Wenn man den Ergebnissen einer Studie trauen darf, ergeben sich große Teile des Problems „demografischer Wandel und Verkehr“ in der Zukunft von selbst. Denn während vier von fünf Berufstätigen davon träumen, im Alter große Reisen zu unternehmen, sieht die Realität zumindest heute anders aus: 70% der Rentner bleiben lieber Zuhause vorm Fernseher und im eigenen Garten. Alte Menschen, so die Studie, seien bequem und träge statt reisefreudig.
Ob das jedoch über die Rentnergeneration von morgen etwas aussagt, ist wohl fraglich. Und dass es wenig aussagt zum Problem Nahversorgung, ist offensichtlich.
Das Berliner Verkehrsunternehmen BVG hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW mit einer Untersuchung beauftragt, wie der Modal Split in Berlin in den Jahren 2020 und 2050 sich darstellen wird.
Der langfristigen Prognose zufolge steht selbst eine Stadt wie Berlin mit immerhin stagnierender Bevölkerungszahl bei der Verkehrsleistung praktisch am Scheitelpunkt: „Nur“ noch sechs Prozent mehr Kilometer werden in rund dreißig Jahren in der Stadt insgesamt zurückgelegt. Dabei entwickeln sich die Verkehrsmittel jedoch unterschiedlich: Der MIV werde bis 2050 um 15% anwachsen, dennoch reiche die existierende Straßen-Infrastruktur aus, so das DIW, wichtig sei jetzt die Qualitätssicherung. Der ÖPNV verliere dagegen acht Prozent seiner Fahrgäste; allerdings nur bis zum Jahr 2020, dann stabilisieren sich die Fahrgastzahlen.
Trotz dieser Entwicklung solle sich der Nahverkehr laut DIW nicht seniorengerecht ausrichten. Auch in Zukunft seien die Erwerbstätigen die mit Abstand größte Nutzergruppe von Bahn und Bus. Erwerbstätige schätzen schnelle Verbindungen mit größeren Haltestellenabständen. Dies sei für die in Zukunft gesünderen und mobileren Rentner ebenfalls wünschenswert und machbar.
Unberücksichtigt bleibt bei dieser Empfehlung in der Untersuchung, dass bei einem prognostizierten Anstieg des Anteils der älteren Rentner von fünf auf 13% zwar viele von ihnen evtl. beweglicher sein werden als ihre Altersgenossen heute. Jedoch wird die absolute Zahl der mobilitätseingeschränkten Alten bei einem solch starken Anstieg des Anteils sich wohl mindestens verdoppeln.
Damit steckt die BVG in einem Dilemma, denn die auseinanderstrebenden Interessen der Nutzergruppen lassen Entscheidungen schwer fallen. Eine Ausweitung des Angebots ist unwahrscheinlich, da sich die Einnahmen der BVG kaum steigern lassen: Berlin hat eine überproportional einkommensschwache Bevölkerung und bereits jetzt aufgrund der geringen Pkw-Verfügbarkeit eine überdurchschnittlich hohe ÖPNV-Nutzung. - Der Berliner Senat will bis zum nächsten Herbst ein übergreifendes Demographie-Konzept für die Stadt erarbeitet haben.
Die Stadt Bochum schrumpft, bis 2020 sollen es nochmals acht Prozent Bewohner weniger werden. Die Stadtverwaltung legt ihr Hauptaugenmerk auf den ÖPNV und erzielt damit gute Erfolge: Im Vergleich zum Jahr 2000 nutzen jetzt 30% mehr Fahrgäste den ÖPNV. Im Rahmen des fortzuschreibenden Nahverkehrsplans will man die Akzeptanz des ÖPNV weiter stärken. Dies soll u.a. durch die Konzentration der Bautätigkeit im Innenbereich erreicht werden. Des weiteren hat Bochum einen „Masterplan Einzelhandel“ verabschiedet, in dem Versorgungszentren definiert werden. Damit will man Lage und Größe von Supermärkten steuern.
Bochum ist aber zusätzlich eine „interaktive“ Stadt. Nicht nur dass sie eine der Referenzstädte im Forschungsprogramm Stadtverkehr zum Thema „Verkehr in schrumpfenden Städten“ des Bundesministeriums ist; sie hat sich auch mit fünf weiteren Städten zu einer „Städteregion Ruhr“ zusammengeschlossen. Diese Kommunen stellen einen gemeinsamen Regionalen Flächennutzungsplan auf, der die Gebietsentwicklungspläne von drei Bezirksregierungen ersetzt.
Die Wissenschaftler, die das Projekt „Verkehr in schrumpfenden Städten“ durchführten, waren ernüchtert über die ignoranten Reaktionen vieler Städte mit schrumpfender Bevölkerung: „Wozu neuen Planungen und Daten? Wir müssen doch erst noch die Programme und Beschlüsse von vor 10-15 Jahren umsetzen“, so fasst man einige der Antworten zusammen.
Dabei hatten die Forscher für die Städte ein einfaches Modell zur Abschätzung der Verkehrsentwicklung erarbeitet, in dessen Rahmen die Kommunen zwei Szenarien (Laissez-faire „Dispers“ und gestaltender Stadtumbau) entwerfen konnten. In den acht Referenzstädten wurden übrigens festgestellt, dass der Bevölkerungsrückgang auch das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsleistung des MIV und des ÖPNV sinken lässt. Jedoch ließ sich diese Entwicklung – je nach Szenariowahl – beeinflussen: In der Variante „Dispers“ nahm der MIV bis 2020 zu. Der ÖPNV nahm bei allen Varianten unterschiedlich stark ab, kann jedoch einen betriebswirtschaftlichen Vorteil einplanen: Da die Aktivitäten der älteren Bevölkerung außerhalb der beruflichen Rush hour liegen, könnte dies zu einer Entspannung bei der Personalplanung und den Fahrzeugen führen.
Das bedeutet aber dennoch, dass die Quartiere außerhalb der Kernstädte mit ihrer für die älter werdende Bevölkerung schlechteren Infrastruktur stärker überaltern als die Citys. Diese Entwicklung wird die Rückkehrtendenzen nicht nur älterer Menschen in die Innenstädte fördern.
Ihr Fazit fassten die Wissenschaftler des Forschungsprojekts u.a. so zusammen:
Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2007, erschienen.
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