Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele

Begegnen und Flanieren im Zentrum der Bundeshauptstadt

In der Fußverkehrsstrategie für Berlin (vgl. mobilogisch! 3/10, S.17-21) ist als Modellprojekt 5 die Umsetzung von drei Pilotvorhaben „Begegnungszonen“ vorgesehen. Eine davon soll in einem „Bereich mit herausgehobener touristischer Bedeutung“ umgesetzt werden. Da lag es nahe, dass sich der FUSS e.V. jetzt mit dem Vorschlag in die Findungs-Phase einbringt, Deutschlands bekannteste „Flaniermeile“ in den Abwägungsprozess einzubeziehen. Nach einem ersten Fußverkehrs-Audit ergaben sich weitere Vorschläge für Maßnahmen, die für andere Modellprojekte oder Ziele der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ stehen. Der ziemlich genau eine Meile lange Straßenabschnitt könnte ein verbindendes Projekt mit Synergie-Effekten werden.

„Die Prachtstraße Unter den Linden zählt heute zu den berühmtesten Straßen der Welt. Sie ist für Einheimische und Touristen gleichermaßen ein beliebtes Ziel: Als Flaniermeile im Herzen Berlins bietet sie weltstädtisches Flair und ein Panorama großartiger historischer Bauten.“, so oder so ähnlich steht es in zahlreichen Reiseführern. Für viele der etwa 130 Millionen Tagesbesucher pro Jahr in Berlin dürfte die Straße eher eine Ernüchterung sein. Um ihren vorauseilenden guten Ruf besser einschätzen zu können, zunächst eine geschichtliche Einordnung:

Flanieren und marschieren

Die damals unbefestigte Straße besteht seit 1527 und wurde später zum Reit- und Jagdweg erklärt. Sie war und ist noch heute die breiteste Straße Berlins und blieb mit ihrer bis zu sechsreihigen Lindenbepflanzung über Jahrhunderte der Erholung und dem Vergnügen der Berliner vorbehalten. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte sie sich zur Prunk- und Prachtstraße der preußischen Residenz. Hier marschierte Napoleon an der Spitze seiner Garden 1806 durch das Brandenburger in Berlin ein und hier erhob sich sechs Jahre später das Volk gegen die napoleonische Unterdrückung. Die Straße Unter den Linden diente seither der Demonstration der Macht, sah Paraden, Fürstenempfänge, Bürgerkriege, ausziehende und heimkehrende Truppen und in Friedenszeiten hektische Verkehrssituationen und viele SpaziergängerInnen.

Auch im bürgerlichen Zeitalter behielt die Straße ihren Charakter als Promenade der Müßiggänger. Sie repräsentierte Preußen, und zwar sowohl das militärische, das sich im Zeughaus in aller Pracht zeigte, als auch das geistig-künstlerische, für das schon früh das erste Opernhaus der Welt außerhalb einer Schlossanlage stand. In der sogenannten Gründerzeit entwickelte sich die Straße zum eleganten, großbürgerlichen Boulevard. Doch bereits ein Jahr nach der Machtübernahme machten die Nazis aus ihr eine Aufmarschstraße. Die Mittelpromenade wurde schmaler und für schwere Fahrzeuge befestigt, die beiden Fahrdämme auf jeweils 14 Meter verbreitert und die Lindenbäume wurden abgehackt und durch Fahnenmaste ersetzt. Die Straße Unter den Linden war als Teil der 50 Kilometer langen Ost-West-Achse vorgesehen, die Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ machen sollte. Doch sehr bald danach waren von den 64 Gebäuden, die früher einmal zwischen dem Brandenburger Tor und der Universität gestanden hatten, nach Kriegsende nur noch 13 erhalten.

Verkehrsgeschichte

Die Straße Unter den Linden hat auch eine bemerkenswerte verkehrspolitische Geschichte. Eigens für sie gab es die ersten „Verkehrs“-Regeln - z.B. „Man grüßt Se. Majestät auf der Straße durch Frontmachen…“ - und Bekleidungsvorschriften für FußgängerInnen. Die Aufenthaltsfunktion der Straße war wichtig und so konnten um 1900 auf der Mittelpromenade neben den festen Bänken zusammen­klappbare Stühle gemietet werden, so dass man sich in kommunikativen Sitzgruppen positionieren konnte. Hier bekam auch die erste Konditorei die preußische Sondergenehmigung, Kaffeehaustische auf die Straße zu stellen. Unter den Linden war dann die erste Straße mit Gasbeleuchtung, hier erstrahlte erstmals elektrisches Licht in einem Restaurant und es gab das erste elektrifizierte Hotel.

Nachdem „feine Herrschaften“ vergeblich versuchten, Transportmittel auch für die „kleinen Leute“ zu verhindern, verkehrten ab 1846 hier die ersten „Doppeldecker“ (die Herren oben, die Damen unten) und ab 1905 auch die ersten motorisierten Omnibusse. An der Kreuzung Friedrichstraße regelte der erste Verkehrspolizist Preußens den Verkehr und tauschte wegen des Lärms bald seine Trillerpfeife gegen eine Trompete aus. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug übrigens 15 Stundenkilometer und man durfte bis 1928 auf beiden Straßenseiten in beide Richtungen fahren.

Die Straße Unter den Linden ist also als ein „Freizeitweg“ entstanden und wurde erst in den letzten Jahrzehnten ihrer nunmehr 485-jährigen Geschichte zu einer autobahnähnlichen Kraftfahrzeugschneise mit bis zu etwa 30.000 Fahrzeugen am Tag. Doch dürfte die Mehrheit der Touristen an dieser Stelle der Stadt noch immer zu Fuß unterwegs sein. Deshalb schlägt der FUSS e.V. vor, das durch die Nazi-Diktatur für eine innerstädtische Straße verfehlte Nutzungskonzept durch folgende Maßnahmen wieder rückgängig zu machen:

Mittelpromenade reaktivieren

Selbst in Tageszeiten mit einem verhältnismäßig geringen motorisierten Verkehrsaufkom­­men ist ein unbekümmertes Spazierengehen nicht möglich. Das liegt hauptsächlich an den sechs Unterbrechungen durch Querstraßen mit teilweise sehr geringem Kraftfahrzeugverkehr, die damit auch den knapp einen Kilometer langen Mittelstreifen unterteilen. Deshalb wird vorgeschlagen, durch die Herstellung niveaugleicher Gehwegüberfahrten, zumindest aber durch Teilaufpflasterungen, die Promenade aus der Sicht der Fußgänger optisch und auch verkehrsrechtlich zusammenzufügen, ohne die Straßenstruktur wesentlich zu beeinflussen. Darüber hinaus sollten Fußverkehrs-Audits an allen Querungsstellen durchgeführt werden, damit ein Wechsel der Straßenseiten und das Erreichen der Mittelpromenade für Fußgänger sicherer und komfortabler wird.

Licht für die Fußgänger

Nachdem die Nazis die an Kettenzügen über der Mittelpromenade hängenden Lampen entfernten, befinden sich heute an den Rändern diffuse Leuchtstäbe, die direkt am Fahrstreifen leuchten, den Fußgängern aber wenig nutzen. Auch in den Seitenbereichen werden fast durchgängig nicht die Gehwege, sondern die Pkw-Parkstreifen und Fahrradabstellanlagen beleuchtet. Deshalb gibt es an Straßenabschnitten ohne Schaufenster „Dunkelzonen“, wie sie ein großstädtischer Boulevard nicht haben dürfte. Es sollte also geprüft werden, in wie weit eine Verdrehung der Leuchten in den Seitenbereichen möglich ist oder ob gesonderte Beleuchtungseinrichtungen für die Fußwege anzu­bringen sind. Darüber hinaus ist durch Fußgänger-Audits festzustellen, ob durch die derzeitige schlechte Ausleuchtung der Querungsstellen die Fußgängerinnen und Fußgänger bei Dunkelheit erkennbar sind.

Fußwege vernetzen

Eine Flaniermeile Unter den Linden muss mit den anliegenden Fußverkehrsflächen vernetzt werden. So müssen die Mittelpromenade und die beiden seitlichen Gehwege an den Fußgängerbereich am Brandenburger Tor angebunden werden. Auf der anderen Seite der Flaniermeile muss das touristisch relevante Nikolai-Viertel (Berliner Altstadt) sicher und komfortabel über den „Spreeweg“ (Grüner Hauptweg Nr. 01) erreichbar sein. Stadt der von den Nazis geplanten überdimensionierten Stadtautobahn gäbe es dann eine West-Ost-Achse für Fußgänger und Flaneure.

Fazit

Wenn sich Berlin nicht nur als eine Stadt mit Flanier-Tradition, sondern auch aktuell als Stadt des Spazierengehens und Flanierens präsentieren möchte, muss die Straße Unter den Linden aufgewertet werden. Als einer der ersten Schritte wird empfohlen, die im Jahr 1934 vorgenommene Umgestaltung der Straße vom Boulevard zur Aufmarsch- und Kraftfahrzeugstraße, verbunden mit einer Abwertung der Mittelpromenade und Verbreiterung der Kraftfahrzeugflächen, schrittweise wieder rückgängig zu machen. Die Kosten für die vom FUSS e.V. vorgeschlagenen Maßnahmen sind verhältnismäßig gering, die Signalwirkung wäre dagegen über Berlins Grenzen hinaus erheblich.

In Kürze

In einer 27-seitigen Studie stellt der FUSS e.V. die wechselhafte Geschichte der über Deutschland hinaus bekanntesten Straße Unter den Linden als Verkehrsader, Aufmarschstraße und Flaniermeile dar, lässt Poeten und Schriftsteller ihre Eindrücke schildern und kommt zu dem Schluss, dass der Ruhm aus alten Zeiten stammt. Doch bietet die Beschlusslage zur „Fußverkehrsstrategie“ beste Grundlagen dafür, zukünftig wieder mehr Lebensqualität in diesen Straßenzug zu bekommen.

Begegnungszone

Es wird empfohlen, zumindest auf einer Teilstrecke eine „Begegnungszone“ für alle VerkehrsteilnehmerInnen einzurichten, in der nach dem Vorbild der Regelungen in der Schweiz, Frankreich und Belgien die Fußgänger Vorrang haben. Als Modell für diese Maßnahme könnte der Opernplatz in Duisburg stehen. Das Instrumentarium zielt ausdrücklich auf die Einbeziehung von Hauptverkehrsstraßen und ist deshalb bekanntlich trotz der Unterstützung durch VerkehrswissenschaftlerInnen und –verbände in Deutschland noch nicht in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert. Deshalb wird ein Modellvorhaben nach §46 StVO vorgeschlagen, mit dem französischen Zeichen für die Verkehrsberuhigung und mit Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Für den Linienbusverkehr sollen allerdings zwei Richtungsfahrbahnen erhalten bleiben. Damit soll der zentrale Bereich der Straße Unter den Linden verkehrsberuhigt und weitestgehend vom schnellen Autoverkehr entlastet werden.

Info:

Die Studie finden Sie unter www.flaniermeile-berlin.de und detaillierte Quellenangaben in der PDF-Version im Download-Bereich.

Informationen über die Fußverkehrsstrategie finden Sie unter www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/fussgaenger/strategie/index.shtml.

Den besten Überblick über die Regularien zur Verkehrsberuhigung bietet die Website www.strassen-fuer-alle.de.

Wer sich über die Aktivitäten des FUSS e.V. in der Bundeshauptstadt einen Überblick verschaffen möchte, findet diesen unter www.berlin-zu-fuss.info.

 

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2012, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.

Ein Bundesweit bemerkenswertes Modellvorhaben

In der Bundeshauptstadt hat sich der Anteil der Fahrradwege in den letzten Jahren auf 13 % und der Wege zu Fuß sogar auf 30 % erhöht, während sich der Anteil mit motorisierten Verkehrsmitteln (MIV) auf ca. 31 % vermindert hat (Modal Split 2008). Möglicherweise wird der Fußverkehr in diesem Jahr den MIV als Spitzenreiter ablösen. Ein Anlass mehr, um darüber nachzudenken, wie der Fußverkehr weiterhin gestärkt und Berlin zumindest Deutschlands „Fußgängerhauptstadt“ werden kann. In Europa wetteifern ja bereits andere Städte wie z.B. London oder Kopenhagen um diesen Titel, wohl noch eine Nasenlänge voraus. Berlin will diese Städte nicht „überholen“, ohne sie vorher „eingeholt“ zu haben, deshalb braucht alles seine Zeit. Es folgt ein Zwischenbericht.

Wohin der Weg führen soll

Im Erläuterungsbericht des 1994 beschlossenen Berliner Flächennutzungsplans wurde die Vision eines „stadtverträglichen Verkehrs“ mit „gleichwertigen Mobilitätschancen“ daran festgemacht, dass alle Bevölkerungsgruppen ohne Auto ihre Ziele in der Stadt in vergleichbaren Zeiträumen problemlos erreichen. „Nicht notwendiger Verkehr soll durch eine Stadtstruktur der kurzen Wege reduziert, der Anteil der umweltfreundlichen Verkehrsmittel durch ein leistungsfähiges Angebot im öffentlichen Verkehr und attraktive Wegenetze für Fußgänger und Radfahrer erhöht werden...“.

Im Jahr 2003, inzwischen waren alle Stadtteile von allen Bürgern begeh- und befahrbar, beschloss der Senat den „Stadtentwicklungsplan Verkehr“. Auch in dieser strategischen Leitlinie der künftigen Verkehrspolitik ist als Leitbild die „Stadt der kurzen Wege“ definiert, in der „die Mobilität im Nahbereich ... durch überall günstige Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer“ erleichtert werden soll. Beim Fußgängerverkehr werden Steigerungspotenziale gesehen, „wenn Sicherheit, Bequemlichkeit und Attraktivität der öffentlichen Räume erhöht werden“. In der „Teilstrategie Innere Stadt“ wird das Ziel formuliert, „durch Entlastung vom motorisierten Individualverkehr dem Fußgängerverkehr mehr Platz zu geben und die Bedingungen des Fußgängerverkehrs zu verbessern: durch ausreichend breite Gehwege, eine bessere Wegweisung und verbesserte Querungsmöglichkeiten von Hauptverkehrsstraßen.“

Im Maßnahmenkatalog ist die Weiterentwicklung und Umsetzung der Konzeption für ein fußgängerfreundliches Berlin näher ausgeführt, einschließlich der Benennung der prioritären Orte und Maßnahmen (Verbesserung der Bedingungen für den Fußverkehr insbesondere durch Verbesserung der Querungsmöglichkeiten an Hauptverkehrsstraßen / Erhöhung der Verkehrssicherheit, Verbesserung der Wegweisung, Verbesserung der Aufenthaltsqualität).

Fachbeirat und Selbstschulung

Ende September 2009 wurde durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Beratungsgremium „Berlin zu Fuß“ konstituiert. Berufen wurden zwanzig Mitglieder, darunter z.B. Prof. Dr. Rolf Monheim Uni Bayreuth, Michael Adler Fairkehr GmbH, Martin Schlegel vom BUND-Berlin, Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, der Polizei, des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, der Landesseniorenbeirat, der Behindertenbeauftragte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senatsverwaltungen und aus den Bezirken, sowie der zum Sprecher des Beirates gewählte Vertreter des FUSS e.V. (Autor). Die Mitglieder und weitere Gäste und Referentinnen und Referenten trafen sich bis Anfang Mai 2010 zu vier weiteren Tagessitzungen. Die Moderation lag bei Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Spath & Nagel. Geleitet und aktiv unterstützt wurde das Gremium vom Abteilungsleiter (Verkehr) Dr. Friedemann Kunst, dem Referatsleiter (Grundsatzangelegenheiten der Verkehrs­politik, Verkehrsentwicklungsplanung) Burkhard Horn, dem Referatsleiter (Planung und Gestaltung von Straßen und Plätzen) Heribert Guggenthaler und nicht zuletzt durch den für den Fußverkehr zuständigen Mitarbeiter Horst Wohlfahrth von Alm.

Mitte Dezember 2009 führte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zum Thema „Begegnungszonen“ ein zusätzliches Workshop durch. Darüber hinaus fand Mitte April 2010 ein Experten-Workshop zum Thema „Berlin – Hauptstadt der Fußgänger!“ statt, an der drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung, der Beirats-Moderator, sowie 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. teilnahmen, einem durch Hanna Schlagk moderiertem Brainstorming. Ziel der Gesamtheit dieser Veranstaltungen war die „Beratung bei der Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Berlin“ (Einladungsschreiben der Staatssekretärin Maria Krautzberger, 21.7.2009).

Das Verfahren entwickelte sich schnell zu dem wohl bisher umfangreichsten Fachseminar in Deutschland über Fußverkehrsfragen und war dank der einleitenden Grundlagen durch die Moderation von vorne herein ergebnisoffen und thematisch breit angelegt. Der Bogen spannte sich über Themenschwerpunkte wie „Infrastruk­tur für den Fußverkehr“, „Netzzusammenhänge“, „Gesundheit und Sicherheit“ zu „Information und Kommunikation“. Behandelt wurden neben den im Zusammenhang mit dem Fußverkehr zu erwartenden Themen wie z.B. „Querungsanlagen“, „Erreichbarkeit von Haltestellen“, „Verkehrssicherheit“, „Zu Fuß zur Schule“ oder „Wegweisungen“ auch nicht so häufig diskutierte Themen wie z.B. „soziale Sicherheit“, „Beleuchtung“, „Sitzgelegenheiten“ und „Fußgängerstadtpläne“. Durch die Fachreferenten aus Berlin, anderen deutschen Städten und der Schweiz und die sehr intensiven und kompakten Diskussionen waren die Beiratssitzungen für alle Beteiligten gleichzeitig Innovation und Lernprozess. Dies wurde berücksichtigt durch die Aufnahme eines „Weiterbildungsangebot(es) für Mitarbeiter zum Thema Fußverkehr“ und die Verpflichtung zu einer „Koordination und Abstimmung der beschlossenen Maßnahmen innerhalb der öffentlichen Verwaltung“ in die Umsetzungsstrategie.

In der letzten Sitzung wurde der durch die Moderation kontinuierlich ergänzte Entwurf einer „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ noch einmal durchgehend im Zusammenhang diskutiert und es wurden die Schwerpunkte für mögliche Modellvorhaben festgelegt. Dieser Entwurf wird nun dem Senat und dem Rat der Bürgermeister als Beschlussfassung vorgelegt. Der Beirat „Berlin zu Fuß“ soll das Verfahren durch jährliche Sitzungen „nachsteuernd“ begleiten, die vertretenen Akteure an der Umsetzung der Strategie mitwirken.

Ziele und Leitlinien

Der noch nicht beschlossene Entwurf enthält eine sehr gute Zusammenstellung der Argumente für die Förderung des Fußverkehrs, eine auf die Sachbereiche verteilte Analyse der bestehenden Bedingungen für Fußgänger in der Stadt und darauf aufbauend zahlreiche zum Teil sehr differenzierte Maßnahmenvorschläge für alle Politik- und Verwaltungsebenen. Unabhängig von den noch möglichen Änderungen im Abstimmungsprozess lassen sich aber bereits beispielhaft die drei strategischen Ziele benennen:

  1. Steigerung der Nutzerzufriedenheit: 2011 soll „eine Methodik zur Bestimmung der Zufriedenheit unterschiedlicher Nutzergruppen… entwickelt und eine Ausgangsbefragung durchgeführt“ werden. Bis 2016 soll der Anteil „zufrieden oder sehr zufrieden… um mindestens 10 % gesteigert werden.“
  2. Senkung der Unfallzahlen: „Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten oder schwer verletzten Fußgänger soll (gegenüber 2009) bis 2016 um mindestens 20 % reduziert werden.“
  3. Barrierefreie öffentliche Räume: „Bis 2010 sollen alle wesentlichen Fußverkehrsverbindungen und Gehwege an Einmündungen und Kreuzungen … barrierefrei nutzbar sein.“ Mit diesem Ziel wären z.B. weit über ¼ aller Maßnahmenvorschläge aus dem Projekt „Querungsanlagen im Verlauf der 20 Grünen Hauptwege in Berlin“ zu erledigen (vgl. Beitrag „Fußverkehrs-Audit in der Bundeshauptstadt“).

„Voraussetzung für eine effiziente Umsetzung dieser Ziele sind insbesondere folgende Schritte:“

    • „Der Anteil der Ausgaben für den Fußverkehr am Verkehrsetat Berlins (soll) schrittweise erhöht (werden), um längerfristig ein Volumen zu erreichen, das seinem Anteil am Gesamtverkehr gerecht wird (Orientierung: 3 Euro pro Einwohner jährlich für speziell auf den Fußverkehr ausgerichtete Programme und Projekte)“, das entspricht etwa 10 Mio. Euro im Haushaltsjahr.
    • In der Fußverkehrsstrategie werden zehn Modellprojekte benannt, die spätestens 2012 begonnen und bis 2016 umgesetzt sein sollen, wobei von einem „geschätzten Kostenvolumen von rund 2 Mio. Euro für alle 10 Projekte (d.h. 500 Tsd. Euro/Jahr)“ ausgegangen wird.

    Die Finanzierung der Umsetzung der Fußverkehrsstrategie fußt auf einem laufenden (Fußgängerüberwege-Programm) und drei neuen Bausteinen: 10 Modellprojekte, Programm „Barrierefreie öffentliche Räume“ und eine Verstetigung von Förderprojekten zum Fußverkehr ab 2017.

    Handlungsfelder und Maßnahmenbereiche

    Neben den in einer Fußverkehrsstrategie zu erwartenden allgemeinen Aussagen wie z.B. „Stadt der kurzen Wege“, „ausreichend häufige, bedarfsgerechte, kurze und sichere Querungsmöglichkeiten über die Fahrbahnen des Autoverkehrs“ usw. sollen folgend nur einige wenige weitere Maßnahmenbereiche erwähnt werden:

    • Es wird festgestellt, dass „Sichtbarrieren wie hohe Hecken, geschlossene Erdgeschosse, mit Werbung zugeklebte oder durch Jalousien verschlossene Fenster“ auf Fußgänger demotivierend wirken und deshalb „Bezirke und Senat … im Rahmen der Bauleitplanung sowie von Bauberatung und Baugenehmigungsverfahren und bei ihren eigenen Vorhaben darauf hin(wirken), dass eine straßenzugewandte Bebauung mit gut erreichbaren Zugängen und möglichst vielfältigen und publikumsorientierten Erdgeschossnutzungen realisiert…wird.“
    • Im gleichen Sinne werden „die Bezirke und die Senatsverwaltung… bei der Aufstellung von Bebauungsplänen und der Prüfung und Genehmigung von Vorhaben darauf hinwirken, dass … (Einzelhandelsstandorte, Einkaufsstraßen und Zentren) für Fußgänger auf kurzen, sicheren und attraktiven Wegen erreichbar sind und optimal in die örtlichen Fußgängernetze integriert werden.“
    • Sehr intensiv diskutiert wurden „Routen und Netze für den Fußverkehr“, die nach Auffassung der Beiratsmitglieder neben den Gehwegen „für den Fußverkehr von herausragender Bedeutung sind“ und für die Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung des Fußverkehrs auf Freizeit- und Alltagswegen genutzt werden sollen. Darüber hinaus sind „bei Netzplanungen … Umwege zu erfassen und Möglichkeiten einer Abkürzung (z.B. über Kleingartenwege, Blockdurchwegungen…) zu prüfen.“
    • Trotz des „im Vergleich mit anderen Städten überwiegend … guten Qualitätsstandard(s)“ der berliner Gehwege und des hohen Standards der Ausführungsvorschriften soll „eine Planungshilfe für die Durchführung von teilräumlichen Schwachstellenanalysen (Fußverkehrs-Audis)“ erarbeitet und in einem Beispielraum getestet werden. „Gefahrenpunkte im vorhandenen Fußverkehrsnetz (sind) – auch unabhängig vom Unfallaufkommen – zu identifizieren und geeignete Maßnahmenvorschläge zu entwickeln.“
    • Lichtsignalanlagen wurden im Verhältnis zu anderen Themenstellungen im Beirat recht zurückhaltend diskutiert. Es sollen drei Pilotprojekte umgesetzt werden, zur „Erhöhung von Sicherheit, Komfort und Klarheit sowie der Beschleunigung des Fußverkehrs (direkte Überquerung im Wegeverlauf, Reduzierung der Querungsweiten, fußgängerfreundliche Signalschaltungen).“ Das gemeinsam vom BUND und FUSS e.V. eingebrachte Positionspapier „Fußgängerfreundliche LSA-Schaltungen in Berlin“ soll bei der Präzisierung der Pilotprojekte herangezogen werden.
    • Um gleichzeitig Fuß- und Radverkehr zu fördern, sollen „mit Vorrang Lösungen zur Führung des Radverkehrs außerhalb der Bewegungsräume des Fußverkehrs“ verfolgt werden. Dies soll auch auf die Bereitstellung von Fahrradabstellmöglichkeiten zutreffen, die nötigenfalls im Fahrbahnbereich anzuordnen sind.
    • Beschleunigungsmaßnahmen im öffentlichen Personennahverkehr ÖPNV sollen „den Umweltverbund insgesamt im Fokus … haben…. Bei Maßnahmen an Lichtsignalanlagen zur Beschleunigung (des ÖPNV) sind die Auswirkungen auf die Belange des Fußverkehrs sorgfältig abzuwägen.“ Darüber hinaus sind „die Zuwege zu den Haltestellen … fußgängerfreundlich, umwege- und barrierefrei zu gestalten.“
    • „Berlin will sich beim Bund dafür einsetzen, die Begegnungszone oder eine ähnliche verkehrliche Regelungsmöglichkeit in der Straßenverkehrsordnung zu verankern“ und will entsprechende Pilotprojekte fördern. „Im untergeordneten Netz, in dem i.d.R. (bereits) Tempo 30 gilt, werden die Bezirke für Straßen mit besonderen Anforderungen für den Fußverkehr Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 20 km/h bzw. 10 km/h prüfen.“

    Fazit

    Die in der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ enthaltenen Maßnahmen und Modellvorhaben sind für ein Programm einer deutschen Kommune bahnbrechend; sie werden bei Umsetzung dennoch nicht flächendeckend die gesamte Stadt fußgängerfreundlicher machen. Sie können allerdings das Klima wesentlich verbessern und Merkpunkte setzen, an denen das Thema „Umweltverbund“ weiter diskutiert werden kann. Bekanntlich sind auch verkehrspolitische Entwicklungen und Weichenstellungen von personellen Besetzungen und Zusammensetzungen abhängig. In der Berliner Verwaltung sind diese zurzeit so „fußgängerfreundlich“ wie nie zuvor. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der Wille seitens aller Beteiligten ist glaubhaft, wird aber immer wieder – verwaltungsintern und in der öffentlichen Diskussion - auf dem Prüfstand stehen. FUSS e.V. will weiterhin kontinuierlich und konstruktiv mitwirken, nicht zuletzt auch wegen der erhofften Ausstrahlung dieses Modellprojektes auf andere Kommunen in Deutschland.

    In Kürze

    Nach der Radverkehrsstrategie wird in Berlin, wie vom Senat bereits vor sieben Jahren beschlossen, eine Fußverkehrsstrategie auf den Weg gebracht. Die in der noch nicht öffentlich vorliegenden Fassung enthaltenen programmatischen Aussagen stehen „unter dem übergeordneten Ziel einer stadt-, sozial- und umweltverträglichen, gesunden, sicheren und ökonomisch effizienten Bedienung der städtischen Mobilitätsbedürfnisse“. Die damit verbundene Kommunikationsstrategie soll „ein Verkehrsklima schaffen, das den Fußverkehr als selbstverständlichen und gleichberechtigten Bestandteil der städtischen Mobilität begreift und begünstigt.“

    Info:

    • Die zitierte „Fußverkehrsstrategie für Berlin, Spath+Nagel (Hrsg.), im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Abt. VIIB, Stand 6.5.2010“ ist aufgrund des laufenden Beschlussverfahrens nicht veröffentlicht.
    • Bei Interesse: www.stadtentwicklung.berlin.de > Verkehr > Verkehrspolitik und Verkehrsplanung > Fußgängerverkehr > z.B. Beispiele aus der Praxis
    • Die Auswertung des Workshops finden Sie unter fuss-ev.de > Themen > Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele > Berlin-Hauptstadt der Fußgänger!

     

    Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.

    Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.

Die Raumwahrnehmung älterer Fußgänger an städtischen Verkehrsadern

Große Verkehrsadern können besonders für ältere Fußgänger zur großen Herausforderung werden. Es gilt, diese Räume nicht nur physisch, sondern auch „emotional“ barrierefrei zu gestalten, um sie ohne Stress und Angstgefühle nutzbar zu machen.

Viele Hauptverkehrsstraßen sind vor allem durch den privaten Pkw geprägt: Überbreite Fahrspuren, Stellplätze, Lärm und Abgase lassen häufig nur wenig Raum für andere Funktionen und Ansprüche. Dabei ist die HauptverBeitragkehrsstraße eindeutig mehr als nur ein Verkehrsraum. Hier konzentrieren sich die Standorte von Einzelhandel, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen, hier bündeln sich die Linien des ÖPNV und befinden sich stadtbildprägende Strukturen und Gebäude. Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise zu zentralen Anlaufpunkten und Identifikationsträgern in der Stadt. Gerade für ältere Menschen stellen sie wichtige Alltagsräume im Quartier dar. Aufgrund sinkender Mobilitätsradien werden die Angebote und Erfahrungsräume im wohnungsBeitragnahen Bereich, zu dem nicht selten auch große Verkehrsadern mit ihrer Nutzungsvielfalt gehören, zunehmend wichtiger. Als Orte alltäglicher Erledigungen, als Erinnerungsraum, Orientierungshilfe oder Quelle neuer Eindrücke, Hauptverkehrsstraßen werden zu einer bedeutenden Ressource. Eine „Flucht“ zu ruhigeren, vielleicht attraktiveren Lagen ist nicht immer möglich.

Sensible Verkehrsteilnehmer

Von älteren Menschen per se als schutzlosen und hilfsbedürftigen Verkehrsteilnehmern zu sprechen, würde dem heterogenen Bild des Alterns entgegenstehen und nicht der Realität entsprechen. Tatsache ist jedoch, dass insbesondere hochaltrige Menschen vermehrt von Einschränkungen betroffen sind, die die Mobilität beeinträchtigen. In den kommenden Jahrzehnten ist mit einem rapiden Ansteigen gerade dieser Gruppe zu rechnen. Da mit zunehmendem Alter die eigenen Füße zum mit Abstand wichtigsten Verkehrsmittel werden, sind ältere Fußgänger und ihre spezifischen Anforderungen ein zu Recht dauerhaft aktuelles Forschungsthema. Stellen Lärm, Abgase, Geschwindigkeiten und eine am Pkw orientierte Gestaltung bereits für den durchschnittlichen Fußgänger eine Belastung dar, können sie für ältere Menschen schnell zur großen Herausforderung werden. Städtische Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise nicht nur zur physischen, sondern auch zur emotionalen BarrieBeitragre und können meidendes und rückzugsorientiertes Verhalten auslösen. Im Rahmen der diesem Artikel zugrundeliegenden Diplomarbeit wurden ältere Fußgänger mit Mobilitätseinschränkungen an großen Verkehrsadern begleitet und insbesondere das subjektive Empfinden wurde dokumentiert (vgl. Kasten „Méthode des Itinéraires“). Der herausfordernde, in Teilen sogar überfordernde Charakter städtischer Hauptverkehrsstraßen konnte dabei eindrücklich beobachtet werden.

Emotionale Barrierefreiheit

Wie müssen nun also altersgerechte Hauptverkehrsstraßen aussehen? In der Planung dominieren häufig Konzepte, die sich vor allem mit physischen Komponenten wie z.B. einer verbesserten Querbarkeit oder einem barrierefreien Vorankommen befassen. Die Fachliteratur zum Thema Barrierefreiheit ist mehr als umfangreich. Konzepte, die aber auch subjektive Aspekte wie etwa die Themen Stress, Anregung oder die Identifikation mit dem Raum beinhalten sowie die Einflüsse des Straßenverkehrs auf die Wahrnehmung berücksichtigen, sind selten. Doch Handlungskonzepte müssen nicht nur physisch altersgerecht sein, sondern auch die emotionale Dimension des Zufußgehens abdecken. Es gilt, integrierende „alterssensible“ Strategien zu entwickeln.

Als wichtiges Handlungsfeld lässt sich die sichere Erreichbarkeit und Querbarkeit hervorheben. Während der Spaziergänge wurden nahezu durchweg große und andauernde AngstBeitraggefühle beim Queren der Straße geäußert. Auch Ampeln erzeugten für die begleiteten Fußgänger häufig nur eine Schein-Sicherheit. Freies Queren ohne Hilfseinrichtungen wie z.B. Lichtsignalanlagen wurde selbst bei großen und für die Gehgeschwindigkeit objektiv ausreichenden Lücken im Verkehrsfluss abgelehnt oder als gefährliches Risiko eingestuft.

Zufußgehen heißt auch Aufenthalt

Von besonderer Bedeutung für alternssensible Konzepte ist darüber hinaus die Beschäftigung mit den Themen Aufenthalt und soziale Teilhabe – gerade an Hauptverkehrsstraßen. In Bezug auf ältere Menschen erhält der Begriff des Aufenthalts schließlich eine völlig neue Bedeutungsdimension, wenn dieser nicht nur auf freiBeitragwillige Tätigkeiten begrenzt, sondern auch auf unfreiwillige Aufenthaltszeit ausgedehnt wird. Aufgrund von Einschränkungen in der Mobilität ist bei vielen hochaltrigen Fußgängern von einer deutlich verlangsamten Gehgeschwindigkeit und einem erhöhten Bedarf an Ruhepausen auszugehen. Dadurch wird die Zeit, die an einer Hauptverkehrsstraße verbracht werden muss z.B. im Vergleich zu jüngeren Personen merklich erhöht. Der Fußweg entlang einer großen Verkehrsader kann für ältere Menschen also durchaus zum kleineren Aufenthaltserlebnis werden. Neben Möglichkeiten für einen stressfreien Aufenthalt müssen darüber hinaus optimale Voraussetzungen für eine gute Orientierung und Identifikation mit dem Raum geschaffen werden. Es geht darum, Halt zu geben, den Raum kontrollierbarer und anregender zu gestalten.

Schlüsselmaßnahmen sind hier sicher der Rückbau von oftmals überbreiten Fahrbahnen und eine Geschwindigkeit deutlich unter den momentan noch üblichen 50 km/h. Dadurch werden wichtige Voraussetzungen für eine verträglichere Abwicklung der verkehrlichen Belastungen geschaffen: Weniger Lärm, überschauBeitragbarere Fahrgeschwindigkeiten, leichter querbare Straßenräume und vor allen Dingen: mehr Raum für eine attraktivere Straßenraumgestaltung. Doch viele Straßen lassen nur begrenzt Spielraum für großangelegte Umbauten. Hier kommt es v.a. auf kompensatorische, d.h. subjektiv ausgleichende Lösungen wie z.B. mehr Grün, mehr Farbe oder einfach mehr AbwechsBeitraglung im Straßenraum durch ein attraktives Erscheinungsbild und lebendige Randnutzungen (Schaufenster etc.) an. Die Möglichkeit zur positiven Ablenkung, zur Beschäftigung mit Aspekten außerhalb des Verkehrsgeschehens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, was auch die Stadtspaziergänge nochmals bestätigten. Auch kleine Pufferräume zur Fahrbahn, z.B. durch eine Baumreihe, können die Bedrohlichkeit der Verkehrskulisse mindern helfen.

Untrennbar verbunden mit dem Thema Aufenthalt ist auch der Bereich Kommunikation. Gerade dieser Aspekt ist in diesem wichtigen Alltagsraum mit seinen zahlreichen Chancen auf Zufallstreffen von Bekannten besonders wichtig. Ist jedoch kein Platz für großzügige „Ruheinseln“, die die Verkehrskulisse zumindest subjektiv abmildern, bieten alternativ die Mündungsbereiche der Nebenstraßen häufig große Potenziale (z.B. „Gehwegnasen“). Abseits des direkten Verkehrslärms und der Abgase, doch immer noch in Sicht- und Laufweite, könnten auf diese Weise attraktive „Ausweichräume“ für Kommunikation und neue Eindrücke geschaffen werden. An historisch bedeutsamen Stellen oder in Sichtachsen zu stadtbildprägenden Gebäuden können darüber hinaus gezielt platzierBeitragte und attraktiv gestaltete Ruhebereiche zu identitätsstiftenden Erinnerungs- und BeobachBeitragtungsräumen werden. Im Einzelfall bleibt zu prüfen, inwieweit solche Räume z.B. durch gestaltete Glaselemente zumindest subjektiv vom Verkehr geschützt werden können.

Die Liste weiterer „prothetischer“, d.h. unterstützender, Elemente für mehr Altersgerechtigkeit ist lang: Haltegriffe an Licht- und Ampelmasten in regelmäßigen Abständen, Sitzrouten mit multifunktionalen Sitzgelegenheiten, abschnittsBeitragweise Farbkonzepte zur besseren Orientierung, Wasser als positives Gegengeräusch zum Lärm, ablenkende „Duftinseln“ mit besonders intensiv blühenden Baumarten oder z.B. einfach nur Mittelinseln, die über die Regelbreiten hinausgehen und das Warten im Verkehr weniger bedrohlich erscheinen lassen. Die Maßnahmen schaffen dabei keine ausgrenzenden „Altenboulevards“, sondern bieten im Sinne eines Designs für alle auch anderen Nutzergruppen deutliche Vorteile.

Beteiligung bei allen Schritten

Es gilt, maßgeschneiderte Konzepte für den Einzelfall zu entwickeln. Eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums kann jedoch nicht am Schreibtisch stattfinden, sondern muss die älteren Menschen selbst mit einbeziehen.

Die Ergebnisse der Diplomarbeit haben deutlich gezeigt, wie stark „objektive“ Straßenraumbewertungen durch den Planer von der subjektiven Sicht der älteren Fußgänger selbst abwichen. Dabei wird noch einmal die Schwierigkeit offenbart, subjektive Aspekte operationalisieren zu können. Durch eine frühzeitige und intensive Beteiligung wird auch die Chance offen gehalten, den Planungsprozess mit kontrollieren zu können und nicht passiv vor neugestaltete VerkehrsBeitragumwelten gestellt zu werden, in denen die Orientierung schwer fällt.

Neben einer weiteren Erforschung der Einflüsse des Verkehrs auf die Raumwahrnehmung wird zukünftig verstärkt zu prüfen sein, inwiefern neue Konzepte der Stadtverkehrsplanung wie z.B. Shared Space oder Begegnungszonen positiv zur Aufwertung großer Verkehrsadern beitragen können und subjektiv wahrgenommen werden. Die Ansätze verheißen spannende Möglichkeiten, werfen aber z.B. hinsichtlich des Sicherheitsempfindens auch Fragezeichen auf. Doch egal welche Ansätze gewählt werden, eine ganzheitliche „alterssensible“ Sicht erscheint zwingend notwendig.

Hintergrund: „Méthode des Itinéraires“

In den 70er Jahren von J.-Y. Petiteau geprägt, beschreibt die „Méthode des Itinéraires“ eine besondere Form der Stadtspaziergänge, bei der die subjektive Sicht des Einzelnen im Vordergrund steht. Im Rahmen eines dreistufigen Verfahrens wechseln Forscher und Testperson mehrmals die Rollen. Der Forscher tritt dabei v.a. als Beobachter auf, während die Testperson eine Führungsrolle auf dem ihr vertrauten Terrain einnimmt.

In Kürze

Städtische Hauptverkehrsstraßen sind gerade für ältere Menschen wichtige Alltags- und Bewegungsräume. Durch eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums könnten Straßenräume geschaffen werden, die mit weniger Stress und Angstgefühlen nutzbar sind. Dabei kommt der Beteiligung älterer Menschen selbst eine Schlüsselrolle zu.

Weitere Informationen:

  • Petiteau, Jean‐Yves; Pasquier, Elisabeth 2001: La Méthode des Itinéraires – récits et parcours. Grosjean, Michèle; Thibaud, Jean‐Paul (Hrsg.): L’espace urbain en méthodes. Marseille: Ed. Parenthèses
  • Franz, Matthias 2008: Ältere Menschen an städtischen Hauptverkehrsstraßen. Diplomarbeit an der Fakultät Raumplanung, Technische Universität Dortmund
  • Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

Dieser Artikel von Matthias Franz ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.

Experten-Workshop im Rahmen des Beirats „Berlin zu Fuß“

am 16. April 2010, 14:00-17:30 Uhr im „Rittersaal“ in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin

Der Experten-Workshop bestand aus

  • einer Einführung über die Fußverkehrspolitik des Landes Berlin durch Herrn Heribert Guggenthaler von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin,
  • einer Erläuterung der Vorgehensweise im Beirat „Berlin zu Fuß“ zur Erarbeitung einer Fußverkehrs-Strategie durch Herrn Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Berlin,
  • einer kurzen Begrüßung durch den Vorsitzenden des FUSS e.V. Fachverbandes Fußverkehr Deutschland Arndt Schwab aus Koblenz und
  • einer methodenunterstützten Ideensammlung mit einer anschließenden gemeinsamen Erläuterung und punktuellen Diskussion, moderiert durch die Trainerin für Soziales Lernen, Kommunikation und Konfliktbearbeitung Hanna Schlagk aus Potsdam.
  • Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. aus 11 verschiedenen Städten in Deutschland und der Schweiz, drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung sowie der Moderator des Beirates „Berlin zu Fuß“.

Die etwa insgesamt 75-minütige Ideensammlung erfolgte vierstufig, beginnend mit Notizen aller Teilnehmer/innen, in Zweiergesprächen, in Vierer-Gruppen und zuletzt im Plenum. Angeregt wurden die Teilnehmer/innen durch Fragestellungen allgemeiner Art über ihre Erfahrungen aus Heimat- und bereisten Städten hinsichtlich ihrer Fußgängerfreundlichkeit (1) und in einer zweiten Phase durch eine zufällig „gezogene“ Rollenübernahme von Fußgängern verschiedenen Geschlechts und Alters, mit unterschiedlichen örtlichen Zielen, Interessen oder auch Beeinträchtigungen (2). Diese Phase der freien Äußerungen, wie sich die Teilnehmer/innen im Idealfall eine Fußgängerstadt vorstellen, welche Randbedingungen dabei wichtig sind und welche Anforderungen sich aus der übernommenen Rolle ergeben würden, erbrachten insgesamt etwa 240 Hinweise.

Im abschließenden 45-minütigen Plenum wurden Wiederholungen an der Pinnwand doppelt gesteckt und die Karten nach Gebieten grob sortiert. Assoziative Formulierungen und kurze Stichworte wurden erläutert und teilweise diskutiert. Auf eine weitere Arbeitsphase zur Beurteilung der Umsetzungsmöglichkeiten der Vorschläge musste aus Zeitgründen verzichtet werden.

Zur besseren allgemeinen Verständlichkeit und der einfacheren Verwertbarkeit der Aussagen wurden die Stichworte und Sätze nach dem Workshop noch einmal gekürzt, soweit notwendig erläutert und in kleinere Themengruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Zusammenstellung der Ergebnisse ist zu beachten, dass sich die Aussagen auf verschiedene Fragestellungen im Verlaufe der Ideensammlung beziehen.

Zusammengefasste Zielfrage des Workshops: Welche Aspekte und Details sind den als Vorstandsmitglieder der Fußgängerlobby „bewußteren“ Fußgängerinnen und Fußgängern besonders wichtig, wenn es darum geht, in der Stadt verkehrssicher, gesund und angenehm gehen zu können.

Fußgängerstadt = lebenswerte + liebenswerte Stadt (Eckpunkte)

  • Kompakte Stadtstruktur = Geringe Entfernung zu den Zielen, Stadt der kurzen Wege mit dichter Nahversorgung und zahlreichen kleinen Unterzentren, die Architekten achten auf die Außenwirkung von Gebäuden aus der Kopfhöhe
  • Fahrstreifen- und Fahrstreifenbreitenverringerungs-Programm
  • Viele Straßencafés und Geschäftsauslagen in Einkaufsstraßen, Obstverkäufer an Straßenecken usw.
  • Öffentlicher Raum ohne Motorlärm und guter Luft, aber mit viel Verkehr durch Menschenkraft
  • Platz und Plätze Aufenthalt, fürs Zufußgehen und für „Sondernutzungen“, Stadtmusikanten, Künstler, Gesprächsgruppen
  • Kein Zwang zur ständigen Aufmerksamkeit durch sichere und komfortable Fußverkehrsanlagen
  • Kinder dürfen die Straße zum Spielen nutzen, es gibt interessante öffentliche Räume und der Schulweg zu Fuß macht Spaß
  • Viel Grün im Straßenraum, Vorgärten, Baumscheibenbepflanzungen
  • Übersichtlichkeit und Einblicke gewähren, d.h. keine unnötigen Sichtbehinderungen durch hohe Hecken, Straßenmöblierung, die Häuser sind zur Straße hin offen (Fenster)
  • Wege sind abwechslungsreich gestaltet, aber störende Elemente (Barrieren) sind entfernt
  • Geringer MIV-Bedarf, natürlich ist Tempo 30 die Höchstgeschwindigkeit, es gibt zahlreiche Bereiche und Zonen mit geringerer Höchstgeschwindigkeit, Verkehrsberuhigten Bereichen, Begegnungszonen
  • Querungsanlagen sind weniger Ampeln, sondern ein enges System von Zebrastreifen, Gehwegnasen, Fahrbahnmarkierungen, etc. (vgl. Shared Space)

Keine Übertreibung bei der Stadtinszenierung, es muss nicht jede Ecke planerisch bedacht sein, durchaus auch Brachflächen mit Gerümpel zulassen und mehr geheimnisvolle Ecken

Bei jeder MIV-Verkehrsplanung muss grundsätzlich überdacht werden, welche Auswirkungen sie auf den Fußverkehr haben könnten

Fuß-, Rad- und ÖV-Verkehr beschleunigen + MIV entschleunigen

  • Fußgänger wollen gehen und freiwillig stehen bleiben, aber nicht ständig stehen bleiben müssen, d.h. tote Wartezeiten durch Fußgängerstaus an Engpässen im Wegesystem und an nicht optimierten Signalanlagen müssen reduziert werden (Fußverkehrs-Beschleunigungs-Programm)
  • Abbau gängelnder Barrieren, keine Poller in der Mitte des Weges
  • Entwicklung einer konkreten Zielvorgabe für die Einrichtung weiterer „Spielstraßen“ (Verkehrsberuhigter Bereich Zeichen 325/326 StVO)
  • Sichere und zügige Erreichbarkeit der Haltestellen ist wichtiger als ÖV-Beschleunigung, schließt sich aber gegenseitig nicht aus
  • Generell in der Stadt zulässige Höchstgeschwindigkeit unter oder max 30 km/h mit enggefassten Ausnahmeregelungen

Klimawandel im Verkehrsgeschehen

  • Soziales Verhalten befördern, als Fußgänger (auch) ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln und nicht immer nur Verständnis haben für Radfahrer, Motorradfahrer, Autofahrer
  • Generell mehr Rücksichtnahme gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern (z.B. Skandinavien)
  • Verstärkung der Fußgängerproblematik in Fahrschulen
  • Stärkere Ahndung illegal abgestellter Fahrzeuge
  • Kein Naßspritzen durch Autos, die durch Pfützen sausen
  • Flexible Straßensperrungen zugunsten des Fußgängeraufenthaltes, z.B. Montags x-Straße, Dienstag Y-Straße, etc. zum Erproben neuer Lebensqualitäten

Wissen um die Belange der Fußgänger stärken

  • Kontinuierliche und intensive Schulung von Mitarbeitern aller relevanten Stellen in den Verwaltungen
  • Fußverkehrs-Auditierung (Sicherheit + Komfort) von Gehwegen, Gehwegnetzen und Querungsanlagen im Bestand
  • Psycholgische Fehlstellenanalyse und Qualitätserfassung von Routen zu Fuß durch die Stadt (vgl. Ravensburg, Baden-Württemberg)
  • Ansprechpartner für Bürger = Ombudsmann
  • Einhaltung der Regelwerke durch Fachaufsicht durchsetzen, Abwägungsprozesse im Trend Zugunsten des Fußverkehrs (vgl. Baugesetzbuch 1986)

Gehwege und Plätze für Menschen

  • Nutzungsvielfalt beachten (Kinder zu Fuß/mit dem Rad, Senioren, Mobilitätsbehinderte mit Stock, Rollator, Rollstuhl, etc.) und unterschiedliche Nutzungen fördern (schnell Gehen, Flanieren, Sitzen, etc.)
  • Breite Seitenbereiche, gegliedert mit Vorgärten und Straßenbäumen, keine störende Möblierung
  • Platz zum Schnellgehen und Überholen, Seitenspuren langsam und stehen (Berliner Weg) und dennoch möglichst kein Einheitstyp in der Gestaltung der Gehwege
  • Kein Gehwegparken oder zumindest Umsetzung der VwV-StVO zum Gehwegparken
  • Autobahngeeignete Verkehrszeichen für den Kraftfahrzeugverkehr von Gehwegen entfernen und in kleinerer Form im Bereich der Parkstreifen aufstellen
  • Grundsätzliche Anordnung: Keine Schilder „Gehwegschaden“ (Berliner Bezirke), sondern Behebung der Mängel, Begeher und Meldewesen für Schlaglöcher auf Gehwegen, Verkehrssicherungspflicht
  • Gehwege müssen bei jeder Witterung benutzt werden können, Belag muss auch bei Feuchtigkeit und Schnee trittsicher bleiben
  • Förderung überdachter Fußwege (England, Neuseeland), evtl. Markisen, Arkaden im Einzelhandelsbereichen
  • Gestreute Fußwege auch auf nicht an Privatgrundstücke grenzende Flächen gewährleisten
  • Gute Beleuchtung für die unbeleuchteten Verkehrsteilnehmer
  • Berücksichtigung der Fußgängerströme auch an Baustellen sowie ggf. Umleitungsbeschilderung in Baustellenbereichen
  • Plätze sind nicht Restflächen der Fahrbahnführung (vgl. Ernst-Reuter-Platz, Berlin), sie sollen das Gehen nicht verhindern, sondern fördern, man muss sie frei queren können

Routen und Netze für Fußgänger

  • Breites Hauptwegenetz zum unbehinderten Nebeneinandergehen, Platz auf Kosten von Parken oder überbreite Fahrstreifen schaffen, Fahrstreifenbreitenverminderungs-Programm
  • Abkürzungen durch Innenhöfe etc. anzeigen, Wege durch Grundstücke sind zu dulden (vgl. Wanderwege per Waldgesetz) = Eigentum verpflichtet zur Sozialität
  • Interessante Themen-Wegeverbindungen für Bewohner und Gäste schaffen (z.B. „Verlobtenweg“, Worpswede)
  • Mittelinseln in Alleen fußverkehrsgerecht über die Querstraßen führen
  • Leuchtende Leitlinien auf wichtigen Routen

Qualität von Querungen = Indikator für Fußgängerfreundlichkeit

  • Die Wegeführung muss im Bereich von Kreuzungen und Einmündungen eindeutig erkennbar sein (schlechte Beispiele sind z.B. in Potsdam zu besichtigen)
  • Eine kindgerechte Übersichtlichkeit würde auch allen anderen Verkehrsteilnehmern nutzen (in die Hocke gehen)
  • Querungsstellen müssen insbesondere an Stellen, an denen Autofahrer nicht mit Fußgängern rechnen, aus der Windschutzscheibenperspektive sehr deutlich erkennbar sein (insbesondere an Ausfallstraßen, Straßen durch Waldstücke oder Grünanalgen, etc.)
  • Querungsstellen müssen im direkten Wegeverlauf liegen, d.h. in Kreuzungsbereichen und Einmündungen sollte es grundsätzlich keine zurückversetzen Querungsanlagen geben
  • So viel wie möglich Gehwegüberfahrten und Teilaufpflasterungen einsetzen
  • Eckausrundungen über 1 Meter Durchmesser werden abgeschafft durch bauliche oder markierte Gehwegvorstreckungen zu Fußverkehrsflächen (Aufstellflächen)
  • Es sind ausreichend große Aufstell- bzw. Warteflächen mit Blickkontaktmöglichkeit zu Kraftfahrer/innen vorzusehen
  • Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln werden die Querungs-Wegelängen auf dem Fahrbahnniveau verkürzt (z.B. Gehwegvorstreckungen, Mittelinseln, Mittelstreifen)
  • 5-Meter-Bereiche werden konsequent von parkenden Kraftfahrzeugen freigehalten, das Falschparken ist kein „Kavaliersdelikt“, sondern eine rücksichtslose Gefährdung und Behinderung von Fußgängern
  • Bei erhöhtem Fußverkehrsaufkommen sind überbreite Furten (an LSA) und Fußgängerüberwege auszubilden, um Überholen zu ermöglichen und Staus durch entgegen kommende Fußgänger zu vermindern
  • Grundsätzlich sollten Parkstreifen und Parkstände in sehr kurzen Abständen durch bauliche oder zumindest markierte Gehwegvorstreckungen unterbrochen werden
  • Anzustreben ist, dass Fußgänger möglichst überall queren können z.B. durchgehend Mittelstreifen in Hauptverkehrsstraßen (z.B. Hauptstraße, Schöneberg)
  • Fußgängersperrgitter sind grundsätzlich durch wirksamere Maßnahmen zu ersetzen
  • Bordsteinabsenkungen müssen an allen vorgegebenen Querungsstellen vorhanden sein, Rillenplatten insbesondere dort, wo Fußgänger – und nicht nur Sehbehinderte – nicht mit einer Fahrbahnquerung rechnen
  • Shared Space sollte an den Überlagerungsstellen von Fuß- und Fahrverkehr (auch Radverkehr) in die Überlegungen einbezogen werden

Ampeln-Anzahl reduzieren + den Rest prüfen und verbessern

  • Kontinuierlicher Ersatz von Fußgängersignalanlagen durch Zebrastreifen
  • Furten an allen Ästen eines Knotens
  • Ausreichend große Aufstellflächen vor Ampeln (Warteflächen)
  • LSA-Optimierung nach Verkehrsbedarf durch den Autoverkehr in deutlich kürzeren Abständen, bei gleichzeitiger kurzer Umlaufzeit und abgesichterten Mindest-Grünzeiten für Fußgänger auch bei starkem Kraftfahrzeugverkehr, evtl. Kfz-Durchlasszahlen nach „Delfter Modell“ optimieren
  • Dunkelstellung, d.h. Autoverkehr hat nicht grundsätzlich grün und bekommt rot bei Anforderung durch Fußgänger
  • Zumindest an zahlreichen engeren Knotenpunkten sind endlich Konfliktfreie Ampelschaltung einzurichten (getrenntes Abbiegen, Rundum-Grün, evtl. sogar Diagonalquerung)
  • Fußgänger bekommen pro Umlauf stets Grün, keine „Bettelampeln“
  • Keine Ampelanzeige „Freigabe folgt“ o.ä. (z.B. Osnabrück), sondern schneller Grün
  • Sofortampel: bedarfsgesteuerte Fußgänger-Lichtsignalanlagen mit 5 Sek. bis zum Grün - Sofortampel
  • In bestimmten Fällen 2 x Fuß-Grün pro Umlauf erproben
  • Grünzeitberechnungen der gesamten Strecke, die von Fahrzeugen befahren wird (Radweg inklusiv) und für ältere und mobilitätsbehinderte Menschen 1,0 m/s ansetzen
  • Sekundenanzeige für Rot- und Grünzeiten der Fußgänger (Kopenhagen) oder Erprobung von Düsseldorf-Gelb, eigentlich wäre Grünblinken einfacher
  • Keine Grünpfeile, wo Fußgänger und Radfahrer queren

Zebrastreifen-Programm fortsetzen

  • Zebrastreifen auch in Tempo 30-Zonen
  • Erprobung von weiteren Überquerungsanlagen mit Abmarkierungen unterhalb der FGÜ-Standards (Shared Space, div. andere Staaten)
  • Bundesweit richtungsweisendes Modellvorhaben „Berliner Fußverkehrsstreifen-Puzzle“, d.h. ausgesuchte verschiedene Formen der aneinandergekoppelten Querungsstellen D, T, L, Y, Z, X, H, N, O usw. (div. andere Staaten)

Fußgänger = Kunden des ÖPNV

  • Keine Haltestellenhäuschen so auf die Gehwege stellen, dass bis zur Hauswand weniger als die richtliniengemäße Breite übrigbleibt (Berlin)
  • Gute ÖV-Anbindung, insbesondere fahrgastfreundliche Ampeln an Haltestellen in Mittellage, evtl. Zeitinsel-Haltestellen
  • Öffentliche Bekanntgabe aufgrund einer Umsetzungsstrategie: Parken und Halten im Haltestellenbereichen wird vom ÖV-Personal nicht mehr hingenommen sondern erfasst und notfalls angezeigtVerkehrsabhängige Schaltung auch für ÖV

Radfahrer = Partner im Umweltverbund

  • Gute Radverkehrsplanung (Fahrwege, Abstellanlagen) schafft sichere und attraktive Fußverkehrswege
  • Gehwege sind dem Fußverkehr vorzubehalten, d.h. auch ohne fahrenden Radverkehr und störend abgestellte Räder

Fußläufige Erreichbarkeit der wichtigen Ziele gewährleisten

  • Bauordnungsrecht ändern und in Richtlinien für den ruhenden Verkehr aufnehmen: Kulturstätten, Gaststätten, Einkaufszentren, Behörden usw. müssen für Kunden zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln und auch von gerade aus dem Auto ausgestiegenen Fußgängern über die Parkplätze hinweg auf Gehflächen sicher und komfortabel erreichbar sein (z.B. Gehstreifenmarkierungen, Zebrastreifen, Überdachung, etc.)

Nahversorgung fußverkehrsgerecht

  • Service für das Zwischenlagern von Einkäufen oder die Unterbringung von zu warmen Kleidungsstücken, z.B. durch Schließfächer im Einkaufshandel für alle, die kein abschließbares Blechgefäß = Auto in Nähe zur Verfügung haben (vgl. Schweden)
  • Bonusprogramm in Einzelhandel und Gastronomie für Fußkunden
  • ÖPNV-Schein-Erstattung wie Park-Schein-Erstattung (z.B. Sachsenhausen, Darmstadt)
  • Nach-Hause-Lieferung, für Notfälle (Gehunfähigkeit) auch Haus-Bestell- und Lieferservice
  • Verleih und Propagierung von Schub- und Zugtransporten (Renterkarren, Schubkarre, Ziehanhänger usw.) zur Fahrbahnnutzung
  • Regenschirmverleih in Geschäften
  • Parkplatzzahlen-Limits nach oben für Einzelhandelsprojekte, denn der Kunde kommt zu Fuß

Gestaltung von Fußverkehrsanlagen und Service

  • Abwechslung der Beläge, schöne Pflasterungen, aber auch in der Stadt weiche, federnde Gehwegabschnitte
  • Soviel grün wie möglich (Bäume, Sträucher, Schmuckbeete, Vorgärten, Baumscheiben), aber keine Sichtbehinderungen dadurch in Nähe von Querungsstellen
  • Jede Menge Sitzgelegenheit in Schatten und Sonne, an Stellen mit wenig Kfz-Verkehr, aber durchaus auch an zentralen Stellen (z.B. Karl-Marx-Straße, Berlin), Bänke stehen nicht in Reih und Glied, sondern 1,2,3 und 4-Sitzer sind in gesprächsfördernde Sitzgruppen gegliedert (Barcelona)
  • Wasserspiele, Brunnen mit Trinkwasser, Wasserautomaten (Moskau)
  • Räume der Stille „Ruhezone“, auch ohne Handys
  • Laufrouten: Jogging Trimm-Dich-Pfad, Gesundheitspfad
  • Spielplätze und einfache Balanciermöglichkeiten für Kinder
  • Schuhputzautomaten, Hundekotabfallbehälter
  • Gute Stadtpläne mit ÖV-Infos, Gehzeiten-Anzeiger, Zielgruppenstadtpläne, z.B. Kinderstadtplan von Kindern für Kinder
  • Infotafeln in der Stadt mit Kulturangeboten und Erreichbarkeiten in Minuten zu Fuß
  • Individuell ausgelichtete Gehwegbereiche, Nachtinszenierungen
  • Erste-Hilfe-Kasten in der Autowerkstatt für notgedrungene neue Fußgänger (Fußgängerstadtplan, Schnelleinstieg ÖV-Nutzung, etc.)

Anmerkungen:

  1. Denkanregung 1: Wann finden Sie Zufußgehen richtig toll? Wann finden Sie es extrem nervig / anstrengend?
    Denkanregung 2: Denken Sie mal an Ihre Reisen in andere Länder/ Städte: Wie haben Sie sich dort als FußgängerIn gefühlt? Gab es dort Besonderheiten in Bezug auf die Fußgängersituation? Sind dort mehr Menschen als hier zu Fuß gegangen? Warum? Welches Image hat das Zufußgehen dort? Warum?
    Denkanregung 3: Wie sähe Ihre persönliche Traum-Fußgänger-Stadt aus, in der Sie nur noch zu Fuß gehen möchten?
  2. Rollen: Ich bin … ein Fußgänger bei Schnee und Glätte / ein Fußgänger mit Hund / eine Fußgängerin bei Regen / ein effizienzorientierter Fußgänger / ein Fußgänger bei Nacht / eine schwangere Fußgängerin / ein hungriger Fußgänger / eine Musik hörende Fußgängerin / eine sportliche Fußgängerin / eine kulturinteressierte Touristin zu Fuß / ein Kind im Grundschulalter / ein Philosoph und natürlich Fußgänger / ein an Shopping interessierter Fußgänger / eine sehr betagte unsichere Fußgängerin / eine naturinteressierte Fußgängerin / ein Fußgänger mit Kinderwagen / mit dem Rollstuhl unterwegs / eine sehbeeinträchtigte Fußgängerin / Psychologe und Fußgänger / eine blinde Fußgängerin / ein historisch interessierter Tourist zu Fuß / ein Kleinkind und lerne gerade laufen / eine Fußgängerin aus Not: Mein Auto ist in der Werkstatt / Wir sind als mehrköpfige Jugendclique zu Fuß unterwegs.

Berichterstattung:

Bernd Herzog-Schlagk (FUSS e.V.) und Hanna Schlagk (Moderatorin), 22.04.2010

Zum Fußgänger-Symposion in der Lutherstadt Wittenberg am 10. + 11. Oktober 2003 wurde ich gefragt, welchen Nutzen das Gehen für unsere Umwelt und unsere Gesundheit hat und welche Maßnahmen und Initiativen sinnvoll wären, um diese Zusammenhänge deutlicher in die fachliche und politische Diskussion einzubinden und Handlungen anzuregen. Mein Beitrag versucht, den Nutzen des Gehens für Umwelt und Gesundheit im landschaftlichen und damit gesellschaftlichen Zusammenhang zu beleuchten. Es ist ein Beitrag im Sinne von Lucius Burckhardt (1925-2003) mit der von ihm begründeten „Spaziergangswissenschaft“ als Schlüssel zur Wahrnehmung unseres Lebensraumes.

Gehen macht Landschaften sichtbar

Unsere Umwelt ist in klimatische und geologische Naturräume eingebettet, sie ist auch Lebensraum für Tier und Pflanzengesellschaften – ihre Ausgestaltung ist indessen menschgemacht: In Form gebauter Städte mit ihrem suburbanisierten Umland und als landwirtschaftlich genutzte Wälder, Wiesen und Felder. Selbst Naturschutzgebiete sind nicht einfach eingezäunt und sich selbst überlassen, sondern werden gehegt und gepflegt, damit die Sukzession in Richtung eines stabilen pflanzengesellschaftlichen „Endzustandes“ nicht das, in unseren Köpfen vorhandene „historische“ Landschaftsbild überwächst.

Die Umwelt ist also nicht die Natur, sondern das Ergebnis kultureller Lebensweisen. Aufgrund der überwiegenden Gesellschaftsbestimmtheit sprechen wir anstelle von Umwelt, von der Landschaft. Unsere, also immer im Wandel befindenden Lebensweisen prägen durch Gestaltung, durch Bauen und Nutzen, letztendlich durch Wirtschaften ein landschaftliches Gewebe. Deshalb ist Landschaft auch keine Sequenz natürlicher, topographischer Gegebenheiten, sondern zeigt sich als darüber liegende künstliche Überformung – als Siedlung oder Landwirtschaft.

Wichtig ist, die sichtbaren Elemente der Landschaft können nur gemeinsam mit den unsichtbaren gesellschaftlichen Bezügen erklärt werden: Der Verlust engmaschiger und attraktiver Fußwegenetze ist nicht von den politischen, fiskalischen und baulichen Prioritätensetzungen zu trennen; an den Signalsteuerungen können Straßenraum beziehungsweise die Passierzeit nur einmal zwischen Autos, Straßenbahnen, Radfahrern und den Fußgängern verteilt werden. Mit dem Landschaftsbezug versuchen wir unsere spezifischen Umwelten aus isolierenden Betrachtungsweisen herauszulösen. Beispielsweise sehen wir die Bedeutung des Gehens nicht vordergründig im Kontext individueller Gesundheit auf Wanderungen in Landschaftsschutzgebieten. Vielmehr werden urbane Wechselwirkungen, wie Quartiers- und Angebotsentwicklung, Wohnweisen oder gesellschaftliche Mobilität mit den Bedingungen des Gehens beleuchtet: Unser Interesse gilt den Determinanten der Landschaftsveränderung, die durch zumeist unsichtbare Regelungslogik ihre Ausprägung erhalten.

Wie die Landschaft mit spezifischen Umwelten in enger Korrelation steht, so auch die Gesundheit: Unser Wunsch nach stabiler Gesundheit hängt sicherlich von den wohl kaum beeinflussbaren natürlichen und genetischen Voraussetzungen ab, im wesentlichen aber, bekommt unser existenzielles Wohlbefinden durch alltägliche, wie rituelle Lebensformen seinen Handlungsrahmen. Individuelle und kollektive Gesundheit lässt sich im erweiterten Sinne als Produkt von Lebensweisen umschreiben, beispielsweise Ernährungskultur, Siedlungskultur, Mobilitätskultur oder Produktionskultur, wie immer sie auch gelebt werden und sich wechselseitig bedingen. Umgekehrt bilden sich die Lebensweisen in unserer Stadtlandschaft ab und determinieren die „Gesundheit des urbanen Gewebes“ als Grundlage gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.

Und nun komme ich zur Kernthese meiner Ausführungen: Die Fortbewegung von „Bauch“ und „Kopf“ mit den leistungsfähigen Füßen - also das Gehen - ist Schlüssel für die feinsinnige Wahrnehmung unserer städtischen und ländlichen Landschaften. Landschaft wird eigentlich erst im Laufe von Spaziergängen mental erschlossen. In der Fußgängerperspektive können wir soziale und ökonomische Lebenszusammenhänge über die lokalen Phänomene beobachten; beim Durchschreiten konkreter Räume als Originalbühne eröffnen sich nachspürbare Zusammenhänge unserer Landschaften. Gelehrt hat dies Lucius Burckhardt, mit der von ihm entwickelten Spaziergangswissenschaft. Unter der Annahme, dass wir das Alltägliche nicht mehr bemerken, führte Burckhardt sein Publikum – und auch mich – immer wieder durch die sich verändernde Stadtlandschaft und vermittelte die dahinterstehenden planerischen Annahmen und gesellschaftlichen Bedingungen. Im Sinne dieser Herangehensweise wollen wir mit virtuellen Spaziergängen die Entwicklungstendenzen unserer zunehmend schwieriger wahrnehmbaren Landschaften beleuchten, bilden sie doch das Gerüst unserer individuellen wie gesellschaftlichen Herausforderungen.

Gehen vernetzt Lebensräume

Sehr fein ist die Beobachtung von Burckhardt über das Sehen und Erkennen unserer allgemein nachlassenden urbanen Lebensqualität: „Die Lebensqualität wurde dem Stadtbewohner scheibchenweise weggeschnitten, so dass er sie unmerklich aus dem Auge verlor. Als die Autos zunahmen, konnte man die Straße beim Spielen nicht mehr benutzen. Dann wurden Zebrastreifen eingerichtet. Man freute sich nun, wenigstens in Sicherheit die Straße überqueren zu können. Dies sind im Grunde ständige Enteignungen, die wir entweder gar nicht mehr spüren, oder wir empfinden sie als Gewinn, weil uns scheinbar etwas zurückgegeben wird. Der Zebrastreifen ist gefahrlos und sicher, heißt es. Dabei müsste man ja überall die Straße passieren können. Irgendwann gilt der Zebrastreifen als zu unsicher und wird durch Ampelanlagen ersetzt, bei welcher man dann noch auf das Signal warten muss. Dieser Enteignungsprozess läuft immer scheibchenweise, so dass man den Gesamtverlust nicht sehen und erfahren kann“. Demgegenüber werden seit Jahrzehnten Lösungen gesucht, die länger werdenden Fahrtstrecken bis inmitten der Kernstädte in akzeptabler Zeit zu bewältigen. Nachdem man dem Autofahrer in der Vergangenheit vor allem mehr Raum in den Städten gegeben hat, werden heute über Signalsteuerungen zeitliche Kapazitätsoptimierungen an den Kreuzungen ermöglicht; und morgen könnten Verlagerungen in heute noch mäßig befahrene Straßen weiterhin steigende Verkehrsflüsse bewältigen.

Eingeschlagene Entwicklungen müssen aber nicht zwangsläufig an die Grenzen der Machbarkeit getrieben werden: Man könnte auch bei fortgeschrittenen Zersiedlungserscheinungen die Erschließungen der Zentren und Quartiere siedlungsgerechter ausbalancieren; gerade durch eine verstärkte Wiedereinführung des Fußgängerüberweges ließen sich die Verkehrsflüsse verstetigen und würden mehr Lebensqualität für die Bewohner bringen. Bei häufigem Einsatz gewöhnen sich Autofahrer und Fußgänger an die Regelungen am Zebrastreifen und machen ihn sicherer, noch dazu viel preiswerter als die „Lösung“ über Fußgängerfurten mit Signalsteuerungen. Solch ein Paradigmenwechsel in der Straßenbenutzung würde die rechtliche Situation nicht wieder umkehren, aber immerhin modifizieren: Der „Mitwelt“– belastende Automensch gibt ein Stückchen seines Straßenprivilegs ab und verbessert dem bedrängten, heute noch in den Kerngebieten verbliebenen Bewohner und Fußgänger die notwendigen Existenzbedingungen – schließlich unumgängliche Schritte für stabilisierende Entwicklungen der Quartiere.

Gehen gewährleistet Urbanität

Jedes urbane Leben und -Wirtschaften gründet auf Begegnungen, auf Kommunikation und Austausch im öffentlichen Raum. Unerlässliche Bedingung hierfür sind Fußwege, die alle Orte feinmaschig verknüpfen, als wichtigster Baustein stadtverträglicher Mobilität. Wenn wir den sensiblen und anspruchsvollen Fußgänger verdrängen, zusammenhängende Fußwegenetze zerschneiden, oder nur noch grobmaschig anlegen, wird städtisches Leben, mit den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Verflechtungen entkräftet - oder es kann sich nicht differenziert entwickeln.

Das Anreichern urbaner Lebensweisen für lokale Angebotsentwicklungen erfordert zudem eine ausgeglichene Lage- und Standortgunst, die prinzipiell auf eine möglichst langfristige Stabilität hin angelegt sein sollte. Und drittens gründet Urbanität auf einer hinreichenden Dichte; allerdings können sich gesellschaftliche Bindungskräfte nur in einer flexiblen Struktur entfalten und festigen; in einem baulichem Gewebe, das möglichst vielfältigen Lebensbedürfnissen dienen kann – und deshalb in der Lage ist, dynamische und daher immer unbekannte Entwicklungen aufzunehmen. Nutzungsoffenes Gewebe, stabile Standortgunst und gute Bedingungen fürs Gehen sind bedingende Voraussetzungen für die Vernetzung urbaner Lebensformen – jedoch entziehen sich diese Zusammenhänge unserer Wahrnehmung und stehen im Widerspruch zu unseren falsch angelegten Stadt-Landschaften.

Beginnen wir im alten Zentrum: Als in den Innenstädten die Autos, und damit die Verstopfungen zunahmen, stapelte man die Fahrzeuge über und unter der Erde, damit sie sich nicht gegenseitig behindern. Doch der zurückgewonnene Platz für den fließenden Verkehr reichte nicht aus; im Stadtkörper musste Platz für erweiterte Fahrspuren gefunden werden, um das neue Massenverkehrsmittel nicht wieder in zähfließende Stauungen abzubremsen. Irgendwann waren alle Städte mit autobahnähnlichen Zubringern und Ringstraßen erschlossen – den Fußgänger verwies man in abgegrenzte Fußgängerzonen, die zunehmend in den Hallen der Shopping-mall mit den angelagerten Stellplätzen und Kettenläden beginnen und enden.

Selbstverständlich hatte man an den ausweitenden Rändern zur Einkaufsstadt auch Geschäfte vorgesehen; eine steigende Automobilfrequenz war aber kein Garant für Kundenfrequenz. Häufiger Geschäftewechsel, Dauerleerstände und ein Absinken des Niveaus verdeutlichen den Existenzkampf – zum Zentrum hin sind die Ladenmieten zu hoch und an den unangenehmen Randlagen möchte kein Kunde das Geschäft aufsuchen. Fußgänger als Passanten und Kunden, aber auch die Bewohner meiden Orte, die dem Automenschen beinahe alleinige Existenzbedingungen bescheren. Die Ränder sind auch nicht zum Fahrbahnrand abgrenzbar, sie fransen aus und ziehen den Abwertungsprozess in die Quartiere hinein: Die Ränder der Zonen, der früher feinen Übergänge der Stadtquartiere, entwickeln sich zu eigenen, oftmals gar mehrere Gevierte breite Zonen – und trennen, ein sinnvolles und damit selbstentwicklungsfähiges, urbanes Gewebe, weil, und das ist der springende Punkt, schier unabwendbare und steigende Abhängigkeiten vom Automobil den Energiebedarf und damit die Umweltverschmutzung erhöhen - und in die Kerngebiete tragen.

In diesem Dilemma und der stetigen Suche nach geeigneten Lebens- und Standortbedingungen sortiert sich die Stadt-Landschaft um; sie dehnt sich aus, ohne wirklich zu wachsen. Echte Substanzgewinne sind im Bezug zum Flächenverbrauch gering. Das Leben zerstreut sich in Ballungsräumen, es entzieht sich dem öffentlichen Raum, es wird unsichtbar – ein solcher Prozess muss sich nachteilig auf die Existenzbedingungen auswirken und verändert die Sehgewohnheiten.

Gehen im Kontext der Brache

Unsere urbanen Bindungskräfte erschöpfen sich im Konglomerat aus neugebauten Wohnsiedlungen, unbebauten, weil verspekulierten Grundstücken, nichtauffüllbaren Gewerbegebieten, dazwischen eingesprengten noch bäuerlichen Teilen, Sportanlagen und Autobahnzubringern. Es entsteht eine fragmentierte Landschaft, die nicht mehr logisch aufgebaut, unwirtschaftlich und wenig erholsam ist: mit der Brache als modernes Phänomen. Ursprünglich ist die Brache ein aus landwirtschaftlicher Verwertung genommenes Land, das einer ertragreicheren Nutzung zugeführt werden soll. Mittlerweile vermehren sich die ertragsarmen Grundstücke und damit die Brachen, in einer von immer weniger Akteuren durchgestalteten Landschaft:

Baulandbrachen vermehren sich im Entwicklungsgang der Desurbanisierung. Nichtauffüllbare Siedlungen im alten und neuen Bestand wachsen als Sukzessionswäldchen heran, wenn ihr Brachenzustand nicht wieder sichtbar gemacht werden soll, oder das erschlossene, später aber aufgegebene Bauland gar in Grünanlagen umgewandelt wird. - Auch die Förderrichtlinien der europäischen Landwirtschaftspolitik sorgen für Über- und Unterproduktion, für Wüstwirtschaften oder Brachfallen: Der Bauer kann sich heute ausrechnen, dass er für das Stillegen seiner Felder und dem Kassieren der Ausgleichszahlung einen höheren Ertrag erzielen kann, als für seine Mühe, Saatgut und Düngemittel zu investieren. Infolgedessen finden wir vor allem auf weniger ertragreichen Böden das Phänomen der Kultur-Brache, die zunehmend in Landschafts- oder gar Naturschutzgebiete neu gestaltet wird – meist kostspielig und wenig ertragsreich.

Gehen wir zu den Ortsrändern: zunehmend eingedeicht mit Wallanlagen, verbergen sich die neuen Siedlungen. Heute ist der Autofahrer auf dem Weg vom Wohnort bis zur Tiefgarage immer von Grünanlagen umgeben, bis ihn diese, wiederum umgeben von Grün, in die Fußgängerzonen entlässt. Nichtbenutzbarkeit der Flächen mit Gebüsch, am besten mit Stacheln, sind die Begleiterscheinungen des Straßenbegleitgrüns: Meist grüne Verlegenheitsanlagen ohne Aufenthaltsqualität, errichtet mit dem Ziel, den Verkehr zu kanalisieren oder die Härte der Verkehrsränder abzumildern. - Selbst das Grün der Grundstücke im neueren Baubestand erscheint oftmals einfältig, als müsste die moderne Landwirtschaft gartengestalterisch kopiert werden. Eine gleichförmige Ausgestaltung der Gebäudeabstände macht den Quartiersspaziergang langweilig. Es liegt an der zunehmenden Indifferenz der Siedlungen, am Fehlen der sozialen Mitteilungen der Bewohner, aber auch an mangelnder Ablesbarkeit, was in den mit viel Grün verborgenen Häusern und ihrer schwer interpretierbaren modernen Architektur geschieht.

Die Stadt verwaldet, von den Peripherie bis in die Kerngebiete. Wenn die engbepflanzten Linden ausgewachsen sind, werden die Passanten am Kasseler Martinsplatz die umgebende Randbebauung oder die mittelalterliche Martinskirche nur noch erahnen können. Gibt es in absehbarer Zeit keine Straße mehr, ohne dichte Bepflanzung? Je begrünter die Stadt wird, desto weniger wird das Grün wahrgenommen und weitere öffentliche Bepflanzung wird gefordert.– Im einzelnen mögen die Brachen durchaus hübsch anzusehen sein, sie verhindern aber nach Burckhardt (2000) die Einordnung der Landschaft in das Lokal-Typische als Produkt lokaler Lebens- und Wirtschaftsweisen. Denn Brachen beschränken die Wahrnehmungsfähigkeit für die Dinge, die in der Stadt und auf dem Lande passieren: Nicht das Verstecken und Verklären, sondern das Sichtbar-machen und das Vernetzen baulich-gesellschaftlicher Bezüge wäre eine zwingende Grundlage urbaner Entwicklung.

Zwischen den Randerscheinungen mit den „Brachen“ unterschiedlichster Ausprägung bilden sich, deutlich sichtbar, neue Elemente im Ballungsraum ab, die in Form gestalteter Sonderzentren besondere Aufmerksamkeit begehren: Der Supermarkt, der Themenpark als Modifikation von Disneyland und die historisierend aufgeputzte Altstadt. – In allen drei Zentren finden sich die Besucher schnell zurecht und ihre Rolle als Konsumenten ist ebenfalls eindeutig: Man kann kaufen oder das Kaufen sein lassen. Eine dritte Möglichkeit, nämlich mitzuhelfen oder selber etwas anzubieten und Geschäfte zu machen gibt es nicht. Alle drei Orte haben ein striktes Reglement etabliert. Selbst in der denkmalgepflegten Altstadt besteht die Neigung, den Branchenmix und die öffentlichen Veranstaltungen zu kontrollieren. Supermarkt, Themenpark und Altstadtgestaltungen stellen schließlich Bedingungen her, die zu einem künstlichen Einheitsstil hinführen.

Nun komme ich zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Die Besiedlung des ländlichen Raumes war nur auf Grundlage des Automobils möglich. Infolgedessen entstand eine Stadtlandschaft, die nur noch mit dem Automobil erreichbar ist. Unsere Städte sind gebaut, und in ihrer Ausdehnung nicht mehr rückführbar, gleichsam wie unsere Mobilitätserfordernisse nicht beschnitten werden können. Das Auto ist dabei nicht generell das Problem; im übermäßigem Gebrauch aber schon – wenn es das Gehen verdrängt.

Landschaften, die mit Rändern, Brachen und simplifizierten Zentren zerschnitten sind, unterbrechen einerseits die Wahrnehmung für die gesellschaftlichen Verflechtungen als Fundament für die Herausbildung lokal-typischer Entwicklungen; andererseits „definieren“ sie eine schier beliebige Standortgunst im Raum. Gerade in der engmaschigen und komfortablen Vernetzung der Gebiete für das Gehen dürfte Chance liegen, urbane und damit gesellschaftliche Perspektiven zu entfalten. Dabei ist Gehen die elementare Voraussetzung für das Erkennen des vorhandenen baulich-kulturellen Erbes mit seinen Nutzungspotenzialen. Gehen könnte zudem ungeahnte Perspektiven für Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen eröffnen, indem unter Zuhilfenahme der ausweitenden Brachen sinnvolle, synergiesteigernde Anlagerungen zum Bestand erfolgen. Schließlich ist Gehen ein Stabilisator für generationsübergreifende Lebenskulturen; denn der Fußgängermensch gewährleistet am ehesten eine stabile Lagegunst als Grundlage für Angebotsentwicklungen und Investitionen. Nicht alleine im konzentrierten Fußgängerbereich der City, sondern als engmaschige Vernetzung aller kernstädtischen Quartiere mit dem Umland.

Lucius Burckhardt formuliert in seinem Werk „Brache als Kontext“ folgende bemerkenswerte These: „Unsere Landschaften sind schön, wenn wir sehen können was in ihnen geschieht“. Orte, Ensembles, ländliche Kulturen werden also umso schöner, wenn möglichst viele Menschen an der Kulturlandschaft mitwirken und ihre Werke auch zeigen können. Nach Immanuel Kant hängt die Wahrnehmbarkeit unserer Landschaft von der „Unbetroffenheit“ des Betrachters ab: Schönheit kann erlebt werden, wenn die Landschaft „echt“ ist, wenn sie einen Nutzen hat und positive emotionale Gefühle weckt. Dagegen lösen ausgeräumte, überdüngte, mit synthetischen Schädlingsbekämpfungsmitteln behandelte Felder oder durch Verkehrsschneisen geschaffene Emissionskorridore mit ihren isolierenden Siedlungsinseln eher weniger schöne Betroffenheit oder Gleichgültigkeit aus. Wir alle wissen, dass Lust auf Stadt oder Land durch interessante Angebote, kommunikationsfördernde Lebensweisen, schmackhafte Produkte, historische oder persönliche Bezüge geweckt werden kann. Und schließlich glauben wir, dass Schönheit vor allem erlebt werden kann, wenn tragfähige Zukunftsperspektiven in Aussicht sind, beziehungsweise begründbare Hoffnungen auf Besserung gegeben sind. Schönheit ist – wie unsere Landschaft – menschgemacht.

Und, „Gehen und Sehen“ schafft Wege, die Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich wieder auf die Beine zu bringen.

Weitere Informartionen:

  • BURCKHARDT, Lucius, 1994: Sichtbare und unsichtbare Ränder. Deutsche Bauzeitung 1994, (Nr. 6), Seiten 116 f.
  • BURCKHARDT, Lucius, 2000: Brache als Kontext. In: Holzer, Anton und Elfferding, Wieland, (Hrsg.: Turia + Kant): Ist es hier schön: Landschaft nach der ökologischen Krise, S.141-152, Wien.
  • HASENSTAB, Roland, 2002: Zu Fuß städtebauliche Ränder überwinden. In: Altrock, Uwe, (Hrsg.: Arbeitsbereich Quartiersentwicklung und Städtebau): Planungsrundschau - Theorie Forschung Praxis, S.141-148, Hamburg
  • JACOBS, Jane, 1963,: Tod und Leben amerikanischer Großstädte, Frankfurt/Main (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1961: The Death and Life of Great American Cities).
  • ALEXANDER, Christopher, 1995,: Eine Muster-Sprache, Wien (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1977: A Pattern Language).
  • BURCKHARDT, Lucius, 1968: Bauen ein Prozess, Niederteufen.
  • BURCKHARDT, Lucius, 1985: Die Kinder fressen ihre Revolution: Wohnen - Planen - Bauen - Grünen, Köln.
  • JACOBS, Jane, 1970,: Stadt im Untergang, Frankfurt/Main (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1969: The Economy of Cities).
  • RITTEL, Horst W.J., 1992: Planen, Entwerfen, Design, Stuttgart.

 

Dieser Beitrag von Roland Hasenstab erschien in der Dokumentation: Zu Fuß für Umwelt und Gesundheit – 30 Beiträge vom 2. FUSS-Botschaftertreffen am 10. Und 11.10.2003 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2004

Dipl. Ing. Roland Hasenstab, geb. 1962, ist Stadt- und Landschaftsplaner und Bauassessor. Er studierte an der Universität Kassel, war mehrere Jahre als Referent im Stadtentwicklungsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Referat Stadterneuerung im Bestand tätig. Zur Zeit arbeitet er als Wissenschaftlicher Bediensteter am Institut für Städtebau und Landschaftsplanung der Technischen Universität Braunschweig an einem interdisziplinären Forschungsprojekt Stadt+Um+Land 2030 zur Zukunft der Region Braunschweig. Arbeitsbereich ist die Stärkung urbaner Systeme. Roland Hasenstab ist Mitglied im erweiterten Bundesvorstand des Fuss e.V.

Die Veröffentlichung „Zu Fuß für Umwelt und Gesundheit“ ist bei uns für 10,00 Euro zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Allgemein bestellen.