Europäische Verkehrspolitik 2010-2020:

Die Europäische Kommission hat eine Mitteilung zur Zukunft des Verkehrs veröffentlicht (1) und bis Ende September 2009 waren alle interessierten Kreise aufgerufen, sich an einer Konsultation zu beteiligen. In einem 2001 vorgelegten Weißbuch und dessen Aktualisierung 2006 wurden Weichenstellungen für die europäische Verkehrspolitik bis zum Jahre 2010 vorgeschlagen. Zum einen sollen diese durch die Mitteilung evaluiert, zum anderen aber soll die künftige Entwicklung im Bereich der europäischen Verkehrspolitik bis 2020 angerissen werden. Die Studie enthält zahlreiche bedenkenswerte Ansätze und ist folgend mit Anmerkungen aus der Stellungnahme des FUSS e.V. angereichert.

In der Mitteilung wird herausgestellt, dass „die europäische Verkehrspolitik die … Ziele (aus dem Weißbuch) größtenteils erreicht hat, indem sie einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Wirtschaft und ihrer Wettbewerbsfähigkeit leistete, Marköffnung [sic!] und Integration erleichterte, hohe Qualitätsstandards für Sicherheit, Gefahrenabwehr und Passagierrechte setzte und die Arbeitsbedingungen verbesserte.“ Dass die Marktöffnung „generell zu größerer Effizienz und geringeren Preisen geführt“ hat, wird nicht etwa durch die Preisgestaltung für die Haushaltsführung der europäischen Bürger belegt, sondern peinlicherweise mit der offensichtlichsten Fehlinvestition durch Steuergelder: „Dies wird im Luftverkehr deutlich, wo dieser Prozess am weitesten vorangeschritten ist.“ (1992-2008 Streckenanstieg um 120 %, mehr als ein Drittel Billigfluggesellschaften).

Verkehr ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit

Nach diesem Loblied folgt dann auch die Ernüchterung: „Die Fortschritte in Bezug auf die mit der Strategie für nachhaltige Entwicklung verfolgten Ziele waren hingegen eher begrenzt … das europäische Verkehrssystem (ist) in mehrfacher Hinsicht noch nicht auf dem Pfad der Nachhaltigkeit.“ Obwohl die Luftverschmutzung verringert werden konnte, „besteht weiterhin Handlungsbedarf, vor allem zur Verringerung der Emission von Stickoxiden und der für die menschliche Gesundheit besonders gefährlichen Feinstaubpartikel (PM10)…“. Festgestellt wurde, dass „die Treibhausgasintensität des Verkehrs… durch die Nutzung umweltfreundlicherer Energiequellen nicht erheblich verringert“ wurde, noch immer werden zu 97 % fossile Brennstoffe benutzt. Die Verkehrsunfälle konnten reduziert werden, mit 39.000 Verkehrstoten im Jahr 2008 ist allerdings zu erwarten, dass die angestrebte Halbierung bis 2010 nicht erreicht werden kann. Beklagt wird zudem, dass „der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu einem Verlust an Lebensräumen für Tier- und Pflanzenarten sowie zur Zersiedlung der Landschaft geführt“ hat. Der Lärm wird in der Analyse nicht erwähnt.

Eindringlich wird dargestellt: „Die Milderung der negativen Umweltauswirkungen des Verkehrs wird immer dringender.“ Bei der Erreichung des Zieles der „Verringerung der Treibhausemissionen in der EU um 20 % gegenüber dem Niveau von 1990“ kommt dem Verkehr „eine Schlüsselrolle zu.“ „Die Umwelt ist weiterhin der wichtigste Politikbereich, auf dem weitere Verbesserungen notwendig sind.“

Die Verlagerung ist der passende Schlüsselbart

Aber wie ist das zu erreichen, wenn weiterhin jede Verbesserung durch den steigenden motorisierten Verkehr zunichte gemacht und für die kommenden Jahre z.B. durch Zuwanderung und interne Mobilität der Waren- und Personenverkehr beträchtlich zunehmen wird? „… bei der Verlagerung von Verkehrsaufkommen auf effizientere Verkehrsträger, … waren nur begrenzte Fortschritte zu verzeichnen.“ Immerhin wird begrüßt, dass „der Rückgang des Schienenverkehrsanteils offenbar gestoppt werden konnte.“ Für den recht wesentlichen Stadtverkehr fiel den Verfassern lediglich auf, dass „in vielen Städten der Anteil des Fahrrads am Verkehrsträgermix in den letzten Jahren erheblich“ angestiegen ist. Der etwaige Rückgang des Fußverkehrs wurde nicht erwähnt. Der Anstieg des Radanteiles wäre ja in diesem Zusammenhang nur interessant, wenn damit gleichzeitig Verluste beim motorisierten Individualverkehr MIV einher gingen.

Da haben wir ein paar Probleme

Die Kommission nennt im Anschluss an die Analyse sechs „Trends und Herausforderungen“:

  • die Alterung, ohne die Frage zu berühren, ob sie den MIV erhöhen oder vermindern wird (vgl. mobilogisch! 1-07 bis 3-07),
  • die Zuwanderung und interne Mobilität, also z.B. das eindeutig MIV-orientierte Pendeln zwischen den alten Grenzen,
  • ökologische Herausforderungen, dass „viele EU-Bürger weiterhin einer gefährlich hohen Belastung durch Luftverschmutzung und Lärm ausgesetzt sind“,
  • eine Verknappung fossiler Brennstoffe,
  • die den Prognosen zufolge unverminderte Verstädterung, „der Anteil der in Städten wohnenden EU-Bevölkerung soll von 72 % im Jahr 2007 auf 84 % im Jahr 2050 ansteigen“
  • „globale Trends von Belang für die europäische Verkehrspolitik“ wie z.B. die „Integration der EU mit Nachbarregionen (Osteuropa, Nordafrika)“ oder der weltweite Anstieg der „betriebenen Pkw von heute 700 Millionen bis 2050 auf mehr als 3 Milliarden“.

Die weitergehende Verstädterung hat eine signifikante Größenordnung und bietet auch eine Chance, die Probleme z.B. der Luftverschmutzung und der Klimabelastung kompakter anzugehen. Auf den Nahverkehr entfallen schon jetzt „40 % der CO2-Emissionen und 70 % der Emissionen sonstiger Schadstoffe im Straßenverkehr.“ FUSS e.V. regte an, die Zukunftsstudie dahingehend zu überarbeiten, dass Nah- und Fernverkehre für eine differenzierte Ausformulierung der strategischen Ziele für die Zukunft der europäischen Verkehrspolitik deutlicher benannt werden und dadurch eine detailliertere Fokussierung auf notwendige Maßnahmen im Stadtverkehr ermöglicht wird.

Die Kommission folgerte aus den Trends: „Die unmittelbarste Priorität scheint dabei die bessere Integration der verschiedenen Verkehrsträger zu sein, um so die Gesamteffizienz des Verkehrssystems zu verbessern und die Entwicklung und Einführung innovativer Technologien zu beschleunigen.“ Im ersten Satzteil scheint noch die notwendige Verlagerung auf effizientere und nachhaltigere Verkehrsmittel mitzuklingen, der darauf folgende Ansatz ist allerdings für den Stadtverkehr kaum nachvollziehbar.

Aber der Verkehrssektor ist aus Sicht der EU in erster Linie ein Wirtschaftszweig (7 % des europäischen BIP, über 5 % der Arbeitsplätze) und da sind technologieorientierte Ansätze ein Aufputschmittel, egal, ob sie etwas zum nutzerfreundlichen und nachhaltigeren System beitragen oder nicht.

Begrüßenswerte Zielvorgaben

Nach der Bewertung der Verkehrspolitik der letzten zehn Jahre und der erwarteten Weiterentwicklung formuliert die Kommission folgende sieben „politische Ziele für einen nachhaltigen Verkehr“:

Im Gegensatz zur deutschen Straßenverkehrs-Ordnung (siehe Artikel in dieser ml) steht „ein qualitativ hochwertiger und sicherer Verkehr“ an erster Stelle. Damit ist u.a. gemeint: „Mehr Sicherheit in der städtischen Umwelt kann dazu führen, dass die Bevölkerung in stärkerem Maße den öffentlichen Verkehr oder das Fahrrad nutzt oder zu Fuß geht, was nicht nur mit einer Verkehrsentlastung und geringeren Emissionen verbunden wäre, sondern sich auch positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken würde.“ Da dies ein Satz ist, den man gerne mal zitiert, hier die Quelle: Abschnitt 4.1, Randnummer 43. Da die Aussage „Die Infrastruktur sollte stets gewartet sein, und Verbesserungsmaßnahmen sollten koordiniert werden.“ direkt darauf folgt, sollte man annehmen, dass damit auch die Infrastruktur für den ÖPNV, den Fuß- und den Radverkehr gemeint ist.

Bereits in der zweiten Priorität steht „ein ökologisch nachhaltigerer Verkehr“ (also ein „nachhaltigerer“ und nicht ein „nachhaltiger“). Hier werden ein „sparsamer Umgang mit endlichen Ressourcen“ besonders herausgestellt und neben den Maßnahmen zur Verminderung der Luftschadstoff- und Treibhausgasemissionen auch die Lärmbelastung genannt.

In den folgenden beiden Punkten geht es um die „Wahrung der Führungsstellung der EU bei Verkehrsdiensten und –technologien“ und um die „Fähigkeit zur Anpassung an die Innovation und neue Markterfordernisse“. Gemeint sind damit „intelligente Systeme für den Straßenverkehr“ sowie „Verkehrsmanagementsysteme für den Schienenverkehr und den Luftverkehr“, also letztlich die Förderung der Wirtschaft.

In der sechsten Zielvorgabe geht es um die „Verkehrssteuerung durch intelligente Preisbildung“. Man erhofft sich als Laie, dass die EU die folgende Aussage auch mit konkreten Maßnahme-Vorstellungen verbindet: „Wie in jedem anderen Wirtschaftssektor ist auch im Verkehr wirtschaftliche Effizienz nur dann möglich, wenn die Preise alle von den Nutzern tatsächlich verursachten – internen und externen – Kosten widerspiegeln. … Die Verkehrsunternehmen und Bürger sind nicht immer in der Lage, aus mehreren Transportalternativen die volkswirtschaftlich und ökologisch beste Option auszuwählen, bei einer korrekten Anlastung der externen Kosten sämtlicher Verkehrsträger und Verkehrsmittel würden sie jedoch mit der Entscheidung für die billigere Lösung automatisch die richtige Wahl treffen.“ Bravo, nur wurde diese Aussage nicht mehr bei den konkreten Empfehlungen aufgegriffen.

Die siebente Zielvorgabe betrifft die „Verbesserung der Zugänglichkeit“. Hier wird erst einmal beklagt, dass „viele öffentliche Dienste … im Bestreben nach Effizienzsteigerung zunehmend zentralisiert“ wurden und dass diese „Tendenz zur Konzentration von Tätigkeiten. Wegen einer Verschlechterung der Zugangsbedingungen `Zwangsmobilität` in großem Umfang zur Folge“ hatte (hat, haben wird). Diese Aussage betrifft zweifellos eines der Zentralprobleme der Verkehrserzeugung, kommt im Abschnitt „Ziele“ ein wenig spät in die Zielgerade, endet aber immerhin in der Aussage, dass Behörden „bei Flächennutzungsplänen oder Standortentscheidungen“ die „Folgen für den Mobilitätsbedarf von Kunden und Beschäftigten“ berücksichtigen sollten (könnten, müssten) – eher ein frommer Wunsch als eine tatkräftige letzte prioritäre Zielvorgabe der europäischen Verkehrspolitik.

Wenige konkrete politische Instrumente

Im letzten Abschnitt, es geht um „die verfügbaren politischen Instrumente…, um diese Ziele zu erreichen und Nachhaltigkeit zu verwirklichen“, sackt die Mitteilung zur Frage der Maßnahmen in Ballungsräumen geradezu sturzflugartig ab. Bedauert wird lediglich, dass „die Rolle der EU bei der Regulierung des Nahverkehrs …. aus Gründen der Subsidiarität begrenzt“ ist. Angefügt wird, dass die EU durchaus „einen Rahmen bereitstellen (kann), innerhalb dessen die lokalen Behörden leichter Maßnahmen treffen können“. Solche Leitlinien folgen dann auch, allerdings taucht die Förderung des ÖPNV-, Fuß- und Radverkehrs nicht auf, sondern der „Ausbau der Infrastruktur“, um „Staus und Zeitverluste zu vermeiden.“ Staus sollen verhindert werden, durch „Verkehrs- und Stauinformationen“ (Abteilung Wirtschaftsförderung), die „Beseitigung von Engpässen“ (sprich weiterer Straßenbau) und die „Ermittlung von grünen Korridoren“ womit nicht etwa grüne Wege für Fuß und Rad gemeint sind). Dabei sind Staus ein Fieberthermometer, um aufzuzeigen, wo notwendig ist, was bei der Analyse als bisher noch nicht ausreichend umgesetzt bezeichnet wurde: eine Verlagerung des Verkehrsaufkommens.

FUSS e.V. beklagte die einseitige Betrachtungsweise: Wenn in diesem Abschnitt Aussagen zum Stau im MIV (zur „Verringerung von Umweltverschmutzung“) getroffen werden, ist zu fragen, warum es nicht auch z.B. eine Aussage geben kann, die eine Reduzierung der Tempi in Ballungsräumen empfiehlt, wo in absehbarer Zeit 84 % der Europäer leben werden.

Man ist (siehe Analyse) auch mit den Tempo-30-Regelungen nicht recht weitergekommen, weil die Maßnahmen zur Senkung der Geschwindigkeiten bisher in der Regel auf das Nebenstraßennetz und häufig auf das Aufstellen von Verkehrszeichen beschränkt blieben, die Probleme aber überall in der Stadt und konzentriert in den Hauptverkehrsstraßen auftreten. Wieso werden keine Verkehrsberuhigungsmaßnahmen empfohlen, mit denen die Ziele Verkehrssicherheit, soziale und ökologische Nachhaltigkeit konsequenter erreicht werden könnten, als dies bisher geschah? Wieso stellt man einen punktuellen Anstieg des Radverkehrs fest, folgert aber nicht daraus, dass die Infrastruktur und Netzgestaltung für die drei Verkehrsarten im Umweltverbund verbessert werden sollten, wenn man auf diesem Weg weitere Erfolge erzielen will?

Korrekt hervorgehoben wird, dass „Aufklärungs-, Informations- und Sensibilisierungskampagnen… eine wichtige Rolle …spielen, (um) das künftige Verbraucherverhalten zu steuern und Entscheidungen für nachhaltige Mobilität zu fördern.“ Wir werden diesen Part wohl weiterhin auch in Richtung EU-Kommission spielen müssen.

In Kürze

Die Europäische Kommission bereitet ein zweites Weißbuch 2010 über die Zukunft des Verkehrs vor. Sie analysiert in ihrer Mitteilung offen, dass die Ziele des Weißbuches 2001 bis jetzt im Bereich der Nachhaltigkeit weitgehend verfehlt worden sind und dass man insbesondere bei der Verlagerung von Verkehrsströmen auf umweltfreundliche Verkehrsträger nicht weitergekommen sei; bietet aber letztlich althergebrachte und bisher erfolglose Instrumente: mehr Technologie, Stauminderung und Ausbau der Straßeninfrastruktur.

Quellennachweis:

  1. Mitteilung der Kommission KOM(2009) 279/4. Eine nachhaltige Zukunft für den Verkehr: Wege zu einem integrierten, technologieorientierten und nutzerfreundlichen System als PDF.

Weitere Informationen:

 

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2009, erschienen.

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