Mit Bürgerbeteiligung Fuß- und Radverkehr verbessern

In den dicht bebauten Innenstadtrandgebieten mit ihren hohen Anteilen an Fuß- und Radverkehr gilt es, den Fuß- und Radverkehr umfassend zu fördern, zum einen als Alternative zum Kfz-Verkehr und zum anderen, um die Teilhabe von Kindern, Seniorinnen und Senioren sicherzustellen. Das Pilotprojekt Stadtviertelkonzept Nahmobilität im Münchner Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt zeigte den Weg auf, diesen Forderungen nachzukommen.

Der Verkehrsentwicklungsplan der Landeshauptstadt München sieht eine Erhöhung des Anteils des Umweltverbunds an den zurückgelegten Wegen vor. Im Rahmen des Bündnisses für Ökologie wurde eine Projektidee entwickelt, die diese Zielsetzung im Rahmen eines Pilotprojektes in einem ausgewählten Stadtviertel vertieft: das „Stadtviertelkonzept Nahmobilität“. Es wurde vom Freistaat Bayern, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern gefördert. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der LH München beauftrage die Arbeitsgemeinschaft von stadt+plan und KOMMA.PLAN mit der Durchführung.

Stadt der kurzen Wege

Das Pilotprojekt greift die Ansätze einer Stadt der kurzen Wege und einer Stärkung der „Nähe“ auf, um so der zu beobachtenden Verlängerung der Wegelängen entgegenzuwirken. Die Potenziale für kurze Wege, wie sie dicht bebaute Innenstadtrandgebiete aufweisen, sollten durch eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur aktiviert werden. Nahmobilität umfasst im Wesentlichen die täglichen Wege zu Fuß, mit dem Rad und z.T. mit dem öffentlichen Verkehr.

Das Thema Nahmobilität wird angesichts des demografischen Wandels weiter an Bedeutung gewinnen, weil infolge der wachsenden Zahl von Seniorinnen und Senioren die Wege zu Fuß im nahen Wohnumfeld immer wichtiger werden. Zudem ist in München zu beobachten, dass in den Innenstadtrandgebieten besonders viele Kinder geboren werden. Für ihre Entfaltung und Entwicklung brauchen sie ein Wohn-umfeld, das ihnen ermöglicht, sich frühzeitig selbständig fortbewegen zu können.

Der Pilot-Stadtbezirk

Für das Stadtviertelkonzept Nahmobilität wurde der Stadtbezirk 2 Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt ausgewählt. Er zählt ca. 46.000 Einwohner, erstreckt sich über 440 ha und erfüllt mit

  • der Lage am Rande der Altstadt,
  • der hohen Einwohnerdichte und
  • der ausgeprägten Nutzungsmischung

die Voraussetzungen für kurze Wege. Etwa drei Viertel der Wege der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Stadtbezirks sind kürzer als 5 km (Mobilität in München 2002). Sie bewältigen stadtverträglich 39 % ihrer Wege zu Fuß, 13 % ihrer Wege mit dem Rad und 24% ihrer Wege mit dem Öffentlichen Verkehr. Nur 24 % der Wege entfallen auf das Auto als Fahrer oder Mitfahrer.

Projekt-Charakteristika

Das Ziel einer stadtverträglichen Mobilität sollte durch folgende Teilziele unterstützt werden.

  • umfassende Planung für den Fußverkehr
  • flächenhafte Berücksichtigung des Radverkehrs
  • Integration neuer Fortbewegungsformen (Inline-Skates und Roller) in die Planungen für die traditionellen nichtmotorisierten Mobilitätsformen
  • Erörterung der Anforderungen an das Busnetz aus lokaler Sicht
  • Erarbeitung eines Maßnahmenkonzeptes mit einem ausgewogenen Interessenausgleich unterschiedlicher umweltverträglicher Mobilitätsformen
  • Breit angelegte Bürgerbeteiligung und Erprobung neue Beteiligungsverfahren in München.

Bürgerbeteiligung für Maßnahmenvorschläge

Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtviertels kennen die wichtigen täglichen Wege im Stadtviertel am besten. Sie waren aufgerufen, Kritik, Wünsche und Anregungen für attraktivere Wege im Stadtteil zu äußern bzw. Schwachstellen und Anregungen für den Umweltverbund zu benennen: per Faltblatt, per Internet, Fax oder Telefon. Die breit gestreuten Faltblätter enthielten einen Stadtplan und ein Formular in das die Anregungen eingetragen werden konnten.

Ein wichtiger Baustein der Bürgerbeteiligung waren in dieser Projektphase auch Stadtteilspaziergänge, auf denen mit unterschiedlichen Zielgruppen die neuralgischen Punkte im Wegenetz gemeinsam begangen bzw. befahren wurden. Schwachstellen wurden somit aus dem Blickwinkel von Kindern und Eltern sowie von Seniorinnen und Senioren betrachtet. Radfahrer, Skater und Benutzer des Öffentlichen Verkehrs wiesen auf den Statteiltouren auf weiteren Handlungsbedarf hin.

Vorläufiges Maßnahmenkonzept

Mit Mehrfachnennungen gingen auf diese Weise 555 Anregungen ein. Die meisten Anregungen kamen zum Radverkehr, dicht gefolgt vom Fußverkehr. Viele betrafen auch mehrere Mobilitätsformen und bestätigten damit den multimodalen Ansatz des Projekts. Am häufigsten als Problem im Stadtbezirk benannt wurden Themen wie das Fehlen von Radwege/ Rad-streifen in Hauptverkehrsstraßen, fehlende bzw. unzureichende Querungen, zu schmale Radwege und die Öffnung von Einbahnstraßen für den Radverkehr in Gegenrichtung.

Parallel zur Bürgerbeteiligung wurde eine umfassende systematische Bestandsanalyse durchgeführt, die die Ziele der Nahmobilität, die Beeinträchtigungen durch den fließenden und ruhenden Kfz-Verkehr, die Straßenraumqualität, Gehwegbreiten, Querungen, das Radverkehrsnetz, Unfälle mit der Beteiligung von Fußgängern und Radfahrern, das ÖPNV-Netz und Car-Sharing-Standorte berücksichtigt. Als Ergebnis konnten weitere Schwachstellen benannt werden.

Bürgerforen zur Maßnahmendiskussion

Die Bürgervorschläge wurden gebündelt und aufbereitet und im Rahmen zweier Bürgerforen zur Diskussion gestellt. Im Bürgerforum 1 diskutierten die bisher am Prozess Beteiligten. Für das Bürgerforum 2 wurden Bürgerinnen und Bürger des Stadtbezirks per Zufallsauswahl aus der Einwohnermeldedatei ausgewählt und eingeladen. Damit konnte ein breites und heterogenes Teilnehmerspektrum angesprochen werden.

Innerhalb der Bürgerforen wurden grundsätzliche Zielsetzungen und stadtteilweit relevante Maßnahmen im Plenum erörtert und gewichtet. Folgende allgemeine Zielsetzungen erhielten hohe Priorität:

  • Strengere Parkraumüberwachung/ Falschparken stärker ahnden
  • Schließung von Lücken im Radwegenetz
  • Einbahnstraßen in Tempo-30-Zonen generell öffnen
  • Realisierung der Haupt- und Nebenrouten des Verkehrsentwicklungsplans Radverkehr
  • Markierung (Wegweisung) der Radrouten verbessern – möglichst mit Pfeil auf der Fahrbahn/ dem Radweg.

Umstrittene, aufwändigere oder besonders effiziente Maßnahmen wurden in Arbeitsgruppen diskutiert und ihre Bedeutung und Priorität beurteilt. Schließlich wurde von den Beteiligten in Einzelarbeit eine Liste kleinerer Maßnahmen hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet.

Bürgergutachten und Maßnahmenplan

Alle während der gesamten Öffentlichkeitsphase eingegangenen Vorschläge und Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger gingen in ein Bürgergutachten ein, das Bürgermeister Monatzeder überreicht wurde.

Die Ergebnisse der Bestandsanalyse und des Bürgergutachtens flossen in einen Maßnahmenplan ein, der aufgrund von Mehrfachnennungen die ca. 550 Vorschläge der Bürger zu 230 Maßnahmen bündeln konnte, die zur Prüfung an die Verwaltung übergeben wurde. Die Prüfung der Maßnahmen nahm zwar drei bis vier Jahre in Anspruch, dafür wurden aber auch einige anfangs abgelehnte Maßnahmen später dann doch als machbar erachtet und viele Maßnahmen wurden bereits realisiert. Die Bilanz zur Umsetzbarkeit der Maßnahmen ist in der folgenden Grafik dargestellt:

Bereits realisierte Maßnahmen

Bei den kurz- bis mittelfristigen Maßnahmen fanden überwiegend die kostengünstigen Vorhaben Berücksichtigung, die aus Pauschalen zum Straßenunterhalt oder für den Radverkehr bestritten werden können. Aufwändigere Maßnahmen konnten in Kombination mit anderen Projekten umgesetzt werden. Bedeutende realisierte Maßnahmen sind z.B.

  • die Einführung des Parkraummanagements im gesamten Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt (begonnen, bis Juni 2008 abgeschlossen). Es sieht eine Bevorrechtigung der Anwohner mit einer Parklizenz und kostenpflichtiges Parken von Besuchern vor (ausgenommen Sonntag). Die damit einhergehenden häufigeren Kontrollen setzen die programmatische Forderung nach einer besseren Parkraumüberwachung um.
  • eine neue Buslinie, die die Erschließung der bisher unzureichend erschlossenen Dreimühlen- und des Glockenbachviertels verbessert und eine Anbindung zur S-Bahn und zum Stadtzentrum schafft.
  • die Anlage von (Geh- und) Radwege/Radstreifen sowie zwei Querungen mit Druckampel an der Straße Theresienwiese am Rande der benachbarten Messenachfolgenutzung
  • eine neu angelegte Fuß und Radwegbrücke als Verbindung zum Westpark
  • eine neue Ampel und ein Knotenpunktsumbau mit einer fußgängerfreundlichen Ampelschaltung
  • die Öffnung von mehreren Einbahnstraßen
  • die Begrünung dreier Straßen
  • die Verbesserung der Beleuchtung eines Gehsteigs
  • Sitzgelegenheiten an zwei Stellen
  • eine Fahrradstraße
  • ein Lift von einer Straßenbahnhaltestelle zum Stachus-Untergeschoß
  • die Ausstattung der Straßenbahnhaltestellen in der Müllerstraße mit einer dynamischen Fahrtgastinformation
  • Bus-Beschleunigung

Geplante Maßnahmen

Im Maßnahmenkonzept wurde nach kurz- bis mittelfristigen und längerfristigen Maßnahmen unterschieden. Die längerfristigen Maßnahmen sehen nicht minder notwendige jedoch z.T. aufwändigere Maßnahmen vor, die kurzfristig nicht finanzierbar sind, im Rahmen weiterer Maßnahmen entwickelt werden bzw. andere Maßnahmen voraussetzen. Größere geplante Maßnahmen sind neben der Neuanlage sowie der Verbreiterung von Radwegen im Straßenraum attraktive Verbindungen im Grünbereich, eine Querung der Isar für Fußgänger und Radfahrer im Zuge der Braunauer Eisenbahnbrücke, Fahrradstellplätze anstelle von Kfz-Stell-plätzen, die Begrünung mehrerer Straßen, die Verlängerung einer Buslinie und die Verbesserung von Platzgestaltungen. Hinzu kommen Gehwegnasen, Bordsteinabsenkungen sowie zahlreiche weitere kleine punktuelle und organisatorische Maßnahmen. Bei einigen Maßnahmen ist die Zustimmung des Eigentümers erforderlich oder es konnte bisher keine abschließende Prüfung erfolgen..

Fazit und Hinweise für Folgeprojekte

Der Stadtbezirk ist die geeignete Maßstabs-ebene für die Betrachtung des Fußverkehrs (einschließlich Roller und Skater), des Radverkehrs in der Fläche, für Haltestellenzugänge und den Busverkehr. Die Stadtviertelpolitik sollte frühzeitig mit einbezogen werden und z.B. Prioritäten diskutieren und ggf. übernehmen.

Exkursionen bzw. Stadtteilerkundungen mit den Bürgerinnen und Bürgern sind am effizientesten, d.h. für die Planerinnen und Planer besonders aufschlussreich, mit ausgewählten Zielgruppen (z.B. Eltern-Kind-Initiativen, Senioren, Menschen mit Behinderungen). Die Bürgerforen erweitern das Spektrum der beteiligten Bürger erheblich und ermöglichen eine direkte Kommunikation Bürger – Verwaltung. Ein Bürgergutachten hat neben der fachlichen Bedeutung für die Beteiligten einen hohen symbolischen Wert und kann an politische Entscheidungsträger überreicht werden.

Ergebnis des Maßnahmenkonzepts sollte ein umsetzungsorientiertes Sofortprogramm sein. Längerfristige Maßnahmenüberlegungen müssen zunächst nicht in gleichen Schärfe von der Verwaltung geprüft werden. Um die Finanzierbarkeit von Vorschlägen zu gewährleisten, ist ein eigenes Budget erforderlich. Sinnvoll ist die Kombination mit anstehenden Sanierungs- und Straßenbaumaßnahmen. Das Maßnahmenspektrum sollte bei zukünftigen Projekten über die Verbesserung der Infrastruk-tur hinaus auch Maßnahmen und Ziele zur Öffentlichkeitsarbeit (z.B. für eine gegenseitige Rücksichtnahme Rad- und Fußverkehr) sowie Maßnahmen zum Mobilitätsmanagement (z.B. zusammen mit Schulen und Betrieben) umfassen.

Fuß- und radverkehrsfeindliche und/oder praxisferne Regelungen im Landes- und Bundesrecht sollten durch Gesetzesinitiativen überwunden werden.

 

In Kürze

In München wurde das Stadtviertelkonzept Nahmobilität abgeschlossen. Das Pilotprojekt hatte das Ziel, zusammen mit den Bürgern ein-fache und kostengünstige Maßnahmen zu erarbeiten, um die Wege zu Fuß, mit dem Rad, mit Inline-Skates und Roller, sowie mit dem öffentlichen Nahverkehr im Münchener Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt attraktiver zu gestalten. Über die Hälfte der vorgeschlagenen Maßnahmen kann realisiert werden.

Weitere Informationen:

  • Präsentation zum Projekt im Rahmen der Tagung Nahmobilität und Stadterlebnis II unter www.srl.de und www.fuss-ev.de
  • Die vollständige Maßnahmenliste und die Kurzfassung ist in der Beschlussvorlage zum Ausschuss für Stadtplanung und Bauordnung vom 5.12.2007 enthalten

 

Dieser Artikel von Paul Bickelbacher und Kerstin Langer ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2008, erschienen. Paul Bickelbacher ist freier Stadt- und Verkehrsplaner in der Planungsgemeinschaft stadt+plan, außerdem engagiert in der SRL und beim FUSS e.V. Kerstin Langer ist Inhaberin des Büros KOMMA.PLAN.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.