere Ampelphasen nötig sind.

abgesenkte Bordsteinkanten an querungsgeeigneten Stellen
Dadurch wird insbesondere Rollstuhlfahrern und in ihrer Beweglichkeit Eingeschränkten, aber auch Eltern mit Kinderwagen oder Einkaufenden mit Rollwagen ermöglicht, die Konzentration vom Hindernis ,,Bordsteinkante" auf den Verkehr zu richten. Dabei ist darauf zu achten, dass die abgesenkten Stellen einander gegenüber liegen und nicht zugeparkt werden können.

bessere Sicherung der Kreuzungspunkte mit dem Straßenverkehr
Es müssen situationsangepasste, d.h. vor allen übersichtliche und einsehbare Querungsmöglichkeiten geschaffen werden, die stärker als bisher die Querungssicherheit von Fußgängern erhöhen. Dies ist eher durch bauliche als ordnungsrechtliche Maßnahmen zu erreichen.

mehr Überquerungsstellen
Neben der fußgängergerechten Umgestaltung bzw. Ergänzung vorhandener Querungsstellen müssen zusätzliche geeignete Querungsmöglichkeiten geschaffen werden. Insbesondere Über- oder Unterführungen sind für ältere Menschen nur schwer oder überhaupt nicht nutzbar und sollten vermieden werden.

genügend breite und sichere Fußwege
Eine Mindestbreite der Fußwege von 2,O m ist sicherzustellen. Das ,,Gehwegparken" darf nur noch in Ausnahmefällen toleriert werden. Von auf dem Gehweg fahrenden Radfahrern dürfen keine Gefährdungen älterer Fußgänger ausgehen.

Fußwegenetze zwischen Bedarfsschwerpunkten
Ziel- und Quellpunkte von bevorzugten Verkehrsströmen älterer Menschen sollten durch ein geeignetes Netz von Fußwegen verbunden und mit geeigneten Maßnahmen an den ÖPNV angebunden sein.

Vermeidung von Treppen und Anbringen geeigneter Geländer
Höhenunterschiede sollten nach Möglichkeit durch Rampen geeigneter Steigung überwunden werden können. Sind Treppen unumgänglich, so ist darauf zu achten, dass sie die richtige Steigung, geeignete Tritthöhen und -längen haben sowie mit griffigen und nicht ausschließlich ästhetischen Geländern in der richtigen Höhe versehen werden.

Ausreichende und ansprechende Ruhepunkte
Gerade bei anstrengenden Fußmärschen, z.B. bei der Rückkehr vom Einkaufen, oder an ansprechenden Orten, wie z.B. städtische Plätze oder Parks, sind geeignete Rastmöglichkeiten, also etwa Sitzbänke oder -gruppen für ältere Menschen besonders notwendig, um die Aufteilung von langen Wegen in zu bewältigende Einzeletappen zu ermöglichen.

Radverkehr

Der Radverkehr spielt bei älteren Menschen eine generell weniger wichtige Rolle. Dennoch ist dies regional sehr unterschiedlich ausgeprägt: In ausgesprochen radfahrfreundlichen Städten ist die Zahl auch älterer Radfahrer erstaunlich hoch.

Im internationalen Vergleich stellt sich die Situation wie folgt dar: In der Bundesrepublik legten Ältere 1985 im Durchschnitt ca. 160 km pro Jahr zurück, in den Niederlande sogar 800 km, in den USA dagegen nur 3,5 km. In Finnland legten ältere Menschen bis zu 70% aller Fahrten mit dem Fahrrad zurück!

Diese Zahlen verdeutlichen in etwa, dass ältere Menschen nicht primär durch physische Probleme, sondern überwiegend durch eine radfahrfeindliche Verkehrsplanung an der Benutzung des Rades gehindert werden. Zudem ist der Radverkehr aus planerischer Sicht an und für sich bereits förderungswert.

Entwicklung von Radfahrwegenetzen
Radfahrer benötigen sichere Verkehrswege. Hier muss eine sinnvolle Abstimmung zwischen dem subjektiven Bedürfnis - besonders älterer Menschen - nach Radwegen und einer erhöhten Gefährdung der Radfahrer an Kreuzungspunkten von Radwegen und abbiegenden Straßen erfolgen. Die StVO-Novelle aus dem Jahr 1997, die die Radwegebenutzungspflicht neu regelt, ist Senioren allerdings nur schwer vermittelbar.

Bei der Ausarbeitung von Radwegenetzen sollten nicht nur die klassischen Ziele (Ausbildungs- und Freizeiteinrichtungen) angebunden werden, sondern auch die von älteren Menschen häufig aufgesuchten Zielpunkten (wie z.B. Altentagesstätten, Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, Friedhöfe etc.).

Gewährleistung der guten Befahrbarkeit von Radfahrrouten
Bei für ältere Menschen besonders geeigneten Radfahrrouten muss die Befahrbarkeit durchgehend gewährleistet sein: Es dürfen keine Poller, Schlaglöcher etc. vorhanden sein, die Bordsteinkanten müssen abgesenkt sein, das Zuparken von Radwegen muss verhindert werden usw...

Entwicklung bzw. Bereitstellung von für ältere Menschen geeigneten Fahrradtypen
Ältere Menschen benötigen Fahrräder, die sowohl ihren körperlichen Fähigkeiten als auch ihrem Sicherheitsbedürfnis im Verkehr entgegenkommen. Projekte zur Wartung, zum Umbau, zur Neuentwicklung und zur Bereitstellung bzw. Verleih altengerechter Fahrräder, z.B. Dreiräder bzw. solche mit tiefem Durchstieg, hätten hier auch beschäftigungs- und sozialpolitische Wirkung.

Öffentlicher Personen-Nahverkehr (ÖPNV)

Öffentliche Verkehrsmittel gewährleisten das höchstmögliche Maß an persönlicher Sicherheit und ermöglichen weitgehenden Verzicht auf unliebsame Tätigkeiten, wie Wartungsarbeiten am eigenen Fahrzeug, Werkstatt- oder TÜV-Besuch etc.. Für ältere Menschen besitzt der ÖPNV eine besondere Bedeutung zur Überwindung größerer städtischer Entfernungen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mit einem individuellen Verkehrsmittel oder zu Fuß zurückgelegt werden können.

Spezielle Tarife für ältere Menschen
Die Verkehrsunternehmen sollten - stärker als bisher - Nahverkehrstarife anbieten, die der finanziellen Situation vieler Rentner besser angepasst sind. Die Nutzungsberechtigung von Inhabern des Schwerbeschädigtenausweises ist ein erster Ansatz, aber nicht nur Schwerbeschädigte haben schmale Renten. Ein Ausschluss der Verkehrsspitzenzeiten sollte bei Sondertarifen für Senioren mit Kleinstrenten vermieden werden. Zusätzlich sollten Tarifpläne inhaltlich und in der Darstellung so vereinfacht werden, dass sich nicht nur Ältere besser damit zurechtfinden können.

Niveaufreie Fahrzeugeinstiege, Einstiegshilfen
Bei den Verkehrsbetrieben sollte die Umstellung auf Niederflurfahrzeuge verstärkt betrieben werden, um den Einstieg in die Fahrzeuge zu erleichtern. Bis zur gesamten Erneuerung des Fuhrparks sollten ältere Fahrzeuge mit geeigneten Einstiegshilfen versehen werden (z.B. Lichtschrankensicherung anstelle von aufzustoßenden Sicherungsklappen).

Wiedereinführung von Schaffnern o.ä.
Mit dem ”Selbstbedienungsprinzip" hatten und haben ältere Menschen mehr Schwierigkeiten als andere. Die Übertragung dieses Prinzips auf den ÖPNV hatte in den 60er und 70er Jahren den Wegfall des Schaffnerpersonals und damit auch das Fehlen eines einkalkulierbaren Hilfspotentials zur Folge. Auf bestimmten Routen könnte deshalb die Wiedereinführung von begleitendem Personal zur Hilfe beim Ein- und Ausstieg und zur Auskunft über Anschlüsse und Tarife etc. geprüft werden.

Verbessertes Fahrverhalten
Ein häufiger Kritikpunkt Älterer am ÖPNV ist die in ihren Augen rücksichtslose Fahr- und Verhaltensweise der Fahrzeugführer, z.B. der Anfahr- und Bremsruck bei noch nicht oder nicht mehr sitzenden Fahrgästen. Bus- und Straßenbahnfahrer sollten deshalb geschult werden, ihr Fahrverhalten zu verbessern, um z.B. längere Haltephasen, ruckfreies Fahren sowie eine verständliche Haltestellenansage zu gewährleisten.

Geeignete Ausstattung der Haltestellen
Nicht nur für Frauen, auch für ältere Menschen stellt die Haltestelle einen ”Angstraum" dar. An besonders wichtigen Haltestellen sollten einsehbare, zugfreie, warme und bequeme Wartegelegenheiten eingerichtet oder nachgebessert werden.

PKW-Verkehr

Der Anteil älterer Menschen, die im Besitz eines PKWs sind, ist z.Z. noch weit unterdurchschnittlich. Dies liegt u.a. am hohen Anteil von Frauen, die über keinen Führerschein verfügen. Der PKW-Besitz älterer Menschen wird aber aufgrund der lebensgeschichtlichen Prägung der jetzigen ,,Vor-Senioren" rapide zunehmen, so dass auch hier Überlegungen notwendig sind, wie die Bedürfnisse älterer Menschen mit dieser Verkehrsart in Übereinstimmung gebracht werden können.

Attraktivierung von umwelt- und stadtverträglicheren Verkehrsarten
Generell wäre es von Vorteil, wenn der motorisierte Individualverkehr auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden könnte: Vermeidung von motorisiertem Individualverkehr sollte Vorrang vor allen anderen Maßnahmen haben. Hiervon sollten auch ältere Menschen nicht ausgenommen sein. Es gilt, überflüssige PKW-Fahrten sowie nicht oder nicht mehr notwendigen PKW-Besitz durch geeignete Maßnahmen, wie z.B. die Attraktivierung alternativer Verkehrsmittel, möglichst weit zu reduzieren.

Verkehrsberuhigung
Ergänzend sollten bauliche, aber auch ordnungsrechtliche Maßnahmen der Geschwindigkeitsreduzierung - insbesondere in Wohngebieten - verstärkt umgesetzt werden. Sie kommen dem Bedürfnis älterer Autofahrer nach übersichtlichen Verkehrssituationen und niedrigen Geschwindigkeiten entgegen. Nebenbei hätte dies auch positive Auswirkungen auf den Fußgänger- und Radverkehr. Es könnten zusätzliche Aufenthalts- und Ruhepunkte für Besorgungsgänge sowie eine Gefährdungsreduzierung für Radfahrer ohne die umstrittenen Radwege geschaffen werden.

Altenspezifische Angebote von Mitfahrzentralen
Die sinnvolle Einrichtung der Mitfahrzentralen könnte durch spezielle Angebote für ältere Menschen (z.B. Vermittlung von Fahrern, die maximal Tempo 100 bzw. besonders behutsam fahren, Bildung von Fahrgemeinschaften) ihre meist auf jüngere Leute beschränkte Zielgruppe erweitern und damit die Notwendigkeit des PKW-Besitzes für ältere Menschen reduzieren. Einen ähnlichen Effekt könnte die Organisation bzw. der Ausbau von Lieferdiensten spezieller Geschäfte haben.

Gemeinsamer PKW-Besitz
Der gemeinsame Besitz eines PKWs durch mehrere ältere Menschen ist geeignet, sowohl die Kfz-Dichte zu verringern als auch eine weitgehende Mobilität älterer Menschen zu gewährleisten. Inzwischen existieren in der Bundesrepublik und im benachbarten Ausland eine Reihe von Beispielen für das sog. Car-Sharing, die das Funktionieren solcher Einrichtungen eindrucksvoll belegen. Leider werden diese Modelle bisher hauptsächlich von Interessenten mittleren und jüngeren Alters in Anspruch genommen, aber bei Wohngemeinschaften war dies ursprünglich ja auch der Fall.

Umtauschaktionen ,,Führerschein gegen Monatskarten"
Um älteren Menschen den Verzicht auf ihren PKW zu erleichtern, können Umtauschaktionen ,,Führerschein gegen Mehrmonats- oder Jahreskarten des ÖPNV" durchgeführt werden. Es lohnt sich, die Finanzierung solcher Aktionen, einmal konkret durchzurechnen: Der Besitz, genauer der Betrieb eines PKWs verursacht volkswirtschaftliche Kosten in beträchtlicher Höhe. Die Ersparnis dieser Kosten durch Verzicht auf ein Auto könnte in die Finanzierung von Fahrkarten des ÖPNV umgelenkt werden. Inzwischen gibt es auch bereits erste positive Beispiele.

Reduzierung des ,,Schilderwalds"
Die Überfrachtung des Straßenraums mit Verkehrszeichen und Hinweisschildern überfordert nicht nur ältere, sondern auch bereits jüngere Autofahrer. Es ist endlich an der Zeit, dass diese Forderung in konkrete Maßnahmen umgesetzt wird, allerdings mit Ausnahme der für die Verkehrssicherheit gerade der Fußgänger relevanten Beschilderungen.

Welche planerischen Konsequenzen sind zu ziehen?

Die Konsequenzen aus dem bisher Gesagten sollten primär in der Beseitigung der festgestellten Mängel bestehen. Es wäre aber vermutlich verkehrt, zu fordern, dass die Kommunen altenspezifische Verkehrskonzepte aufstellen sollten. Neben diesen würden dann auch sicherlich solche für Kinder, alleinerziehende Elternteile und andere besondere Bedarfsgruppen eingefordert werden. Im Endeffekt würde eine Vielzahl sehr zielgruppenspezifischer Überlegungen und Planungen nebeneinanderher existieren, obwohl die Überschneidungsbereiche sehr groß wären. Sinnvoller scheint mir die Einbeziehung der Bedürfnisse relevanter Bedarfsgruppen in die regulär zu erarbeitenden Verkehrsplanungen zu sein. Im Fall der älteren Menschen werden wir uns ohnehin angewöhnen müssen, ihre Belange bei raumrelevanten Planungen stärker als bisher zu berücksichtigen.

Hier bietet sich für Planer eine gute Möglichkeit, ihre Kenntnisse über die Verkehrssituation einer immer wichtiger werdenden Bevölkerungsgruppe zu vertiefen, nämlich die intensive Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Die Betroffenheit älterer Menschen durch Verkehrsprobleme führt zu einer Problemkenntnis, die bei sorgfältiger Berücksichtigung ihrer Sichtweise zu einer wesentlich verbesserten Wirkung der Maßnahmen beitragen kann.

Es ist deshalb notwendig, sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Entwicklung von Maßnahmenvorschlägen und erst recht bei der Wirkungskontrolle der umgesetzten Vorschläge betroffene Ältere als Experten für ihre eigene Situation zu verstehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grund können die hier vorgeschlagenen Maßnahmen nur als erste Sammlung von Aspekten verstanden werden, die durch die Erfahrungen und Kenntnisse älterer Menschen noch ergänzt, konkretisiert und vertieft werden muß. (1)

Quellennachweis

  1. Die Tatsache, dass an der Arbeitsgruppe “Senioren - Mobil im Umweltverbund?“ „Internationalen Jahr der Senioren 1999“ trotz Einladungen keine einzige Vertrerin und kein einziger Vertreter eines Senioren-Verbandes oder einer Senioren-Partei anwesend war und es auch keine eintzige Absage gab, dürfte zumindest andeuten, dass der Weg über die direkte Einbindung von Senioren bei Planungsvorhaben überaus wichtig ist.

 

Dieser Artikel von Dr. Ing. Gerd Reesas, Planungsgruppe Vor Ort war das Eingangsreferat zur Arbeitsgruppe ”Senioren - Mobil im Umweltverbund?” beim 12. Bürgerinitiativen-Verkehrskongress 13.-16. Mai 1999 in Köln und ein ist ein Auszug aus der Veröffentlichung: SENIOREN zu FUSS - Aufsätze, Dokumente und Zwischenrufe, FUSS e.V. (Hrsg.), 2000

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