Umfang, Struktur und Entwicklung von Mobilität als Ausdruck menschlichen Handelns werden erheblich von verschiedenen Einflussbereichen bestimmt. Der demografische Wandel insgesamt sowie die Entwicklung gesellschaftlicher Teilgruppen, aber auch allgemein gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen, wie zum Beispiel Veränderungen von Lebensstilen, bestimmen die Nachfrageseite des Verkehrs. Daneben entwickeln sich auch die Dörfer, Ortsteile, Städte, Regionen und Landstriche selbst weiter ebenso wie das Verkehrssystem in seiner politischen, technologischen oder ökonomischen Ausprägung und beeinflussen damit die Verkehrsentwicklung. Und letztlich wirken sich verändernde allgemeine wirtschaftliche und verkehrspolitische Rahmenbedingungen auf die Verkehrsnachfrage aus (vgl. auch im Folgenden Bäumer; Reutter 2005). Die Entwicklung von Lebensstilen oder Mobilitätsstilen ist also nur ein Faktor, der die Verkehrsentwicklung mitbestimmt, der dazu von den anderen stark beeinflusst wird.
Das noch junge theoretische Konzept zu Mobilitätsstilen baut auf der Lebensstilforschung auf. Diese beschäftigt sich auf der Ebene von Individuen primär mit deren selbst gestalteten Lebensentwürfen. Nach Lüdtke (1996, S. 140) werden Lebensstile definiert als „regelmäßige Verhaltensmuster [des Einzelnen, die Verf.], in denen (auch) strukturelle Lagen ebenso wie Habitualisierungen und soziale Affinitäten zum Ausdruck kommen“. Dabei wurden stets Zusammenhänge zwischen Lebensstil und sozialer Lage nachgewiesen. Lebensstilorientierungen sind also in der Regel nicht frei wählbar, sondern hängen systematisch mit den Merkmalen der Sozialstruktur zusammen. Sie entwickeln sich außerdem vor dem Hintergrund von und in wechselseitiger Beziehung zu (sich ständig verändernden) räumlichen und zeitlichen Strukturen sowie gesellschaftlichen Normen und politischen Setzungen.
Insbesondere die soziodemografischen Variablen Haushaltsgröße, Kinder im Haushalt, Alter, Schulbildung und Erwerbstätigkeit wurden in verschiedenen Untersuchungen als starke lebensstilprägende Merkmale identifiziert.
Für die Mobilitätsforschung besteht der Eigenwert des Lebensstilansatzes vor allen Dingen in der darin angelegten Differenzierung von Sozialstrukturen und der Berücksichtigung subjektiver Deutungsmuster, Handlungsziele, Werte, Präferenzen und (sub-)kultureller Zugehörigkeiten. Da weder räumliche noch soziale Strukturen per se eine Wirkungskraft auf das (Verkehrs-, Mobilitäts-) Handeln entfalten können, sondern stets vermittelt sind über die Deutungen des Akteurs, entfaltet die Lebensstilforschung zusätzliche Erklärungskraft und ermöglicht eine stärkere (ziel-)gruppenspezifische Auflösung als allein die herkömmlichen Erklärungsmuster auf der Basis sozioökonomischer und demografischer Größen. Sie können das klassische Erklärungsinstrumentarium der Mobilitätsforschung (z. B. das der verhaltenshomogenen Gruppen oder das der sozialen Lagen) ergänzen und weiter differenzieren. Deshalb finden sich in der jüngeren verhaltensorientierten Mobilitätsforschung häufig Bezüge zur Lebensstilforschung.
Durch die Verknüpfung von Lebensstilen und Alltagsmobilität werden Lebensstile in Mobilitätsstile übersetzt. Damit wird der Zusammenhang zwischen Lebensstil, Mobilitätseinstellungen und Verkehrsmittelwahlverhalten beschrieben. Diesem Ansatz liegt die mehrfach bestätigte Annahme zugrunde, dass bestimmten Lebensstilgruppen spezifische Mobilitätsformen eigen sind. Der Zusammenhang zwischen allgemeinen Lebensstilmerkmalen und Verkehrshandeln ist allerdings nur schwach nachzuweisen. Mobilitätsrelevante Lebensstilmerkmale entfalten dagegen größere Erklärungskraft für das individuelle Mobilitätsverhalten.
Eignet sich also das Mobilitätsstil-Konzept ergänzend zur traditionellen Mobilitätsforschung recht gut zur Erklärung heutigen Mobilitätsverhaltens und Ableitung zielgruppenspezifischer Strategien, so muss die Frage, ob es auch zur Beschreibung zukünftigen Mobilitätsverhaltens und damit zukünftiger Verkehrsnachfrage geeignet ist, eher verneint werden. Zu diesem Ergebnis kommt auch das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt StadtLeben (vgl. Beckmann, Hesse, Holz-Rau, Hunecke 2006). Zwar baut es, wie oben beschrieben, auf relativ gut prognostizierbaren sozio-demographischen Merkmalen auf, fügt diese aber mit sich sehr stark wandelnden und von Gesellschaft und Politik beeinflussbaren räumlichen und zeitlichen Strukturen, gesellschaftlichen Normen und politischen Setzungen zusammen.
Die Aussagen in bekannten Prognosen und Szenarien zur zukünftigen Verkehrsentwicklung bzw. Verkehrsnachfrage zur Entwicklung von Lebensstilen und Mobilitätsstilen als Bestimmungsfaktoren von Verkehrsnachfrageentwicklungen sind deshalb auch sehr allgemein gehalten. Vereinzelt werden – jeweils spezielle und schwer vergleichbare – aktuelle Lebens- bzw. Mobilitätsstiltypologien aufgegriffen und daraus Projektionen für die Zukunft abgeleitet, die sich i. d. R. darauf beschränken, Verschiebungen von eher traditionellen hin zu dynamischen Clustern zu beschreiben.
Trotz dieser Einschränkungen stellt sich also die Frage, in welche Richtung sich die heutigen Mobilitätsstile entwickeln werden und wie sie die zukünftige Verkehrsnachfrage und das Verkehrsgeschehen beeinflussen werden. Dabei kann wohl davon ausgegangen werden, dass insgesamt komplexe, individualisierte Lebensführungsmodelle zunehmen werden, Lebensstile eher vielfältiger werden und die Außenorientierung verstärkt wird.
In verschiedenen Szenarien (z.B. Holzwarth, Winter 2001; ifmo 2002 und 2005; Deutsche Shell GmbH, Topp 2003) zur zukünftigen Verkehrsentwicklung für die Bundesrepublik Deutschland, die diese Entwicklung aufgreifen, spielt hinsichtlich der Verkehrsprognosen die unterschiedliche Bedeutung der Automobilität für den individuellen Lebensstil eine entscheidende Rolle: Ein autoorientiertes (individuelles und gesellschaftliches) Leitbild steht einem Leitbild der Multimodalität und Intermodalität gegenüber. Beim autoorientierten Leitbild wird das Automobil als Symbol für Selbstbestimmung und Individualität gesehen, das auf die voran schreitende Individualisierung und auf steigende räumliche Entfernungen am besten reagieren kann. Ein hoher Anspruch an Flexibilität bedeutet, sich nicht von notwendigen Vorgaben anderer Verkehrsmittel abhängig zu machen.
Setzt sich dagegen das Leitbild der Multimodalität eher durch, könnte zukünftig eine pragmatische und zweckrationale Wahl des Verkehrsmittels dominieren. Bei der Multimodalität wählen aufgeklärte Nutzer das bequemste/ beste Verkehrsmittel in Abhängigkeit vom Zweck. Der eigene Pkw ist zwar substanzieller Bestandteil des individuellen Mobilitäts-Mixes, ist aber vereinbar mit „Systemhopping“. Unterstützt wird die Multimodalität durch leistungsfähige, flexible IuK-Systeme, die die Zugangsbarrieren für den ÖV z.B. in den Bereichen Information, Ticketing, Zahlungssysteme senken.
Welche verkehrsnachfragebezogenen Auswirkungen die einzelnen Leitbilder in Kombination mit anderen Bestimmungsgrößen wie z.B. Wirtschaftswachstum haben werden, lässt sich ebenso wenig vorhersagen wie die Frage, welches Leitbild sich durchsetzen wird. So wird z.B. in einschlägigen Szenarien ein stärkeres Wirtschaftswachstum sowohl mit einer einseitigen Steigerung der Pkw-Nutzung als auch mit dem Leitbild der Multimodalität, einhergehend mit einer rationellen Verkehrsmittelwahl, in Verbindung gebracht. Zum Beispiel bringt das Shell-Szenario „One World“ aus dem Jahr 2001 für das Jahr 2020 ein stärkeres Wirtschaftswachstum mit einer stärkeren Automobilität bzw. geringeren Multimodalität in Zusammenhang, während im ifmo-Szenario „Aktion“ aus dem Jahr 2002 Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes von knapp über 2% bis zum Jahr 2020 mit einem multimodalen, flexiblen Mobilitätsleitbild einhergehen.
Die Entwicklung hängt darüber hinaus auch von individuellen Werten und Präferenzen ab, ist aber – ob in die eine oder andere Richtung – ebenso von anderen Einflüssen und Weichenstellungen abhängig, die auch die positive Besetzung des einen oder des anderen Leitbildes mit beeinflussen. Dazu gehören sowohl ökonomische als auch verkehrs- und umweltpolitische Rahmenbedingungen wie die Festsetzung von Umwelt- und Emissionsstandards, Kostenwahrheit im Verkehr, aber auch die Förderung verkehrsvermeidender Siedlungs- und Raumstrukturen. Dabei sollte vermittelt werden, dass auch das Leitbild der Multimodalität Tendenzen der sich abzeichnenden verstärkten Individualisierung der Gesellschaft verkehrsmittelunabhängig aufgreifen kann.
In der Arbeitsgruppe wurde zusammenfassend festgestellt, dass für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung nicht nur Multimodalität als Ziel verfolgt werden sollte, sondern darüber hinaus die Entwicklung eines postautomobilen Mobilitätsstiles. Dafür ist es erforderlich, positive Erfahrungen und Images wie Flexibilität, Individualität, Wohlstand auch mit der nichtautomobilen Mobilität in Verbindung zu bringen. Genutzt werden können sowohl biografische Brüche, wie Umzüge, die z.B. mit Neubürger-Mobilitätspaketen unterstützt werden können, als auch Routinen, die sich ändern können. Dazu können auch von außen Anstöße gegeben werden, wie die Kampagne der AOK „mit den Rad zu Arbeit“ oder andere Mobilitätsmanagementmaßnahmen für Betriebe, Wohnen, Tourismusorte oder Wohngebiete. Entscheidend sind Angebote, um positive Erfahrungen mit der autounabhängigen Mobilität in allen Lebenszusammenhängen machen zu können: als Kinder und Eltern, als junge und alte Menschen, als SchülerInnen und als Beschäftigte, als Wohnende und Einkaufende, als Arbeitende und Erholende usw.
Der Beitrag geht der Frage nach, ob das Konzept der „Lebensstile“ auf die Mobilität übertragbar ist. Die Lebensstilforschung ermöglicht eine stärkere zielgruppenspezifische Auflösung als die herkömmlichen Erklärungsmuster mit sozioökonomischen und demografischen Größen. Für einen „Blick in die Zukunft“ ist dieses Konzept jedoch weniger geeignet: Mobilitätsstile sind nur ein Faktor, der die Verkehrsentwicklung mitbestimmt, der von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird.
Dieser Artikel von Ulrike Reutter (leitete die AG SO4 beim 16. BUVKO) ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2007, erschienen.
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