In der Fußverkehrsstrategie für Berlin (vgl. mobilogisch! 3/10, S.17-21) ist als Modellprojekt 5 die Umsetzung von drei Pilotvorhaben „Begegnungszonen“ vorgesehen. Eine davon soll in einem „Bereich mit herausgehobener touristischer Bedeutung“ umgesetzt werden. Da lag es nahe, dass sich der FUSS e.V. jetzt mit dem Vorschlag in die Findungs-Phase einbringt, Deutschlands bekannteste „Flaniermeile“ in den Abwägungsprozess einzubeziehen. Nach einem ersten Fußverkehrs-Audit ergaben sich weitere Vorschläge für Maßnahmen, die für andere Modellprojekte oder Ziele der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ stehen. Der ziemlich genau eine Meile lange Straßenabschnitt könnte ein verbindendes Projekt mit Synergie-Effekten werden.
„Die Prachtstraße Unter den Linden zählt heute zu den berühmtesten Straßen der Welt. Sie ist für Einheimische und Touristen gleichermaßen ein beliebtes Ziel: Als Flaniermeile im Herzen Berlins bietet sie weltstädtisches Flair und ein Panorama großartiger historischer Bauten.“, so oder so ähnlich steht es in zahlreichen Reiseführern. Für viele der etwa 130 Millionen Tagesbesucher pro Jahr in Berlin dürfte die Straße eher eine Ernüchterung sein. Um ihren vorauseilenden guten Ruf besser einschätzen zu können, zunächst eine geschichtliche Einordnung:
Die damals unbefestigte Straße besteht seit 1527 und wurde später zum Reit- und Jagdweg erklärt. Sie war und ist noch heute die breiteste Straße Berlins und blieb mit ihrer bis zu sechsreihigen Lindenbepflanzung über Jahrhunderte der Erholung und dem Vergnügen der Berliner vorbehalten. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte sie sich zur Prunk- und Prachtstraße der preußischen Residenz. Hier marschierte Napoleon an der Spitze seiner Garden 1806 durch das Brandenburger in Berlin ein und hier erhob sich sechs Jahre später das Volk gegen die napoleonische Unterdrückung. Die Straße Unter den Linden diente seither der Demonstration der Macht, sah Paraden, Fürstenempfänge, Bürgerkriege, ausziehende und heimkehrende Truppen und in Friedenszeiten hektische Verkehrssituationen und viele SpaziergängerInnen.
Auch im bürgerlichen Zeitalter behielt die Straße ihren Charakter als Promenade der Müßiggänger. Sie repräsentierte Preußen, und zwar sowohl das militärische, das sich im Zeughaus in aller Pracht zeigte, als auch das geistig-künstlerische, für das schon früh das erste Opernhaus der Welt außerhalb einer Schlossanlage stand. In der sogenannten Gründerzeit entwickelte sich die Straße zum eleganten, großbürgerlichen Boulevard. Doch bereits ein Jahr nach der Machtübernahme machten die Nazis aus ihr eine Aufmarschstraße. Die Mittelpromenade wurde schmaler und für schwere Fahrzeuge befestigt, die beiden Fahrdämme auf jeweils 14 Meter verbreitert und die Lindenbäume wurden abgehackt und durch Fahnenmaste ersetzt. Die Straße Unter den Linden war als Teil der 50 Kilometer langen Ost-West-Achse vorgesehen, die Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ machen sollte. Doch sehr bald danach waren von den 64 Gebäuden, die früher einmal zwischen dem Brandenburger Tor und der Universität gestanden hatten, nach Kriegsende nur noch 13 erhalten.
Die Straße Unter den Linden hat auch eine bemerkenswerte verkehrspolitische Geschichte. Eigens für sie gab es die ersten „Verkehrs“-Regeln - z.B. „Man grüßt Se. Majestät auf der Straße durch Frontmachen…“ - und Bekleidungsvorschriften für FußgängerInnen. Die Aufenthaltsfunktion der Straße war wichtig und so konnten um 1900 auf der Mittelpromenade neben den festen Bänken zusammenklappbare Stühle gemietet werden, so dass man sich in kommunikativen Sitzgruppen positionieren konnte. Hier bekam auch die erste Konditorei die preußische Sondergenehmigung, Kaffeehaustische auf die Straße zu stellen. Unter den Linden war dann die erste Straße mit Gasbeleuchtung, hier erstrahlte erstmals elektrisches Licht in einem Restaurant und es gab das erste elektrifizierte Hotel.
Nachdem „feine Herrschaften“ vergeblich versuchten, Transportmittel auch für die „kleinen Leute“ zu verhindern, verkehrten ab 1846 hier die ersten „Doppeldecker“ (die Herren oben, die Damen unten) und ab 1905 auch die ersten motorisierten Omnibusse. An der Kreuzung Friedrichstraße regelte der erste Verkehrspolizist Preußens den Verkehr und tauschte wegen des Lärms bald seine Trillerpfeife gegen eine Trompete aus. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug übrigens 15 Stundenkilometer und man durfte bis 1928 auf beiden Straßenseiten in beide Richtungen fahren.
Die Straße Unter den Linden ist also als ein „Freizeitweg“ entstanden und wurde erst in den letzten Jahrzehnten ihrer nunmehr 485-jährigen Geschichte zu einer autobahnähnlichen Kraftfahrzeugschneise mit bis zu etwa 30.000 Fahrzeugen am Tag. Doch dürfte die Mehrheit der Touristen an dieser Stelle der Stadt noch immer zu Fuß unterwegs sein. Deshalb schlägt der FUSS e.V. vor, das durch die Nazi-Diktatur für eine innerstädtische Straße verfehlte Nutzungskonzept durch folgende Maßnahmen wieder rückgängig zu machen:
Selbst in Tageszeiten mit einem verhältnismäßig geringen motorisierten Verkehrsaufkommen ist ein unbekümmertes Spazierengehen nicht möglich. Das liegt hauptsächlich an den sechs Unterbrechungen durch Querstraßen mit teilweise sehr geringem Kraftfahrzeugverkehr, die damit auch den knapp einen Kilometer langen Mittelstreifen unterteilen. Deshalb wird vorgeschlagen, durch die Herstellung niveaugleicher Gehwegüberfahrten, zumindest aber durch Teilaufpflasterungen, die Promenade aus der Sicht der Fußgänger optisch und auch verkehrsrechtlich zusammenzufügen, ohne die Straßenstruktur wesentlich zu beeinflussen. Darüber hinaus sollten Fußverkehrs-Audits an allen Querungsstellen durchgeführt werden, damit ein Wechsel der Straßenseiten und das Erreichen der Mittelpromenade für Fußgänger sicherer und komfortabler wird.
Nachdem die Nazis die an Kettenzügen über der Mittelpromenade hängenden Lampen entfernten, befinden sich heute an den Rändern diffuse Leuchtstäbe, die direkt am Fahrstreifen leuchten, den Fußgängern aber wenig nutzen. Auch in den Seitenbereichen werden fast durchgängig nicht die Gehwege, sondern die Pkw-Parkstreifen und Fahrradabstellanlagen beleuchtet. Deshalb gibt es an Straßenabschnitten ohne Schaufenster „Dunkelzonen“, wie sie ein großstädtischer Boulevard nicht haben dürfte. Es sollte also geprüft werden, in wie weit eine Verdrehung der Leuchten in den Seitenbereichen möglich ist oder ob gesonderte Beleuchtungseinrichtungen für die Fußwege anzubringen sind. Darüber hinaus ist durch Fußgänger-Audits festzustellen, ob durch die derzeitige schlechte Ausleuchtung der Querungsstellen die Fußgängerinnen und Fußgänger bei Dunkelheit erkennbar sind.
Eine Flaniermeile Unter den Linden muss mit den anliegenden Fußverkehrsflächen vernetzt werden. So müssen die Mittelpromenade und die beiden seitlichen Gehwege an den Fußgängerbereich am Brandenburger Tor angebunden werden. Auf der anderen Seite der Flaniermeile muss das touristisch relevante Nikolai-Viertel (Berliner Altstadt) sicher und komfortabel über den „Spreeweg“ (Grüner Hauptweg Nr. 01) erreichbar sein. Stadt der von den Nazis geplanten überdimensionierten Stadtautobahn gäbe es dann eine West-Ost-Achse für Fußgänger und Flaneure.
Wenn sich Berlin nicht nur als eine Stadt mit Flanier-Tradition, sondern auch aktuell als Stadt des Spazierengehens und Flanierens präsentieren möchte, muss die Straße Unter den Linden aufgewertet werden. Als einer der ersten Schritte wird empfohlen, die im Jahr 1934 vorgenommene Umgestaltung der Straße vom Boulevard zur Aufmarsch- und Kraftfahrzeugstraße, verbunden mit einer Abwertung der Mittelpromenade und Verbreiterung der Kraftfahrzeugflächen, schrittweise wieder rückgängig zu machen. Die Kosten für die vom FUSS e.V. vorgeschlagenen Maßnahmen sind verhältnismäßig gering, die Signalwirkung wäre dagegen über Berlins Grenzen hinaus erheblich.
In einer 27-seitigen Studie stellt der FUSS e.V. die wechselhafte Geschichte der über Deutschland hinaus bekanntesten Straße Unter den Linden als Verkehrsader, Aufmarschstraße und Flaniermeile dar, lässt Poeten und Schriftsteller ihre Eindrücke schildern und kommt zu dem Schluss, dass der Ruhm aus alten Zeiten stammt. Doch bietet die Beschlusslage zur „Fußverkehrsstrategie“ beste Grundlagen dafür, zukünftig wieder mehr Lebensqualität in diesen Straßenzug zu bekommen.
Es wird empfohlen, zumindest auf einer Teilstrecke eine „Begegnungszone“ für alle VerkehrsteilnehmerInnen einzurichten, in der nach dem Vorbild der Regelungen in der Schweiz, Frankreich und Belgien die Fußgänger Vorrang haben. Als Modell für diese Maßnahme könnte der Opernplatz in Duisburg stehen. Das Instrumentarium zielt ausdrücklich auf die Einbeziehung von Hauptverkehrsstraßen und ist deshalb bekanntlich trotz der Unterstützung durch VerkehrswissenschaftlerInnen und –verbände in Deutschland noch nicht in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert. Deshalb wird ein Modellvorhaben nach §46 StVO vorgeschlagen, mit dem französischen Zeichen für die Verkehrsberuhigung und mit Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Für den Linienbusverkehr sollen allerdings zwei Richtungsfahrbahnen erhalten bleiben. Damit soll der zentrale Bereich der Straße Unter den Linden verkehrsberuhigt und weitestgehend vom schnellen Autoverkehr entlastet werden.
Die Studie finden Sie unter www.flaniermeile-berlin.de und detaillierte Quellenangaben in der PDF-Version im Download-Bereich.
Informationen über die Fußverkehrsstrategie finden Sie unter www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/fussgaenger/strategie/index.shtml.
Den besten Überblick über die Regularien zur Verkehrsberuhigung bietet die Website www.strassen-fuer-alle.de.
Wer sich über die Aktivitäten des FUSS e.V. in der Bundeshauptstadt einen Überblick verschaffen möchte, findet diesen unter www.berlin-zu-fuss.info.
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2012, erschienen.
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In der Bundeshauptstadt hat sich der Anteil der Fahrradwege in den letzten Jahren auf 13 % und der Wege zu Fuß sogar auf 30 % erhöht, während sich der Anteil mit motorisierten Verkehrsmitteln (MIV) auf ca. 31 % vermindert hat (Modal Split 2008). Möglicherweise wird der Fußverkehr in diesem Jahr den MIV als Spitzenreiter ablösen. Ein Anlass mehr, um darüber nachzudenken, wie der Fußverkehr weiterhin gestärkt und Berlin zumindest Deutschlands „Fußgängerhauptstadt“ werden kann. In Europa wetteifern ja bereits andere Städte wie z.B. London oder Kopenhagen um diesen Titel, wohl noch eine Nasenlänge voraus. Berlin will diese Städte nicht „überholen“, ohne sie vorher „eingeholt“ zu haben, deshalb braucht alles seine Zeit. Es folgt ein Zwischenbericht.
Im Erläuterungsbericht des 1994 beschlossenen Berliner Flächennutzungsplans wurde die Vision eines „stadtverträglichen Verkehrs“ mit „gleichwertigen Mobilitätschancen“ daran festgemacht, dass alle Bevölkerungsgruppen ohne Auto ihre Ziele in der Stadt in vergleichbaren Zeiträumen problemlos erreichen. „Nicht notwendiger Verkehr soll durch eine Stadtstruktur der kurzen Wege reduziert, der Anteil der umweltfreundlichen Verkehrsmittel durch ein leistungsfähiges Angebot im öffentlichen Verkehr und attraktive Wegenetze für Fußgänger und Radfahrer erhöht werden...“.
Im Jahr 2003, inzwischen waren alle Stadtteile von allen Bürgern begeh- und befahrbar, beschloss der Senat den „Stadtentwicklungsplan Verkehr“. Auch in dieser strategischen Leitlinie der künftigen Verkehrspolitik ist als Leitbild die „Stadt der kurzen Wege“ definiert, in der „die Mobilität im Nahbereich ... durch überall günstige Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer“ erleichtert werden soll. Beim Fußgängerverkehr werden Steigerungspotenziale gesehen, „wenn Sicherheit, Bequemlichkeit und Attraktivität der öffentlichen Räume erhöht werden“. In der „Teilstrategie Innere Stadt“ wird das Ziel formuliert, „durch Entlastung vom motorisierten Individualverkehr dem Fußgängerverkehr mehr Platz zu geben und die Bedingungen des Fußgängerverkehrs zu verbessern: durch ausreichend breite Gehwege, eine bessere Wegweisung und verbesserte Querungsmöglichkeiten von Hauptverkehrsstraßen.“
Im Maßnahmenkatalog ist die Weiterentwicklung und Umsetzung der Konzeption für ein fußgängerfreundliches Berlin näher ausgeführt, einschließlich der Benennung der prioritären Orte und Maßnahmen (Verbesserung der Bedingungen für den Fußverkehr insbesondere durch Verbesserung der Querungsmöglichkeiten an Hauptverkehrsstraßen / Erhöhung der Verkehrssicherheit, Verbesserung der Wegweisung, Verbesserung der Aufenthaltsqualität).
Ende September 2009 wurde durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Beratungsgremium „Berlin zu Fuß“ konstituiert. Berufen wurden zwanzig Mitglieder, darunter z.B. Prof. Dr. Rolf Monheim Uni Bayreuth, Michael Adler Fairkehr GmbH, Martin Schlegel vom BUND-Berlin, Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, der Polizei, des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, der Landesseniorenbeirat, der Behindertenbeauftragte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senatsverwaltungen und aus den Bezirken, sowie der zum Sprecher des Beirates gewählte Vertreter des FUSS e.V. (Autor). Die Mitglieder und weitere Gäste und Referentinnen und Referenten trafen sich bis Anfang Mai 2010 zu vier weiteren Tagessitzungen. Die Moderation lag bei Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Spath & Nagel. Geleitet und aktiv unterstützt wurde das Gremium vom Abteilungsleiter (Verkehr) Dr. Friedemann Kunst, dem Referatsleiter (Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik, Verkehrsentwicklungsplanung) Burkhard Horn, dem Referatsleiter (Planung und Gestaltung von Straßen und Plätzen) Heribert Guggenthaler und nicht zuletzt durch den für den Fußverkehr zuständigen Mitarbeiter Horst Wohlfahrth von Alm.
Mitte Dezember 2009 führte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zum Thema „Begegnungszonen“ ein zusätzliches Workshop durch. Darüber hinaus fand Mitte April 2010 ein Experten-Workshop zum Thema „Berlin – Hauptstadt der Fußgänger!“ statt, an der drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung, der Beirats-Moderator, sowie 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. teilnahmen, einem durch Hanna Schlagk moderiertem Brainstorming. Ziel der Gesamtheit dieser Veranstaltungen war die „Beratung bei der Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Berlin“ (Einladungsschreiben der Staatssekretärin Maria Krautzberger, 21.7.2009).
Das Verfahren entwickelte sich schnell zu dem wohl bisher umfangreichsten Fachseminar in Deutschland über Fußverkehrsfragen und war dank der einleitenden Grundlagen durch die Moderation von vorne herein ergebnisoffen und thematisch breit angelegt. Der Bogen spannte sich über Themenschwerpunkte wie „Infrastruktur für den Fußverkehr“, „Netzzusammenhänge“, „Gesundheit und Sicherheit“ zu „Information und Kommunikation“. Behandelt wurden neben den im Zusammenhang mit dem Fußverkehr zu erwartenden Themen wie z.B. „Querungsanlagen“, „Erreichbarkeit von Haltestellen“, „Verkehrssicherheit“, „Zu Fuß zur Schule“ oder „Wegweisungen“ auch nicht so häufig diskutierte Themen wie z.B. „soziale Sicherheit“, „Beleuchtung“, „Sitzgelegenheiten“ und „Fußgängerstadtpläne“. Durch die Fachreferenten aus Berlin, anderen deutschen Städten und der Schweiz und die sehr intensiven und kompakten Diskussionen waren die Beiratssitzungen für alle Beteiligten gleichzeitig Innovation und Lernprozess. Dies wurde berücksichtigt durch die Aufnahme eines „Weiterbildungsangebot(es) für Mitarbeiter zum Thema Fußverkehr“ und die Verpflichtung zu einer „Koordination und Abstimmung der beschlossenen Maßnahmen innerhalb der öffentlichen Verwaltung“ in die Umsetzungsstrategie.
In der letzten Sitzung wurde der durch die Moderation kontinuierlich ergänzte Entwurf einer „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ noch einmal durchgehend im Zusammenhang diskutiert und es wurden die Schwerpunkte für mögliche Modellvorhaben festgelegt. Dieser Entwurf wird nun dem Senat und dem Rat der Bürgermeister als Beschlussfassung vorgelegt. Der Beirat „Berlin zu Fuß“ soll das Verfahren durch jährliche Sitzungen „nachsteuernd“ begleiten, die vertretenen Akteure an der Umsetzung der Strategie mitwirken.
Der noch nicht beschlossene Entwurf enthält eine sehr gute Zusammenstellung der Argumente für die Förderung des Fußverkehrs, eine auf die Sachbereiche verteilte Analyse der bestehenden Bedingungen für Fußgänger in der Stadt und darauf aufbauend zahlreiche zum Teil sehr differenzierte Maßnahmenvorschläge für alle Politik- und Verwaltungsebenen. Unabhängig von den noch möglichen Änderungen im Abstimmungsprozess lassen sich aber bereits beispielhaft die drei strategischen Ziele benennen:
„Voraussetzung für eine effiziente Umsetzung dieser Ziele sind insbesondere folgende Schritte:“
Die Finanzierung der Umsetzung der Fußverkehrsstrategie fußt auf einem laufenden (Fußgängerüberwege-Programm) und drei neuen Bausteinen: 10 Modellprojekte, Programm „Barrierefreie öffentliche Räume“ und eine Verstetigung von Förderprojekten zum Fußverkehr ab 2017.
Neben den in einer Fußverkehrsstrategie zu erwartenden allgemeinen Aussagen wie z.B. „Stadt der kurzen Wege“, „ausreichend häufige, bedarfsgerechte, kurze und sichere Querungsmöglichkeiten über die Fahrbahnen des Autoverkehrs“ usw. sollen folgend nur einige wenige weitere Maßnahmenbereiche erwähnt werden:
Die in der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ enthaltenen Maßnahmen und Modellvorhaben sind für ein Programm einer deutschen Kommune bahnbrechend; sie werden bei Umsetzung dennoch nicht flächendeckend die gesamte Stadt fußgängerfreundlicher machen. Sie können allerdings das Klima wesentlich verbessern und Merkpunkte setzen, an denen das Thema „Umweltverbund“ weiter diskutiert werden kann. Bekanntlich sind auch verkehrspolitische Entwicklungen und Weichenstellungen von personellen Besetzungen und Zusammensetzungen abhängig. In der Berliner Verwaltung sind diese zurzeit so „fußgängerfreundlich“ wie nie zuvor. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der Wille seitens aller Beteiligten ist glaubhaft, wird aber immer wieder – verwaltungsintern und in der öffentlichen Diskussion - auf dem Prüfstand stehen. FUSS e.V. will weiterhin kontinuierlich und konstruktiv mitwirken, nicht zuletzt auch wegen der erhofften Ausstrahlung dieses Modellprojektes auf andere Kommunen in Deutschland.
Nach der Radverkehrsstrategie wird in Berlin, wie vom Senat bereits vor sieben Jahren beschlossen, eine Fußverkehrsstrategie auf den Weg gebracht. Die in der noch nicht öffentlich vorliegenden Fassung enthaltenen programmatischen Aussagen stehen „unter dem übergeordneten Ziel einer stadt-, sozial- und umweltverträglichen, gesunden, sicheren und ökonomisch effizienten Bedienung der städtischen Mobilitätsbedürfnisse“. Die damit verbundene Kommunikationsstrategie soll „ein Verkehrsklima schaffen, das den Fußverkehr als selbstverständlichen und gleichberechtigten Bestandteil der städtischen Mobilität begreift und begünstigt.“
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.
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am 16. April 2010, 14:00-17:30 Uhr im „Rittersaal“ in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin
Der Experten-Workshop bestand aus
Die etwa insgesamt 75-minütige Ideensammlung erfolgte vierstufig, beginnend mit Notizen aller Teilnehmer/innen, in Zweiergesprächen, in Vierer-Gruppen und zuletzt im Plenum. Angeregt wurden die Teilnehmer/innen durch Fragestellungen allgemeiner Art über ihre Erfahrungen aus Heimat- und bereisten Städten hinsichtlich ihrer Fußgängerfreundlichkeit (1) und in einer zweiten Phase durch eine zufällig „gezogene“ Rollenübernahme von Fußgängern verschiedenen Geschlechts und Alters, mit unterschiedlichen örtlichen Zielen, Interessen oder auch Beeinträchtigungen (2). Diese Phase der freien Äußerungen, wie sich die Teilnehmer/innen im Idealfall eine Fußgängerstadt vorstellen, welche Randbedingungen dabei wichtig sind und welche Anforderungen sich aus der übernommenen Rolle ergeben würden, erbrachten insgesamt etwa 240 Hinweise.
Im abschließenden 45-minütigen Plenum wurden Wiederholungen an der Pinnwand doppelt gesteckt und die Karten nach Gebieten grob sortiert. Assoziative Formulierungen und kurze Stichworte wurden erläutert und teilweise diskutiert. Auf eine weitere Arbeitsphase zur Beurteilung der Umsetzungsmöglichkeiten der Vorschläge musste aus Zeitgründen verzichtet werden.
Zur besseren allgemeinen Verständlichkeit und der einfacheren Verwertbarkeit der Aussagen wurden die Stichworte und Sätze nach dem Workshop noch einmal gekürzt, soweit notwendig erläutert und in kleinere Themengruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Zusammenstellung der Ergebnisse ist zu beachten, dass sich die Aussagen auf verschiedene Fragestellungen im Verlaufe der Ideensammlung beziehen.
Zusammengefasste Zielfrage des Workshops: Welche Aspekte und Details sind den als Vorstandsmitglieder der Fußgängerlobby „bewußteren“ Fußgängerinnen und Fußgängern besonders wichtig, wenn es darum geht, in der Stadt verkehrssicher, gesund und angenehm gehen zu können.
Keine Übertreibung bei der Stadtinszenierung, es muss nicht jede Ecke planerisch bedacht sein, durchaus auch Brachflächen mit Gerümpel zulassen und mehr geheimnisvolle Ecken
Bei jeder MIV-Verkehrsplanung muss grundsätzlich überdacht werden, welche Auswirkungen sie auf den Fußverkehr haben könnten
Bernd Herzog-Schlagk (FUSS e.V.) und Hanna Schlagk (Moderatorin), 22.04.2010
Große Verkehrsadern können besonders für ältere Fußgänger zur großen Herausforderung werden. Es gilt, diese Räume nicht nur physisch, sondern auch „emotional“ barrierefrei zu gestalten, um sie ohne Stress und Angstgefühle nutzbar zu machen.
Viele Hauptverkehrsstraßen sind vor allem durch den privaten Pkw geprägt: Überbreite Fahrspuren, Stellplätze, Lärm und Abgase lassen häufig nur wenig Raum für andere Funktionen und Ansprüche. Dabei ist die HauptverBeitragkehrsstraße eindeutig mehr als nur ein Verkehrsraum. Hier konzentrieren sich die Standorte von Einzelhandel, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen, hier bündeln sich die Linien des ÖPNV und befinden sich stadtbildprägende Strukturen und Gebäude. Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise zu zentralen Anlaufpunkten und Identifikationsträgern in der Stadt. Gerade für ältere Menschen stellen sie wichtige Alltagsräume im Quartier dar. Aufgrund sinkender Mobilitätsradien werden die Angebote und Erfahrungsräume im wohnungsBeitragnahen Bereich, zu dem nicht selten auch große Verkehrsadern mit ihrer Nutzungsvielfalt gehören, zunehmend wichtiger. Als Orte alltäglicher Erledigungen, als Erinnerungsraum, Orientierungshilfe oder Quelle neuer Eindrücke, Hauptverkehrsstraßen werden zu einer bedeutenden Ressource. Eine „Flucht“ zu ruhigeren, vielleicht attraktiveren Lagen ist nicht immer möglich.
Von älteren Menschen per se als schutzlosen und hilfsbedürftigen Verkehrsteilnehmern zu sprechen, würde dem heterogenen Bild des Alterns entgegenstehen und nicht der Realität entsprechen. Tatsache ist jedoch, dass insbesondere hochaltrige Menschen vermehrt von Einschränkungen betroffen sind, die die Mobilität beeinträchtigen. In den kommenden Jahrzehnten ist mit einem rapiden Ansteigen gerade dieser Gruppe zu rechnen. Da mit zunehmendem Alter die eigenen Füße zum mit Abstand wichtigsten Verkehrsmittel werden, sind ältere Fußgänger und ihre spezifischen Anforderungen ein zu Recht dauerhaft aktuelles Forschungsthema. Stellen Lärm, Abgase, Geschwindigkeiten und eine am Pkw orientierte Gestaltung bereits für den durchschnittlichen Fußgänger eine Belastung dar, können sie für ältere Menschen schnell zur großen Herausforderung werden. Städtische Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise nicht nur zur physischen, sondern auch zur emotionalen BarrieBeitragre und können meidendes und rückzugsorientiertes Verhalten auslösen. Im Rahmen der diesem Artikel zugrundeliegenden Diplomarbeit wurden ältere Fußgänger mit Mobilitätseinschränkungen an großen Verkehrsadern begleitet und insbesondere das subjektive Empfinden wurde dokumentiert (vgl. Kasten „Méthode des Itinéraires“). Der herausfordernde, in Teilen sogar überfordernde Charakter städtischer Hauptverkehrsstraßen konnte dabei eindrücklich beobachtet werden.
Wie müssen nun also altersgerechte Hauptverkehrsstraßen aussehen? In der Planung dominieren häufig Konzepte, die sich vor allem mit physischen Komponenten wie z.B. einer verbesserten Querbarkeit oder einem barrierefreien Vorankommen befassen. Die Fachliteratur zum Thema Barrierefreiheit ist mehr als umfangreich. Konzepte, die aber auch subjektive Aspekte wie etwa die Themen Stress, Anregung oder die Identifikation mit dem Raum beinhalten sowie die Einflüsse des Straßenverkehrs auf die Wahrnehmung berücksichtigen, sind selten. Doch Handlungskonzepte müssen nicht nur physisch altersgerecht sein, sondern auch die emotionale Dimension des Zufußgehens abdecken. Es gilt, integrierende „alterssensible“ Strategien zu entwickeln.
Als wichtiges Handlungsfeld lässt sich die sichere Erreichbarkeit und Querbarkeit hervorheben. Während der Spaziergänge wurden nahezu durchweg große und andauernde AngstBeitraggefühle beim Queren der Straße geäußert. Auch Ampeln erzeugten für die begleiteten Fußgänger häufig nur eine Schein-Sicherheit. Freies Queren ohne Hilfseinrichtungen wie z.B. Lichtsignalanlagen wurde selbst bei großen und für die Gehgeschwindigkeit objektiv ausreichenden Lücken im Verkehrsfluss abgelehnt oder als gefährliches Risiko eingestuft.
Von besonderer Bedeutung für alternssensible Konzepte ist darüber hinaus die Beschäftigung mit den Themen Aufenthalt und soziale Teilhabe – gerade an Hauptverkehrsstraßen. In Bezug auf ältere Menschen erhält der Begriff des Aufenthalts schließlich eine völlig neue Bedeutungsdimension, wenn dieser nicht nur auf freiBeitragwillige Tätigkeiten begrenzt, sondern auch auf unfreiwillige Aufenthaltszeit ausgedehnt wird. Aufgrund von Einschränkungen in der Mobilität ist bei vielen hochaltrigen Fußgängern von einer deutlich verlangsamten Gehgeschwindigkeit und einem erhöhten Bedarf an Ruhepausen auszugehen. Dadurch wird die Zeit, die an einer Hauptverkehrsstraße verbracht werden muss z.B. im Vergleich zu jüngeren Personen merklich erhöht. Der Fußweg entlang einer großen Verkehrsader kann für ältere Menschen also durchaus zum kleineren Aufenthaltserlebnis werden. Neben Möglichkeiten für einen stressfreien Aufenthalt müssen darüber hinaus optimale Voraussetzungen für eine gute Orientierung und Identifikation mit dem Raum geschaffen werden. Es geht darum, Halt zu geben, den Raum kontrollierbarer und anregender zu gestalten.
Schlüsselmaßnahmen sind hier sicher der Rückbau von oftmals überbreiten Fahrbahnen und eine Geschwindigkeit deutlich unter den momentan noch üblichen 50 km/h. Dadurch werden wichtige Voraussetzungen für eine verträglichere Abwicklung der verkehrlichen Belastungen geschaffen: Weniger Lärm, überschauBeitragbarere Fahrgeschwindigkeiten, leichter querbare Straßenräume und vor allen Dingen: mehr Raum für eine attraktivere Straßenraumgestaltung. Doch viele Straßen lassen nur begrenzt Spielraum für großangelegte Umbauten. Hier kommt es v.a. auf kompensatorische, d.h. subjektiv ausgleichende Lösungen wie z.B. mehr Grün, mehr Farbe oder einfach mehr AbwechsBeitraglung im Straßenraum durch ein attraktives Erscheinungsbild und lebendige Randnutzungen (Schaufenster etc.) an. Die Möglichkeit zur positiven Ablenkung, zur Beschäftigung mit Aspekten außerhalb des Verkehrsgeschehens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, was auch die Stadtspaziergänge nochmals bestätigten. Auch kleine Pufferräume zur Fahrbahn, z.B. durch eine Baumreihe, können die Bedrohlichkeit der Verkehrskulisse mindern helfen.
Untrennbar verbunden mit dem Thema Aufenthalt ist auch der Bereich Kommunikation. Gerade dieser Aspekt ist in diesem wichtigen Alltagsraum mit seinen zahlreichen Chancen auf Zufallstreffen von Bekannten besonders wichtig. Ist jedoch kein Platz für großzügige „Ruheinseln“, die die Verkehrskulisse zumindest subjektiv abmildern, bieten alternativ die Mündungsbereiche der Nebenstraßen häufig große Potenziale (z.B. „Gehwegnasen“). Abseits des direkten Verkehrslärms und der Abgase, doch immer noch in Sicht- und Laufweite, könnten auf diese Weise attraktive „Ausweichräume“ für Kommunikation und neue Eindrücke geschaffen werden. An historisch bedeutsamen Stellen oder in Sichtachsen zu stadtbildprägenden Gebäuden können darüber hinaus gezielt platzierBeitragte und attraktiv gestaltete Ruhebereiche zu identitätsstiftenden Erinnerungs- und BeobachBeitragtungsräumen werden. Im Einzelfall bleibt zu prüfen, inwieweit solche Räume z.B. durch gestaltete Glaselemente zumindest subjektiv vom Verkehr geschützt werden können.
Die Liste weiterer „prothetischer“, d.h. unterstützender, Elemente für mehr Altersgerechtigkeit ist lang: Haltegriffe an Licht- und Ampelmasten in regelmäßigen Abständen, Sitzrouten mit multifunktionalen Sitzgelegenheiten, abschnittsBeitragweise Farbkonzepte zur besseren Orientierung, Wasser als positives Gegengeräusch zum Lärm, ablenkende „Duftinseln“ mit besonders intensiv blühenden Baumarten oder z.B. einfach nur Mittelinseln, die über die Regelbreiten hinausgehen und das Warten im Verkehr weniger bedrohlich erscheinen lassen. Die Maßnahmen schaffen dabei keine ausgrenzenden „Altenboulevards“, sondern bieten im Sinne eines Designs für alle auch anderen Nutzergruppen deutliche Vorteile.
Es gilt, maßgeschneiderte Konzepte für den Einzelfall zu entwickeln. Eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums kann jedoch nicht am Schreibtisch stattfinden, sondern muss die älteren Menschen selbst mit einbeziehen.
Die Ergebnisse der Diplomarbeit haben deutlich gezeigt, wie stark „objektive“ Straßenraumbewertungen durch den Planer von der subjektiven Sicht der älteren Fußgänger selbst abwichen. Dabei wird noch einmal die Schwierigkeit offenbart, subjektive Aspekte operationalisieren zu können. Durch eine frühzeitige und intensive Beteiligung wird auch die Chance offen gehalten, den Planungsprozess mit kontrollieren zu können und nicht passiv vor neugestaltete VerkehrsBeitragumwelten gestellt zu werden, in denen die Orientierung schwer fällt.
Neben einer weiteren Erforschung der Einflüsse des Verkehrs auf die Raumwahrnehmung wird zukünftig verstärkt zu prüfen sein, inwiefern neue Konzepte der Stadtverkehrsplanung wie z.B. Shared Space oder Begegnungszonen positiv zur Aufwertung großer Verkehrsadern beitragen können und subjektiv wahrgenommen werden. Die Ansätze verheißen spannende Möglichkeiten, werfen aber z.B. hinsichtlich des Sicherheitsempfindens auch Fragezeichen auf. Doch egal welche Ansätze gewählt werden, eine ganzheitliche „alterssensible“ Sicht erscheint zwingend notwendig.
In den 70er Jahren von J.-Y. Petiteau geprägt, beschreibt die „Méthode des Itinéraires“ eine besondere Form der Stadtspaziergänge, bei der die subjektive Sicht des Einzelnen im Vordergrund steht. Im Rahmen eines dreistufigen Verfahrens wechseln Forscher und Testperson mehrmals die Rollen. Der Forscher tritt dabei v.a. als Beobachter auf, während die Testperson eine Führungsrolle auf dem ihr vertrauten Terrain einnimmt.
Städtische Hauptverkehrsstraßen sind gerade für ältere Menschen wichtige Alltags- und Bewegungsräume. Durch eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums könnten Straßenräume geschaffen werden, die mit weniger Stress und Angstgefühlen nutzbar sind. Dabei kommt der Beteiligung älterer Menschen selbst eine Schlüsselrolle zu.
Dieser Artikel von Matthias Franz ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen.
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Zum Fußgänger-Symposion in der Lutherstadt Wittenberg am 10. + 11. Oktober 2003 wurde ich gefragt, welchen Nutzen das Gehen für unsere Umwelt und unsere Gesundheit hat und welche Maßnahmen und Initiativen sinnvoll wären, um diese Zusammenhänge deutlicher in die fachliche und politische Diskussion einzubinden und Handlungen anzuregen. Mein Beitrag versucht, den Nutzen des Gehens für Umwelt und Gesundheit im landschaftlichen und damit gesellschaftlichen Zusammenhang zu beleuchten. Es ist ein Beitrag im Sinne von Lucius Burckhardt (1925-2003) mit der von ihm begründeten „Spaziergangswissenschaft“ als Schlüssel zur Wahrnehmung unseres Lebensraumes.
Unsere Umwelt ist in klimatische und geologische Naturräume eingebettet, sie ist auch Lebensraum für Tier und Pflanzengesellschaften – ihre Ausgestaltung ist indessen menschgemacht: In Form gebauter Städte mit ihrem suburbanisierten Umland und als landwirtschaftlich genutzte Wälder, Wiesen und Felder. Selbst Naturschutzgebiete sind nicht einfach eingezäunt und sich selbst überlassen, sondern werden gehegt und gepflegt, damit die Sukzession in Richtung eines stabilen pflanzengesellschaftlichen „Endzustandes“ nicht das, in unseren Köpfen vorhandene „historische“ Landschaftsbild überwächst.
Die Umwelt ist also nicht die Natur, sondern das Ergebnis kultureller Lebensweisen. Aufgrund der überwiegenden Gesellschaftsbestimmtheit sprechen wir anstelle von Umwelt, von der Landschaft. Unsere, also immer im Wandel befindenden Lebensweisen prägen durch Gestaltung, durch Bauen und Nutzen, letztendlich durch Wirtschaften ein landschaftliches Gewebe. Deshalb ist Landschaft auch keine Sequenz natürlicher, topographischer Gegebenheiten, sondern zeigt sich als darüber liegende künstliche Überformung – als Siedlung oder Landwirtschaft.
Wichtig ist, die sichtbaren Elemente der Landschaft können nur gemeinsam mit den unsichtbaren gesellschaftlichen Bezügen erklärt werden: Der Verlust engmaschiger und attraktiver Fußwegenetze ist nicht von den politischen, fiskalischen und baulichen Prioritätensetzungen zu trennen; an den Signalsteuerungen können Straßenraum beziehungsweise die Passierzeit nur einmal zwischen Autos, Straßenbahnen, Radfahrern und den Fußgängern verteilt werden. Mit dem Landschaftsbezug versuchen wir unsere spezifischen Umwelten aus isolierenden Betrachtungsweisen herauszulösen. Beispielsweise sehen wir die Bedeutung des Gehens nicht vordergründig im Kontext individueller Gesundheit auf Wanderungen in Landschaftsschutzgebieten. Vielmehr werden urbane Wechselwirkungen, wie Quartiers- und Angebotsentwicklung, Wohnweisen oder gesellschaftliche Mobilität mit den Bedingungen des Gehens beleuchtet: Unser Interesse gilt den Determinanten der Landschaftsveränderung, die durch zumeist unsichtbare Regelungslogik ihre Ausprägung erhalten.
Wie die Landschaft mit spezifischen Umwelten in enger Korrelation steht, so auch die Gesundheit: Unser Wunsch nach stabiler Gesundheit hängt sicherlich von den wohl kaum beeinflussbaren natürlichen und genetischen Voraussetzungen ab, im wesentlichen aber, bekommt unser existenzielles Wohlbefinden durch alltägliche, wie rituelle Lebensformen seinen Handlungsrahmen. Individuelle und kollektive Gesundheit lässt sich im erweiterten Sinne als Produkt von Lebensweisen umschreiben, beispielsweise Ernährungskultur, Siedlungskultur, Mobilitätskultur oder Produktionskultur, wie immer sie auch gelebt werden und sich wechselseitig bedingen. Umgekehrt bilden sich die Lebensweisen in unserer Stadtlandschaft ab und determinieren die „Gesundheit des urbanen Gewebes“ als Grundlage gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.
Und nun komme ich zur Kernthese meiner Ausführungen: Die Fortbewegung von „Bauch“ und „Kopf“ mit den leistungsfähigen Füßen - also das Gehen - ist Schlüssel für die feinsinnige Wahrnehmung unserer städtischen und ländlichen Landschaften. Landschaft wird eigentlich erst im Laufe von Spaziergängen mental erschlossen. In der Fußgängerperspektive können wir soziale und ökonomische Lebenszusammenhänge über die lokalen Phänomene beobachten; beim Durchschreiten konkreter Räume als Originalbühne eröffnen sich nachspürbare Zusammenhänge unserer Landschaften. Gelehrt hat dies Lucius Burckhardt, mit der von ihm entwickelten Spaziergangswissenschaft. Unter der Annahme, dass wir das Alltägliche nicht mehr bemerken, führte Burckhardt sein Publikum – und auch mich – immer wieder durch die sich verändernde Stadtlandschaft und vermittelte die dahinterstehenden planerischen Annahmen und gesellschaftlichen Bedingungen. Im Sinne dieser Herangehensweise wollen wir mit virtuellen Spaziergängen die Entwicklungstendenzen unserer zunehmend schwieriger wahrnehmbaren Landschaften beleuchten, bilden sie doch das Gerüst unserer individuellen wie gesellschaftlichen Herausforderungen.
Sehr fein ist die Beobachtung von Burckhardt über das Sehen und Erkennen unserer allgemein nachlassenden urbanen Lebensqualität: „Die Lebensqualität wurde dem Stadtbewohner scheibchenweise weggeschnitten, so dass er sie unmerklich aus dem Auge verlor. Als die Autos zunahmen, konnte man die Straße beim Spielen nicht mehr benutzen. Dann wurden Zebrastreifen eingerichtet. Man freute sich nun, wenigstens in Sicherheit die Straße überqueren zu können. Dies sind im Grunde ständige Enteignungen, die wir entweder gar nicht mehr spüren, oder wir empfinden sie als Gewinn, weil uns scheinbar etwas zurückgegeben wird. Der Zebrastreifen ist gefahrlos und sicher, heißt es. Dabei müsste man ja überall die Straße passieren können. Irgendwann gilt der Zebrastreifen als zu unsicher und wird durch Ampelanlagen ersetzt, bei welcher man dann noch auf das Signal warten muss. Dieser Enteignungsprozess läuft immer scheibchenweise, so dass man den Gesamtverlust nicht sehen und erfahren kann“. Demgegenüber werden seit Jahrzehnten Lösungen gesucht, die länger werdenden Fahrtstrecken bis inmitten der Kernstädte in akzeptabler Zeit zu bewältigen. Nachdem man dem Autofahrer in der Vergangenheit vor allem mehr Raum in den Städten gegeben hat, werden heute über Signalsteuerungen zeitliche Kapazitätsoptimierungen an den Kreuzungen ermöglicht; und morgen könnten Verlagerungen in heute noch mäßig befahrene Straßen weiterhin steigende Verkehrsflüsse bewältigen.
Eingeschlagene Entwicklungen müssen aber nicht zwangsläufig an die Grenzen der Machbarkeit getrieben werden: Man könnte auch bei fortgeschrittenen Zersiedlungserscheinungen die Erschließungen der Zentren und Quartiere siedlungsgerechter ausbalancieren; gerade durch eine verstärkte Wiedereinführung des Fußgängerüberweges ließen sich die Verkehrsflüsse verstetigen und würden mehr Lebensqualität für die Bewohner bringen. Bei häufigem Einsatz gewöhnen sich Autofahrer und Fußgänger an die Regelungen am Zebrastreifen und machen ihn sicherer, noch dazu viel preiswerter als die „Lösung“ über Fußgängerfurten mit Signalsteuerungen. Solch ein Paradigmenwechsel in der Straßenbenutzung würde die rechtliche Situation nicht wieder umkehren, aber immerhin modifizieren: Der „Mitwelt“– belastende Automensch gibt ein Stückchen seines Straßenprivilegs ab und verbessert dem bedrängten, heute noch in den Kerngebieten verbliebenen Bewohner und Fußgänger die notwendigen Existenzbedingungen – schließlich unumgängliche Schritte für stabilisierende Entwicklungen der Quartiere.
Jedes urbane Leben und -Wirtschaften gründet auf Begegnungen, auf Kommunikation und Austausch im öffentlichen Raum. Unerlässliche Bedingung hierfür sind Fußwege, die alle Orte feinmaschig verknüpfen, als wichtigster Baustein stadtverträglicher Mobilität. Wenn wir den sensiblen und anspruchsvollen Fußgänger verdrängen, zusammenhängende Fußwegenetze zerschneiden, oder nur noch grobmaschig anlegen, wird städtisches Leben, mit den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Verflechtungen entkräftet - oder es kann sich nicht differenziert entwickeln.
Das Anreichern urbaner Lebensweisen für lokale Angebotsentwicklungen erfordert zudem eine ausgeglichene Lage- und Standortgunst, die prinzipiell auf eine möglichst langfristige Stabilität hin angelegt sein sollte. Und drittens gründet Urbanität auf einer hinreichenden Dichte; allerdings können sich gesellschaftliche Bindungskräfte nur in einer flexiblen Struktur entfalten und festigen; in einem baulichem Gewebe, das möglichst vielfältigen Lebensbedürfnissen dienen kann – und deshalb in der Lage ist, dynamische und daher immer unbekannte Entwicklungen aufzunehmen. Nutzungsoffenes Gewebe, stabile Standortgunst und gute Bedingungen fürs Gehen sind bedingende Voraussetzungen für die Vernetzung urbaner Lebensformen – jedoch entziehen sich diese Zusammenhänge unserer Wahrnehmung und stehen im Widerspruch zu unseren falsch angelegten Stadt-Landschaften.
Beginnen wir im alten Zentrum: Als in den Innenstädten die Autos, und damit die Verstopfungen zunahmen, stapelte man die Fahrzeuge über und unter der Erde, damit sie sich nicht gegenseitig behindern. Doch der zurückgewonnene Platz für den fließenden Verkehr reichte nicht aus; im Stadtkörper musste Platz für erweiterte Fahrspuren gefunden werden, um das neue Massenverkehrsmittel nicht wieder in zähfließende Stauungen abzubremsen. Irgendwann waren alle Städte mit autobahnähnlichen Zubringern und Ringstraßen erschlossen – den Fußgänger verwies man in abgegrenzte Fußgängerzonen, die zunehmend in den Hallen der Shopping-mall mit den angelagerten Stellplätzen und Kettenläden beginnen und enden.
Selbstverständlich hatte man an den ausweitenden Rändern zur Einkaufsstadt auch Geschäfte vorgesehen; eine steigende Automobilfrequenz war aber kein Garant für Kundenfrequenz. Häufiger Geschäftewechsel, Dauerleerstände und ein Absinken des Niveaus verdeutlichen den Existenzkampf – zum Zentrum hin sind die Ladenmieten zu hoch und an den unangenehmen Randlagen möchte kein Kunde das Geschäft aufsuchen. Fußgänger als Passanten und Kunden, aber auch die Bewohner meiden Orte, die dem Automenschen beinahe alleinige Existenzbedingungen bescheren. Die Ränder sind auch nicht zum Fahrbahnrand abgrenzbar, sie fransen aus und ziehen den Abwertungsprozess in die Quartiere hinein: Die Ränder der Zonen, der früher feinen Übergänge der Stadtquartiere, entwickeln sich zu eigenen, oftmals gar mehrere Gevierte breite Zonen – und trennen, ein sinnvolles und damit selbstentwicklungsfähiges, urbanes Gewebe, weil, und das ist der springende Punkt, schier unabwendbare und steigende Abhängigkeiten vom Automobil den Energiebedarf und damit die Umweltverschmutzung erhöhen - und in die Kerngebiete tragen.
In diesem Dilemma und der stetigen Suche nach geeigneten Lebens- und Standortbedingungen sortiert sich die Stadt-Landschaft um; sie dehnt sich aus, ohne wirklich zu wachsen. Echte Substanzgewinne sind im Bezug zum Flächenverbrauch gering. Das Leben zerstreut sich in Ballungsräumen, es entzieht sich dem öffentlichen Raum, es wird unsichtbar – ein solcher Prozess muss sich nachteilig auf die Existenzbedingungen auswirken und verändert die Sehgewohnheiten.
Unsere urbanen Bindungskräfte erschöpfen sich im Konglomerat aus neugebauten Wohnsiedlungen, unbebauten, weil verspekulierten Grundstücken, nichtauffüllbaren Gewerbegebieten, dazwischen eingesprengten noch bäuerlichen Teilen, Sportanlagen und Autobahnzubringern. Es entsteht eine fragmentierte Landschaft, die nicht mehr logisch aufgebaut, unwirtschaftlich und wenig erholsam ist: mit der Brache als modernes Phänomen. Ursprünglich ist die Brache ein aus landwirtschaftlicher Verwertung genommenes Land, das einer ertragreicheren Nutzung zugeführt werden soll. Mittlerweile vermehren sich die ertragsarmen Grundstücke und damit die Brachen, in einer von immer weniger Akteuren durchgestalteten Landschaft:
Baulandbrachen vermehren sich im Entwicklungsgang der Desurbanisierung. Nichtauffüllbare Siedlungen im alten und neuen Bestand wachsen als Sukzessionswäldchen heran, wenn ihr Brachenzustand nicht wieder sichtbar gemacht werden soll, oder das erschlossene, später aber aufgegebene Bauland gar in Grünanlagen umgewandelt wird. - Auch die Förderrichtlinien der europäischen Landwirtschaftspolitik sorgen für Über- und Unterproduktion, für Wüstwirtschaften oder Brachfallen: Der Bauer kann sich heute ausrechnen, dass er für das Stillegen seiner Felder und dem Kassieren der Ausgleichszahlung einen höheren Ertrag erzielen kann, als für seine Mühe, Saatgut und Düngemittel zu investieren. Infolgedessen finden wir vor allem auf weniger ertragreichen Böden das Phänomen der Kultur-Brache, die zunehmend in Landschafts- oder gar Naturschutzgebiete neu gestaltet wird – meist kostspielig und wenig ertragsreich.
Gehen wir zu den Ortsrändern: zunehmend eingedeicht mit Wallanlagen, verbergen sich die neuen Siedlungen. Heute ist der Autofahrer auf dem Weg vom Wohnort bis zur Tiefgarage immer von Grünanlagen umgeben, bis ihn diese, wiederum umgeben von Grün, in die Fußgängerzonen entlässt. Nichtbenutzbarkeit der Flächen mit Gebüsch, am besten mit Stacheln, sind die Begleiterscheinungen des Straßenbegleitgrüns: Meist grüne Verlegenheitsanlagen ohne Aufenthaltsqualität, errichtet mit dem Ziel, den Verkehr zu kanalisieren oder die Härte der Verkehrsränder abzumildern. - Selbst das Grün der Grundstücke im neueren Baubestand erscheint oftmals einfältig, als müsste die moderne Landwirtschaft gartengestalterisch kopiert werden. Eine gleichförmige Ausgestaltung der Gebäudeabstände macht den Quartiersspaziergang langweilig. Es liegt an der zunehmenden Indifferenz der Siedlungen, am Fehlen der sozialen Mitteilungen der Bewohner, aber auch an mangelnder Ablesbarkeit, was in den mit viel Grün verborgenen Häusern und ihrer schwer interpretierbaren modernen Architektur geschieht.
Die Stadt verwaldet, von den Peripherie bis in die Kerngebiete. Wenn die engbepflanzten Linden ausgewachsen sind, werden die Passanten am Kasseler Martinsplatz die umgebende Randbebauung oder die mittelalterliche Martinskirche nur noch erahnen können. Gibt es in absehbarer Zeit keine Straße mehr, ohne dichte Bepflanzung? Je begrünter die Stadt wird, desto weniger wird das Grün wahrgenommen und weitere öffentliche Bepflanzung wird gefordert.– Im einzelnen mögen die Brachen durchaus hübsch anzusehen sein, sie verhindern aber nach Burckhardt (2000) die Einordnung der Landschaft in das Lokal-Typische als Produkt lokaler Lebens- und Wirtschaftsweisen. Denn Brachen beschränken die Wahrnehmungsfähigkeit für die Dinge, die in der Stadt und auf dem Lande passieren: Nicht das Verstecken und Verklären, sondern das Sichtbar-machen und das Vernetzen baulich-gesellschaftlicher Bezüge wäre eine zwingende Grundlage urbaner Entwicklung.
Zwischen den Randerscheinungen mit den „Brachen“ unterschiedlichster Ausprägung bilden sich, deutlich sichtbar, neue Elemente im Ballungsraum ab, die in Form gestalteter Sonderzentren besondere Aufmerksamkeit begehren: Der Supermarkt, der Themenpark als Modifikation von Disneyland und die historisierend aufgeputzte Altstadt. – In allen drei Zentren finden sich die Besucher schnell zurecht und ihre Rolle als Konsumenten ist ebenfalls eindeutig: Man kann kaufen oder das Kaufen sein lassen. Eine dritte Möglichkeit, nämlich mitzuhelfen oder selber etwas anzubieten und Geschäfte zu machen gibt es nicht. Alle drei Orte haben ein striktes Reglement etabliert. Selbst in der denkmalgepflegten Altstadt besteht die Neigung, den Branchenmix und die öffentlichen Veranstaltungen zu kontrollieren. Supermarkt, Themenpark und Altstadtgestaltungen stellen schließlich Bedingungen her, die zu einem künstlichen Einheitsstil hinführen.
Nun komme ich zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Die Besiedlung des ländlichen Raumes war nur auf Grundlage des Automobils möglich. Infolgedessen entstand eine Stadtlandschaft, die nur noch mit dem Automobil erreichbar ist. Unsere Städte sind gebaut, und in ihrer Ausdehnung nicht mehr rückführbar, gleichsam wie unsere Mobilitätserfordernisse nicht beschnitten werden können. Das Auto ist dabei nicht generell das Problem; im übermäßigem Gebrauch aber schon – wenn es das Gehen verdrängt.
Landschaften, die mit Rändern, Brachen und simplifizierten Zentren zerschnitten sind, unterbrechen einerseits die Wahrnehmung für die gesellschaftlichen Verflechtungen als Fundament für die Herausbildung lokal-typischer Entwicklungen; andererseits „definieren“ sie eine schier beliebige Standortgunst im Raum. Gerade in der engmaschigen und komfortablen Vernetzung der Gebiete für das Gehen dürfte Chance liegen, urbane und damit gesellschaftliche Perspektiven zu entfalten. Dabei ist Gehen die elementare Voraussetzung für das Erkennen des vorhandenen baulich-kulturellen Erbes mit seinen Nutzungspotenzialen. Gehen könnte zudem ungeahnte Perspektiven für Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen eröffnen, indem unter Zuhilfenahme der ausweitenden Brachen sinnvolle, synergiesteigernde Anlagerungen zum Bestand erfolgen. Schließlich ist Gehen ein Stabilisator für generationsübergreifende Lebenskulturen; denn der Fußgängermensch gewährleistet am ehesten eine stabile Lagegunst als Grundlage für Angebotsentwicklungen und Investitionen. Nicht alleine im konzentrierten Fußgängerbereich der City, sondern als engmaschige Vernetzung aller kernstädtischen Quartiere mit dem Umland.
Lucius Burckhardt formuliert in seinem Werk „Brache als Kontext“ folgende bemerkenswerte These: „Unsere Landschaften sind schön, wenn wir sehen können was in ihnen geschieht“. Orte, Ensembles, ländliche Kulturen werden also umso schöner, wenn möglichst viele Menschen an der Kulturlandschaft mitwirken und ihre Werke auch zeigen können. Nach Immanuel Kant hängt die Wahrnehmbarkeit unserer Landschaft von der „Unbetroffenheit“ des Betrachters ab: Schönheit kann erlebt werden, wenn die Landschaft „echt“ ist, wenn sie einen Nutzen hat und positive emotionale Gefühle weckt. Dagegen lösen ausgeräumte, überdüngte, mit synthetischen Schädlingsbekämpfungsmitteln behandelte Felder oder durch Verkehrsschneisen geschaffene Emissionskorridore mit ihren isolierenden Siedlungsinseln eher weniger schöne Betroffenheit oder Gleichgültigkeit aus. Wir alle wissen, dass Lust auf Stadt oder Land durch interessante Angebote, kommunikationsfördernde Lebensweisen, schmackhafte Produkte, historische oder persönliche Bezüge geweckt werden kann. Und schließlich glauben wir, dass Schönheit vor allem erlebt werden kann, wenn tragfähige Zukunftsperspektiven in Aussicht sind, beziehungsweise begründbare Hoffnungen auf Besserung gegeben sind. Schönheit ist – wie unsere Landschaft – menschgemacht.
Und, „Gehen und Sehen“ schafft Wege, die Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich wieder auf die Beine zu bringen.
Dieser Beitrag von Roland Hasenstab erschien in der Dokumentation: Zu Fuß für Umwelt und Gesundheit – 30 Beiträge vom 2. FUSS-Botschaftertreffen am 10. Und 11.10.2003 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2004
Dipl. Ing. Roland Hasenstab, geb. 1962, ist Stadt- und Landschaftsplaner und Bauassessor. Er studierte an der Universität Kassel, war mehrere Jahre als Referent im Stadtentwicklungsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Referat Stadterneuerung im Bestand tätig. Zur Zeit arbeitet er als Wissenschaftlicher Bediensteter am Institut für Städtebau und Landschaftsplanung der Technischen Universität Braunschweig an einem interdisziplinären Forschungsprojekt Stadt+Um+Land 2030 zur Zukunft der Region Braunschweig. Arbeitsbereich ist die Stärkung urbaner Systeme. Roland Hasenstab ist Mitglied im erweiterten Bundesvorstand des Fuss e.V.
Die Veröffentlichung „Zu Fuß für Umwelt und Gesundheit“ ist bei uns für 10,00 Euro zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Allgemein bestellen.
Auch wenn manche nicht mehr daran glauben mögen, Fußverkehr bleibt der wichtigste Verkehr in der Stadt: Als Fußgänger tragen wir entscheidend zur Stabilisierung der Lagegunst in urbanen Systemen bei. Eine beständige Lagegunst ist Grundvoraussetzung nachhaltiger Investitions- und Handlungsentscheidungen und ermöglicht den Menschen langfristige Bindungen am niedergelassenen Ort.
Eine solide Fußwegeerschließung
Oder umgekehrt formuliert, wir verletzen die Lebensbedingungen in unseren urbanen Siedlungsräumen auf vielfältige Weise, wenn wir den Fußverkehr und die weiteren Verkehrsmittel im Umweltverbund vernachlässigen. Zur Verdeutlichung beschäftigen wir uns in Anlehnung an die wegweisenden Arbeiten von Lucius Burckhardt mit den (zumeist unsichtbaren) Begleiterscheinungen automobilorientierter Stadt- und Verkehrsplanung, mit den Rändern:
Der mächtigste Rand ist der Stadtrand, in historischer Form als Stadtmauer mit ausgeprägt ordnender Funktion. Die Baurechte existierten zunächst nur innerhalb der Festung. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Wälle übersprungen und heute dehnen sich die Siedlungsrechte unserer metropolitanen Stadtlandschaft schier unendlich aus, tief in das weite Umland hinein. Ähnlich umwälzend entwickelte sich das Verkehrsgeschehen: Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war trotz Pferdebahnen das zu Fuß gehen der entscheidende Mobilitätsfaktor in den Städten, Mitte der fünfziger Jahre galt Fußverkehr in Kombination mit ÖPNV als Fortbewegungsmittel für die Stadtbürger und wiederum fünfzig Jahre später gelang uns mit gewaltigem Stadtumbau die massenhafte Integration des Autos. Mit unaufhörlicher Vermehrung von Autoabstellplätzen und dadurch bedingten unabsehbaren Kapazitätsausweitungen von Straßen bis hin zu autobahnähnlichen Fahrbahnen haben wir heute die Herausbildung von Rändern innerhalb der Stadtquartiere gefördert.
Starkbefahrene Straßen können ähnlich ausgrenzende und einengende Wirkungen erzielen wie unsere alte Stadtmauer: Wir meiden als ÖPNV-Benutzer, Fahrradfahrer und insbesondere als Fußgänger autodominierte Straßen. – Wenn wir uns schon als Fußgänger nicht mehr auf dem Bürgersteig in den Randzonen aufhalten wollen, bricht in Folge insbesondere den Anbietern von höherwertigeren Waren und Dienstleitungen die wirtschaftliche Grundlage weg. Die Kraft für die Herausbildung von qualitätsvollem und mannigfaltigem Spezialangebot als ureigenstes großstädtisches Potential schwindet oder kann sich erst gar nicht entwickeln. Bestenfalls Nutzungen, die nicht auf Laufkundschaft angewiesen sind und vergleichsweise geringe Umsatzrenditen pro Flächeneinheit erzielen, füllen die Lücken zumindest zwischenzeitlich.
Der Abstieg endet nicht an der Verkehrsschneise, sondern strahlt in die angrenzenden Gebiete hinein: Ränder führen ihr Eigenleben und fransen aus. Die durch ordnende Planung festgesetzte Zone, beispielsweise zwischen Einkaufsstadt und Wohngebiet entwickelt sich zur eigenen Zone: „vorne, der Streifen der zu teuer eingekauften Liegenschaften auf der Suche nach einem Betreiber und hinten das Gebiet der abgewirtschafteten Gebäude, deren Besitzer den Verlust noch nicht wahrhaben wollen.„ Ränder vernichten Investitionsleistungen oder Zukunftsperspektiven.
Am Beispiel der sechsspurigen Kurt-Schumacher-Straße, welche die wiederaufgebaute Altstadt von Kassel in zwei Teile trennt, können wir studieren, wie im unmittelbaren Umfeld Verwaltungen, eingeführte Büros, Praxen, sortierte Fachgeschäfte und Gaststätten verschwinden und auch längere Zeit Lücken hinterlassen, bis Folgegeschäfte mit geringerer Bodenverwertung, wie Discounter, Secondhand-Läden, Sexshops, Imbiss-Stuben, Angebote für Jugendliche und Emigranten den wirtschaftlichem Erfolg unmittelbar am Rand der Einkaufsstadt suchen.
Sinkende Lagegunst bedrängt den Wohnstandort. Viele Bewohner reagieren auf das Milieu ihres Wohnumfeldes, verlassen unangenehme Straßen, wandern Richtung Stadtrand. Soziale Entmischung mit schwer zu bewältigenden ökonomischen Konsequenzen für verbleibende Einrichtungen des Stadtviertels ist schleichende Konsequenz ausfransender Ränder. Ränder sind mobil, so dass benachbarte Bezirke in den schleichenden Abwärtstrend hineingezogen werden, besonders wenn mehrere Randerscheinungen das urbane Gewebe einer sinnvollen Nutzung beschädigen.
Ränder ziehen Randgruppen an; diese verunsichern Besucher und Bevölkerung. Heute lockt die ausweitende Randzone unmittelbar vor der Kasseler Einkaufsstadt Dealer, Hehler und Gewalttäter an; der Rand wurde Kriminalitätsschwerpunkt. Videoüberwachung wichtiger Stadtplätze und Eingänge zur Kasseler Einkaufsstadt soll künftig als präventives und aufklärendes Instrumentarium eingesetzt werden. Nach Jane Jacobs müsste Städteplanung Sorge tragen, dass Bürgersteige möglichst flächendeckend, über den gesamten Tagesverlauf frequentiert werden, damit Bewohner, Gewerbetreibende und Passanten in die Lage versetzt werden, ihre Straße eigenverantwortlich kontrollieren zu können.
Auf welche Weise Lagegunstverschiebungen durch Ränder sichtbar werden und den Grad der Angebotsvielfalt „steuern„, lesen wir am besten bei Burckhardt nach: „Über jeder Stadt liegt unsichtbar, in Form einer Käseglocke, die Bodenwertkurve. An jeder Stelle der Stadt wird sich diejenige Nutzung einstellen, die in der Lage ist, den dort gültigen Bodenpreis zu verzinsen. Die Ränder sind die Stellen des steilen Abfalls der Bodenwertkurve. Physisch ausgebildete Ränder schnüren die Zonen ein und steigern die Bodenwertdifferenzen zwischen innen und außen. Ziel der Stadtplanung muss es sein, die Bodenwertkurve abzuflachen; nur Zentren mit flachen Bodenwertkurven sind gut versorgt. Die Härte des Randes der Einkaufsstadt zerstört also deren wichtigste Angebotsqualität, die Mischung.„
Wenn Innenstädte wichtige Segmente an Detail- oder Spezialangeboten verlieren und stattdessen hauptsächlich Massenangebote von Konzernen und Filialen angeboten werden, können sie auf Dauer nicht mehr mit den Einkaufszentren am Stadtrand konkurrieren. Ähnlich folgenschwer ist die Besiedlung des Stadtumlandes zwischen Autobahnen und Zubringerstraßen: nach innen reißen insbesondere in den gewachsenen alten Gewerbe- und Mischgebieten aber auch in den Großsiedlungen Nutzungslücken und Brachflächen auf, die mit staatlichen Förderprogrammen baulich und sozialpolitisch gefestigt werden sollen; und nach außen ist heute schon abzusehen, dass vielen neu entstandenen Wohn-, Einkaufs- und Gewerbeparks Kraft zur Stabilisierung und Weiterentwicklung fehlen wird: die schier grenzenlose Verlagerung städtischer Aktivitäten an den Stadtrand – geordnet und eingebettet zwischen den Rändern grünflächenumsäumter Tangenten – verschiebt und beschleunigt die Lagegunst im urbanen Gesamtsystem enorm.
Schließlich setzt die oben skizzierte Entwicklung durch zwangsläufig vermehrende PKW-Leistung eine Spirale in Bewegung, welche die inneren Ränder verhärtet: Die Großstadt zerfällt in verkehrsumspülte Nutzungszonen, die unzureichende Synergieeffekte mobilisieren können und ökonomisch wie räumlich als „Kleinstädte„ oder gar „Dörfer„ zerfallen. In dieser Entwicklungstendenz
Es gibt unter der Prämisse steigenden PKW-Verkehrsaufkommens keine strategisch wirksamen baulichen Lösungen, die Härte der Ränder überwinden zu können. – Im Gegenteil, viele Planungsbemühungen, Eingriffe und Sanierungen verfehlen die urbanen Herausforderungen und verschärfen die Konflikte unsichtbar – vor allem wenn fortlaufender Handlungsbedarf für nicht reduzierbare Probleme ausgelöst wird: denken wir an die unersättliche Integration von Autoabstellplätzen, die zu Ausweitung von Fahrspuren und zu immer stärker ausfransenden Randzonen führt, oder an weiträumige Siedlungserweiterungen, ohne dass Einwohnerzahl oder Gewerbeaktivität zunimmt. Auch das Durchlässigmachen barriereartiger Ränder an nur wenigen oder exponierten Stellen, löst die Spannung nicht, wenn die an sich wünschenswerte Vernetzung an zu wenigen Stellen geschieht, und dafür zurückgenommene Straßenbelastungskapazität in andere Straßen verlagert oder gar überkompensiert wird.
Wir alle wissen, dass Menschen in Städten zu großen Kulturleistungen fähig sind. Dies funktioniert umso besser, wenn möglichst viele Menschen miteinander kommunizieren und für sich hinreichende Lebensperspektiven entwickeln können. Städte sind umso erfolgreicher, je sinnvoller die Bewohner und Akteure ihre Ressourcen und Kräfte einsetzen und auch bündeln können. Und diese Kulturleistungen hängen von handlungsfördernden und synergetischen Möglichkeiten jedes Einzelnen im städtischen Gewebe und ihren Wechselwirkungen ab.
Ich möchte Auswege aus dem derzeitigen Stadtentwicklungsdilemma aufzeigen, mit einer Skizze zum Re-design eines sinnvollen Stadtgewebes: Dabei zielt eine aus drei Handlungssträngen bestehende Strategie auf die Umkehrung der Dynamik unserer falsch angelegten Städte: Indem wir:
Die große Gestaltungsaufgabe wird sein, vorhandene oder sich bildende Ränder durch „Mischung„ zum Auflösen zu bringen. Hierbei macht es Sinn, die äußere Anspannung der Ränder zu ersetzen durch eine innere Anziehungskraft: Erhöhen wir also die generelle Benutzbarkeit von Straßen, Gebäuden, Gärten, Freiflächen, Ensembles und Quartieren, als Grundlage für zukunftsoffene Handlungsoptionen und stabilisierende Entwicklungen im Bestand.
Wir kennen die Richtschnüre stadtverträglichen Verkehrs, nämlich möglichst viele Menschen auf kleinstem Raum zu befördern: Im Regelfall haben dann Fußgänger und Radfahrer Primat vor Bus und Bahn und diese Vorfahrt vor dem Auto. Wie mischen wir dann Verkehrsschneisen? Indem wir die überdimensionierten Fahrbahnen ergänzen: mit Straßenbahnlinien, schnellen Fahrradstraßen, komfortablen Fußwegen; indem wir die Systeme des Umweltverbundes zu engmaschigen Netzen erweitern, für geeignete Schnittstellen sorgen und das Umfeld attraktiv und sicher gestalten. In überdimensionierten Straßenfluchten kann es morgen wieder Sinn machen, mit baulichen Ensembles Brücken in benachbarte Quartiere zu schlagen. Damit lösen wir Ränder als Zonen unterschiedlicher Bodenverwertungen nicht auf, sorgen aber für Nutzungsverzahnungen und damit für eindrückliche und erlebbare Übergänge und weiche Abstufungen der Bodenwertkurve.
Hierzu brauchen wir Geduld: Ränder sind heute fest eingefahren; infolgedessen versuchen wir als funktionelle Strategie zunächst die Randerscheinungen unserer verkehrt angelegten Großstadt auf organisatorischem Wege zu entschärfen; indem wir uns fragen, wie wir möglichst viele Menschen überzeugen können, selbstverständlich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Haben sie eine Idee? Ich denke an ernstgemeinte Bevorzugung des Umweltverbundes, ja als Daseinsvorsorge. Nicht finanzierbar? Dafür müssen wir viel weniger Mittel aufwenden, als die Autointegration gekostet hat bzw. weiter kosten wird. Alle anderen Verkehrsbewältigungsstrategien sorgen für virulente Randerscheinungen und sind für Staat, Kommunen und Gesellschaft teurer – und auf Dauer unbezahlbar: Unsere Bau-, Förder- und Steuerpolitik bleibt unschlüssig, wenn weiterhin alle Verkehrsträger gestützt werden sollen und in der Tendenz Verkehrsmittel und Wege des Umweltverbundes zurückgedrängt werden – und folglich gut angelegte Städte Utopie bleiben müssen.
Nachdenkenswert halte ich ein Teilergebnis einer kürzlich im Auftrag von Chrismon durch das Emnid-Institut durchgeführte demographische Umfrage: Auf die Frage, welche Ziele man verfolgen würde, wenn man der König von Deutschland wäre, antworteten immerhin ein knappes Fünftel der Bevölkerung: „Alle öffentlichen Verkehrsmittel können kostenlos genutzt werden„. Junge Menschen mit höherem Bildungsabschluss und Bürger aus Ostdeutschland gehörten zu den stärksten Befürwortern.
Vor herausfordernde Aufgaben stellt uns die Reaktivierung vernachlässigter Siedlungsgebiete: Insbesondere in zentral gelegenen aber niveauarmen oder sinkenden Quartieren sollten wir versuchen, durch Mischung dynamische Entwicklungen einzuleiten, damit dort wieder ein breites Bevölkerungsspektrum gerne lebt – und auch viele andere in der Nähe arbeiten – und als Folge der vorhandenen „primären Ökonomien„ Dritte eine hinreichende wirtschaftliche Basis vorfinden und deshalb erweiterte Angebote anbieten können.
Wie könnte also unser städtisches Gewebe „gemischt„ werden, damit Stadtbildner und Stadtfüller möglichst effizient und reibungsarm ihren Lebensauftrag nachkommen können? Ich glaube, die ästhetische Aufgabe wird sein, den Bestand mit privaten Stadthäusern zu ergänzen, die vielfältigere und höhere Nutzungspotentiale ermöglichen, als die meisten Familienhäuser am Stadtrand: Bauten, die optimal erschlossen sind, also an lebendigen Straßen liegen und hinreichende Freiflächen aufweisen – nicht nur von außen einsehbare, sondern auch private/ intime Höfe und Gärten; Bauten, die gut bemessene räumliche Standards und auch Pufferzonen beherbergen, um zukünftig ein vielfältiges Spektrum von Nutzungen zu ermöglichen: großzügige Wohnungen, Büros, wohnverträgliche Kleinproduktion, Ladengeschäfte, Gruppenräume oder auch Ergänzungen fürs Altenteil – alles Nutzungen, die in Raumsystemen zwischen 50 und 250 Quadratmetern ihren Platz finden.
Damit die Zukunft nicht vorneweg genommen wird, sollte das sinnvolle Baupensum nicht gleich voll ausgeschöpft werden: anstelle von heute um sich greifenden Vollausbau könnten wir mit zunächst vermindertem Baurecht versuchen, gewisse zukünftige Erweiterungsmöglichkeiten einzuplanen. Gerade die unausgeschöpften, aber denkbaren Möglichkeiten baulicher Veränderungen erleichtern es den Bewohnern ihre Häuser, Höfe und Gärten intensiv zu nutzen, zu pflegen und weiterzuentwickeln: Anpassungsfähigkeit ist wichtig, damit Mischnutzungen hineinwachsen können und damit die Häuser nicht bereits nach einer Nutzergeneration in Ihrem Niveau absinken. Die Herausbildung vielfältiger Nutzungspotentiale in städtebaulicher Dichte fordert unsere Bau- und Planungskultur heraus, künftig mehr Grenzbebauung im sinnvollen Rahmen zuzulassen: Parzellen mit Zellwänden erlauben den Menschen vielfältigere raumprägende Nutzungen zu entwickeln, als untaugliche Konfliktregelungen über flächenintensive und nur eingeschränkt nutzbare „Abstandsflächen„.
Für das Re-design eines zweckmäßigen Stadtgewebes ist im Innenbereich der meisten Städte erstaunlich viel Raum vorhanden und es kommen immer neue Flächen dazu. Höhere Kosten für Pufferzonen und Wachstumspotentiale müssen nicht entstehen, wenn die Planung einen Teil aufwendig hergestellter oder öffentlich gepflegter Flächen privaten Nutzern zuschlägt, die heute als Verkehrsbeleitgrün oder Doppelerschließung dienen. Auch das Mitberücksichtigen räumlicher Standards kann durch bauliche Einsparungen, im Zuge stadtverträglicher Erschließung ausgeglichen werden.
Diejenigen Städte, welche die Feinwirkungen stadtverträglicher Erschließung und soziokultureller Bedingungen für vielfältige Angebotsentwicklung begreifen und auch versuchen konsequent umzusetzen, werden am ehesten das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen, damit diese wieder in die inneren Stadtgebiete zurückkehren und dort investieren (können). Und ehe Baugebietserweiterungen oder Verkehrsprojekte umgesetzt werden, untersuchen fortschrittliche Kommunen die (absehbaren) Interdependenzen von Bauentwürfen im urbanen Gesamtsystem. Mit kleinen Eingriffen gibt die Planung dann Impulse für die Regenerierung stockender Quartiere, sind doch Stadtentwicklung und Bodenwertkurve flächendeckend zu stabilisieren.
Weiteres Planungsziel sollte sein, möglichst vielen Akteuren hinreichende Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mitzugeben, damit durch ihr Zusammenwirken stabile Stadtgesellschaften und reichhaltige Angebote erwachsen. Gefordert ist jedoch eine städtebauliche Struktur, die geeignet ist, unordnungsstiftende Randerscheinungen nicht funktionierender städtebaulicher Ordnung der letzten 50 Jahre zu kompensieren.
Fußverkehr – als engmaschiges, komfortables Netz – ist dabei wichtigster Schlüssel für Erreichbarkeit, Kommunikation und öffentliche Sicherheit in den Straßen. Schützen wir den Fußgänger mit allen unseren Kräften: er gewährleistet stabile Lagegunst, als entscheidende Voraussetzung wirtschaftlich dynamischer Städte.
Dieser Beitrag von Roland Hasenstab erschien in der Dokumentation: Fußverkehr im Umweltverbund – 30 Beiträge vom 1. FUSS-Botschaftertreffen am 12.10.2001 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2002
Die Veröffentlichung „Fußverkehr im Umweltverbund“ ist bei uns für 10,00 Euro zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Allgemein bestellen.
Bremen hat für die Umgestaltung der Hamburger Straße eine Ehrenmedaille bekommen. Der verantwortliche Planer, Reinhard Sobel vom Amt für Straßen und Verkehr hat die Planung bei einem Wettbewerb „Straßen in Dorf und Stadt“ eingereicht. Es ist gelungen, in dieser relativ schmalen Straße (weniger als 18 m) mit vielfältigen verkehrlichen Anforderungen alle Anwohner, Geschäftstreibenden und Verkehrsteilnehmer zufrieden zu stellen.
Die Mängel in der Hamburger Straße waren eklatant. Trotz der gründerzeitlichen Reihenhausbebauung und des alten Baumbestandes war diese Straße unangenehm, viel zu laut und ungeordnet. Die Fahrbahn hatte eine Überbreite von 10 m bis 11 m. Autos konnten rechts die Straßenbahn überholen, was an den Haltestellen für aussteigende Fahrgäste zu lebensgefährlichen Situationen geführt hat. Geparkt wurde (legal) auf dem offenen Baumstreifen, und auch teilweise noch in 2. Reihe daneben (illegal). Radfahrer hatten streckenweise nur sehr wenig Platz zwischen parkenden Autos und Straßenbahngleis. Die Straßenpflasterung in Längsreihen mit breiten Fugen stellte für sie eine zusätzlich Unfallgefahr dar, insbesondere bei regennasser Straße.
Fußgänger hatten durch parkende Autos auf Gehwegniveau nicht ihren klar definierten Verkehrsraum; der Raum, der den Fußgängern blieb, war abhängig von der Parklaune der Autofahrer. An den Kreuzungen gab es Absperrgitter für Fußgänger.
Und so war es für die Hamburger Straße ein Segen, dass der Kanal saniert und die Gleise neu verlegt werden mussten. Diese Gelegenheit wurde genutzt, den gesamten Straßenraum neu zu überplanen und den aktuellen Bedürfnissen unterschiedlichster Art anzupassen.
Das Bremer Amt für Straßen und Verkehr hat zusammen mit dem Büro Schnüll-Haller nun alle Ansprüche an die Hamburger Straße erfüllt:
Dieses hervorragende Ergebnis war nicht ohne Kampf zu erreichen. Auf öffentlichen Veranstaltungen und in zahllosen Einzelgesprächen war viel Überzeugungsarbeit zu leisten.
Anfänglich hattendie Verkehrsbetriebe BSAG Bedenken, weil die Straßenbahn nicht ihren eigenen Gleiskörper für sich hatte, sondern die Fahrbahn mit dem Kfz-Verkehr teilen sollte. Die heftigste Auseinandersetzung gab es mit der Interessengemeinschaft der Kaufleute, die den Verlust von Parkflächen befürchteten. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es mit den Anwohnern. Dem Parkdruck wurde nachgegeben, indem auf einige Baumstandorte verzichtet und eine Grünfläche zum Parkplatz umgebaut wurde – der einzige Wehrmutstropfen. Bezüglich der Parkdruckminderung ein Tropfen auf dem heißen Stein …
Straßenbahn und Kfz-Verkehr benutzen die gleiche Spur, Ausnahmen gibt es vor einigen wichtigen Kreuzungen. Der Parkstreifen ist durch bauliche Querungshilfen unterbrochen, um seine Trennwirkung gering zu halten und die Sicherheit beim Überqueren der Fahrbahn zu erhöhen. Er ist so schmal wie möglich gehalten und hat eine Breite von 2,50 m, so konnte Platz für den Gehweg gewonnen werden.
Die Gehwege bestehen aus einer Kombination von Betonplatten und Kleingranit-Pflasterstreifen; letztere werten den Gehwegbereich gestalterisch auf und dienen als Orientierungshilfe für Sehbehinderte. In den Nebenanlagen sind Fahrradständer installiert; so wird dem wilden Parken von Fahrrädern am Zaun entgegengewirkt, das zunehmend ein Sicherheits- und Komfortproblem für Fußgänger darstellt.
Der separate Fahrradstreifen zwischen Parkstreifen und Gleis hat das Mindestmaß von 1,50m. Zwischen Straßenbahngleis und Parkstreifen hat dadurch kein Auto mehr Platz; auf diese Art bleibt der Radweg frei, und der Verkehrsfluss wird nicht durch riskante Überholmanöver gestört.
Die Straßenbahn kommt gut voran, vor und hinter ihr fließt der Kfz-Verkehr; die kurzen Aufenthalte an den Haltestellen werden von Autofahrern hinter der Straßenbahn als Notwendigkeit akzeptiert wie das Rot an Kreuzungen auch. Der Komfort für Fahrgäste ist gestiegen. Kap-Haltestellen ermöglichen einen direkten Zugang vom Bürgersteigbereich aus, aussteigende Fahrgäste müssen nicht mehr fürchten, von Autos angefahren zu werden.
Der „Flüster“-Asphalt der Fahrbahn bewirkt, dass die Radfahrer eine glatte Verkehrsfläche haben und die Autos wirklich kaum noch zu hören sind. Spaziergänger, Cafébesucher und Anwohner können sich darüber freuen.
Die Zunahme privater Investitionen an den Gebäuden und in die Einrichtung der kleineren Läden können als Zeichen allgemeiner Zufriedenheit gedeutet werden.
Wenn die Übergänge in der Hamburger Straße an einigen Stellen, z.B. bei Apotheken und Banken, noch mit Zebrastreifen kombiniert wären – die Straße wäre perfekt, und vor allem für ältere Menschen besser zu benutzen.
Zebrastreifen wird es in Bremen vorerst nicht geben. Immer noch kommt von Verkehrsplanern und Polizisten bei dieser Frage wie auf Knopfdruck der Satz: „Zebrastreifen werden nicht mehr gebaut. Fußgänger wiegen sich auf Zebrastreifen in trügerischer Sicherheit.“ Und schon gar nicht über Gleise … So befinden sich die Autofahrer in der trügerischen Sicherheit, dass ihnen kein Fußgänger über den Weg laufen kann. Die Straßenbahn abzuwarten und ihr Vorrang einzuräumen, ist für Fußgänger kein Problem. Aber was tun, wenn die Kette der fahrenden Autos nicht abreißen will?
Für diese herausragende Straßenplanung wurde eine Medaille verliehen – der Bausenator Ronald-Mike Neumeyer hat sich gefreut, dass hier etwas ganz Besonderes geschaffen wurde, was über die Grenzen Bremens hinaus Anerkennung findet.
Wenn diese Planung in Bremen anerkannt und flächendeckend umgesetzt würde, wäre das auch schon was. In den Parallelstraßen nämlich, am Osterdeich und in der Bismarckstraße, haben Anwohner, Radfahrer und Fußgänger nichts zu lachen. Es ist zu wünschen, dass die Hamburger Straße in Bremen Schule macht - und natürlich auch darüber hinaus.
Dieser Artikel von Angelika Schlansky ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2007, erschienen.
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In Planungsprozessen wird der Fußverkehr üblicherweise gar nicht oder wenig professionell behandelt. Daten zum Verkehrsaufkommen und Prognosen zum Fußverkehr stehen meistens nicht in geeigneter Form zur Verfügung, mit Verkehrsmodellen wird nur der Strassen- und der öffentliche Verkehr modelliert, auf eine verlässliche Bewertung der Qualität von Infrastrukturen und Netzen für FußgängerInnen wird oft verzichtet, die Auswirkungen von Planungsvorhaben auf den Fußverkehr und der damit geschaffene Nutzen werden selten ermittelt. Dies meistens mit dem Argument, dass die Datengrundlagen nicht vorhanden und entsprechende Methoden und Planungsinstrumente nicht verfügbar seien. Eine Reihe von Beiträgen der WALK 21-Konferenz im September 2005 in Zürich zeigt, dass dem nicht so ist. Heutzutage kann der Fußverkehr genauso professionell wie der motorisierte Verkehr geplant werden.
Die Daten zum Fußgängeraufkommen auf Wegen und bei der Nutzung des öffentlichen Raums sind in vielen Städten ungenügend. Das führt dazu, dass die Bedeutung des Fußverkehrs von Verkehrspolitikern und oft auch von Verkehrs-, Stadt-und Raumplanern unterschätzt wird. Thomas Schweizer hat mehrere Möglichkeiten vorgestellt, wie die Datenlage ohne grossen Aufwand verbessert werden kann.
Relativ kostengünstig sind Handzählungen. Ein Zähler kann 2.000 bis 4.000 Personen pro Stunde zählen. Wichtig ist die Wahl der Zählstellen und auch eine gewisse Qualitätskontrolle. Beim Einsatz von Video-Geräten können über das reine Zählen hinaus mehr Sachverhalte beobachtet und ausgewertet werden, so z.B. auch Verkehrssicherheitsfragen. Die Auswertungen können wiederholt und von Dritten kontrolliert werden. Allerdings müssen gute Standplätze für die Kamera gefunden werden (idealerweise 4-6 Meter über Grund). Der Auswertungsaufwand ist im Vergleich zu Handzählungen deutlich höher.
Auch mit Hilfe von Laser-Sensoren können Zählungen von Fußgängern sowie Fahrzeugen vorgenommen werden. Diese Methode bietet den Vorteil, dass auch Geschwindigkeiten sowie Laufund Fahrwege (z.B. an Fußgängerquerungen) aufgezeichnet und kartografisch dargestellt werden können. Der Einsatz ist wetter- und zeitunabhängig. Es können sich allerdings Vandalismus- Probleme stellen, der Einsatzradius ist auf 15 m Entfernung der Personen begrenzt und es ist noch keine Standardsoftware vorhanden.
Um den Aufwand bei Zählungen zu begrenzen, können Hochrechnungen auf Basis zeitlich verkürzter Zählungen vorgenommen werden. Als Mindestzeitraum empfiehlt Schweizer 15, besser 30 Minuten und mindestens 100 gezählte FußgängerInnen. Will man die Maximalbelastung in (städtischen) Wegenetzen erfassen, empfiehlt er die Nachmittag-Stunden zwischen 16 und 18 Uhr. Er spricht sich für den Aufbau eines Zählstellennetzes für den Fuß- und Radverkehr, insbesondere in stark frequentierten Zentren und an Knoten des öffentlichen Verkehrs, aus.
Rob Methorst aus Rotterdam hat ein Modell für qualitative Prognosen zum Fußverkehr vorgestellt, das absehbare Trends und einen sich daraus ergebenden Handlungsbedarf aufzeigen kann oder das in Verkehrsszenarien eingebunden wird. Betrachtet werden Entwicklungen von folgenden Systemelementen: gesellschaftlicher Kontext, Transportsystem, physische Umwelt (z.B. Art der Flächennutzung) sowie die Funktion des ZuFußgehens selbst (z.B. im Zeitablauf ein Rückgang eigenständiger Wege und ein Anstieg von intermodalen Wegetappen zu Fuß). Prognostiziert wird, dass das Gehen in Zukunft vor allem für die wachsende Zahl von Personen mit geringen Chancen der Mobilitätsteilnahme schwieriger und riskanter sein wird.
David Allen vom englischen Planungsbüro TRL Limited hat zusammen mit Behörden ein Tool (die PERS-Software) für die standardisierte Beurteilung der Qualität von Fußwegen, Warteräumen an Haltestellen und öffentlichen Räumen entwickelt, das für die Defizitanalyse und die Priorisierung von Maßnahmen eingesetzt wird. Es umfasst ein Handbuch mit Beurteilungsanleitung, einen Erhebungsbogen für Netzabschnitte sowie Plätze und eine Auswertungssoftware. Vor Ort wird die Situation von geschulten Erhebern anhand mehrerer Qualitätsparameter auf einer Skala von minus bis plus 3 bewertet. Die Software ermittelt mit Hilfe einer Gewichtung der Parameter eine Gesamtbeurteilung. Die Ergebnisse werden in Säulendiagrammen je beurteiltem Gebiet und als Option auch in Karten dargestellt.
Ein anderer, weniger technischer Ansatz wird von der NGO „Living Streets“ verfolgt, die ebenfalls Bewertungen von Strassenräumen („community street audits“) im Rahmen ihres Projekt zur Verbesserung des Gehens durchführt („walkability model“; livingstreets.org.uk). Die Audits werden nach einem Bericht von Simon Barnett allerdings nicht von Experten allein, sondern zusammen mit Gruppen von Bewohnern organisiert, um deren lokales Wissen einzubinden. Zuerst werden in einem Treffen mit Bürgern prioritäre Themen und Räume identifiziert. In einem zweiten Schritt finden in kleinen Gruppen unter Begleitung eines Living Streets-Mitarbeiters Begehungen statt, auf denen Qualitätsbewertungen von Wegeverbindungen qualitativ-verbal durchgeführt und anschließend gemeinsam ausgewertet werden. Diese Begehungen finden je Gebiet zwei Mal statt: am Tag und zusätzlich im Dunkeln. Die so gewonnenen Ergebnisse werden durch Befragungen von FußgängerInnen zu deren Gehgewohnheiten und -einstellungen und ausserdem durch Zählungen ergänzt. Aus diesen Informationen werden prioritäre Aktionen bestimmt und mit den lokalen Verantwortlichen werden Möglichkeiten der Finanzierung gesucht.
Verkehrsmodellanwendungen beziehen sich üblicherweise nur auf den motorisierten Verkehr und den ÖPNV. Dass man auch den Fußverkehr modellieren kann, zeigte Jake Desyllas am Beispiel einer in London geplanten neuen Tramlinie. Im Rahmen einer Analyse des öffentlichen Raums wurden die Auswirkungen der neuen Straßenbahn auf die Netzbelastung des Fußverkehrs modelliert. Einbezogen wurden Daten von 300 Zählstellen. Die Modellierung erlaubte es, den mit Änderungen im ÖV-Netz entstehenden neuen Fußverkehr zu ermitteln, die Netze für den Fußverkehr neu zu dimensionieren und Bereiche zu identifizieren, in denen öffentliche Räume aufgewertet werden müssen. Die Modellierung wurde auch eingesetzt, um die Belastung des Fußwegenetzes in einem Gebiet von 25 Quadratkilometern in der Londoner City zu bestimmen.
Für die Optimierung von frequenzstarken Fußgängerströmen - z.B. an Bahnhöfen, in und an Sportstadien sowie in Gebäuden - stehen mittlerweile Simulationstools zur Verfügung, die das Verhalten der Fußgänger personenspezifisch und in Abhängigkeit von der Umgebung simulieren (sogenannte mikroskopische Simulationen). Auf der WALK 21 würde das über Internet vertriebene Produkt simwalk vom Schweizer Entwickler Savannah Simulations AG vorgestellt. Es kann unter anderem beim Entwurf von Gebäuden und Wegeverbindungen mit dem Ziel eingesetzt werden, den Gehkomfort und die Durchlässigkeit für Fußgänger zu optimieren, Hindernisse und Engpässe für FußgängerInnen zu reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen. Es lassen sich damit auch Massnahmen zur besseren Betriebsabwicklung an stark frequentierten Haltestellen des öffentlichen Verkehrs bestimmen.
Breiten Raum nahm an der WALK-Konferenz das Thema der Aktivierung der Bevölkerung zu mehr physischer Bewegung ein. Dabei ging es auch um den gesellschaftlichen Nutzen dieser Massnahmen (Rita Butera). Ein Bewertungstool auf Excel-Basis zur Quantifizierung des monetären (geldwerten) Nutzens wurde in Australien und Neuseeland für das Projekt „walking school bus“ entwickelt. Dieses Tool schließt eine Lücke der meisten Verfahren für Kosten-Nutzen-Analysen: den Einbezug von Gesundheitskosten.
Ein wichtiger volkswirtschaftlicher Nutzen des Fußverkehrs liegt in der Vermeidung von Gesundheitskosten infolge einer Verringerung von Herz-Kreislauf-Krankheiten und von Diabetes. Im entwickelten Bewertungsverfahren werden darüber hinaus als Nutzenkomponenten unter anderem auch die - durch die Wege zu Fuß verringerten - gesellschaftlichen Kosten aus der Emission von Treibhausgasen sowie Einsparungen der beteiligten Haushalte bei den Pkw-Betriebskosten monetarisiert. Das entwickelte Programm ist zwar für die Nutzenbewertung von „walking busses“ konzipiert. Die zugrunde liegenden Ansätze für die Vermeidung von Gesundheitskosten könnten aber auch in Kosten-Nutzen-Analysen von anderen verkehrsplanerischen Vorhaben angewendet werden, wenn mit diesen Vorhaben Fahrten auf den Fußverkehr verlagert werden.
Dieser Artikel von Helmut Schad ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2006, erschienen.
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Die Fußgängerverkehrsförderung in London zeichnet sich mittlerweile durchaus federführend in Europa durch politischen Willen, strategischen Ansätzen, eine systematische Herangehensweise, behördenübergreifende Zusammenarbeit, Kommunikation und Werbung und die Höhe der bereit gestellten Mittel aus. Die unter Einsatz moderner Technologien entwickelten Audit-Systeme ermöglichen eine systematische und objektive Bestandsaufnahme und Bewertung der Ausgangslage und eine kontinuierliche Überwachung von Erfolgen und Problemen. Die Bedingungen für den Fußgängerverkehr in London haben sich in den letzten Jahren wesentlich verbessert. Durch die Kombination baulicher Maßnahmen mit einem durchgängigen Vermarktungskonzept sowie die Bereitstellung entsprechender Finanzierungsmittel hat London den meisten Städten Europas in punkto Förderung des Fußgängerverkehrs Einiges voraus.
London liefert ein gutes Beispiel für eine strategische Planung mit dem Ziel der konsequenten Förderung des Fußgängerverkehrs. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den Handlungsansätzen und Maßnahmen, mit denen London „sich auf den Weg macht“, bis zum Jahr 2015 die Fußgängermetropole Europas zu werden. Die britische Hauptstadt setzt dabei auf zahlreiche technische und infrastrukturelle Maßnahmen, legt aber auch besonderen Wert auf Werbung und Kommunikation. Mit einem umfassenden Handlungskonzept will London die Bedingungen für Fußgänger verbessern. Der Fußgängeranteil in London soll sich bis 2015 um 10% erhöhen.
Das Flaggschiff der Fußgängerförderung in London ist dabei das sogenannte „Strategic Walk Network“ (SWN), ein Fußwegenetz, das bereits heute mit knapp 600 km alle 33 Londoner Stadtbezirke (boroughs) durchkreuzt.
Das Londoner Handlungskonzept zur Förderung des Fußgängerverkehrs basiert auf einer fundierten Grundlagenarbeit, die einen zielgerichteten Einsatz der Mittel, wie auch längerfristig eine Qualitätssicherung und Wirkungsmessung der Maßnahmen ermöglicht. Hierzu zählen u.a. klar definierte Qualitätsstandards für die Fußgängerinfrastruktur und die Entwicklung von Audit-Systemen.
Im Stadtgebiet von Groß-London (Greater London) leben rund 7,4 Mio. Einwohner. London gliedert sich dabei in 32 Stadtbezirke und „London City“. Groß-London wird weiterhin in „Inner London“ (zentrale Stadtbezirke) und „Outer London“ (äußere Stadtbezirke) unterteilt. Gegenwärtig werden 31% der Wege in „Inner London“ bzw. 27 % der Wege in „Outer London“ werktags zu Fuß zurückgelegt [1].
Zur Planung, Umsetzung und zur Vermarktung des strategischen Fußwegenetzes haben sich die Bezirke unter Förderung und Mitwirkung von „Transport for London“ zur sogenannten „Walk London Borough Partnership“ zusammengeschlossen, um bezirksübergreifend geschlossen agieren zu können.
Im Jahr 2004 wurde ein Handlungskonzept zur Fußgängerförderung in London erlassen („Making London a walkable city“ [2]). Dort sind folgende quantitative Ziele bis 2015 hinterlegt:
Erreicht werden sollen diese Ziele durch zahlreiche Einzelmaßnahmen aus Straßenbau und -erhaltung sowie aktuelle Sonderprogramme und Initiativen, wie z.B.
Hinzu zählen weitere Maßnahmen, die im Rahmen der laufenden Straßenerhaltung von Transport for London bzw. den einzelnen Stadtbezirken durchgeführt werden, wie z.B.
Durch „Transport for London“ werden nach eigenen Angaben alleine für Straßenerhalt und -umbau an den übergeordneten Straßen jährlich rund 15 Mio. Pfund für Fußgängeranlagen zur Verfügung gestellt. Für das SWN wird ein jährliches Budget von zusätzlich 1 Mio. Pfund bereit gestellt.
Ferner gibt „Transport for London“ an, für den Zeitraum 2003 – 2010 insgesamt rund 100 Mio. Pfund in den Fußgängerverkehr zu investieren [3].
Das „Strategic Walk Network“ ist das Flaggschiff der Londoner Fußgängerverkehrsförderung. Dieses Fußwegenetz umfasst ländliche Wanderwege in Londons Außenbezirken, wie auch straßenbegleitende Gehwege, die u.a. auch Londons Hauptattraktionen erschließen. Fast 1.000 km soll dieses „strategische Fußwegenetz“ bis 2015 umfassen und durchgängig hohen Qualitätsstandards entsprechen.
Für jede der bisher eingerichteten sechs Routen ist ein eigener „Routen-Manager“ zuständig, er dient als Ansprechperson und Koordinator. Bauliche Maßnahmen werden entsprechend ihrer Dringlichkeit vor dem Hintergrund einer eigens entwickelten Kosten-Nutzen-Bewertung durchgeführt. Das SWN wird kontinuierlich und systematisch baulich ausgebaut und verbessert, zudem wird es professionell vermarktet und beworben. Das Netz soll insbesondere auch für mobilitätseingeschränkte Personen geeignet sein und die fußläufige Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen, Geschäften, Büros, Parks und öffentlichen Einrichtungen sicherstellen. Zentrale Informationsplattform ist die Internetseite: www.walklondon.org.uk [4].
Zum heutigen Stand umfasst das SWN rund 600 km und erstreckt sich über alle 33 Londoner Bezirke. Das heutige Fußgängernetz besteht aus sechs Routen.
Diese Routen sind einzeln ausgeschildert und werden in zahlreichen Informationsmedien beschrieben und beworben. Zum Zustand und zur Beschaffenheit der Wege wurden neben existierenden Richtlinien von „Transport for London“ eigene Qualitätsstandards entwickelt (vgl. [5]), so z.B.:
Entlang der Routen angebrachte Informationsstationen dienen zur Orientierung. Die Informationstafeln sind barrierefrei gestaltet und bieten sowohl Rollstuhlfahrern (Höhe der angebrachten Tafeln), als auch Blinden bzw. Sehbehinderten (taktile Elemente) Zugangsmöglichkeiten. An den Informationsstationen sind auch Audioinformationen verfügbar. Mit der „Walk London Information Line“ haben Anrufer die Möglichkeit, die Informationen einer Informationstafel anzuhören. Jede Informationstafel besitzt einen bestimmten Code, des Weiteren können die Informationen als MP3 runter geladen oder als CD bestellt werden.
„Walk London“ entwickelte das London Access Management System (LAMS), eine internet-basierte Plattform für die Zuordnung, Abfrage und Verwendung von Informationen für und über das SWN. Derzeit wird es als Hilfsmittel für die Umsetzung und die Aufrechterhaltung der gesetzten Standards auf dem SWN genutzt. LAMS basiert auf einem GIS-System.
Zur Bestandsaufnahme wurden zunächst Vor-Ortbesichtigungen an allen Strecken des SWN durchgeführt. Die Abschnitte wurden fotografiert und gemäß den Qualitätsstandards bewertet, geocodiert und anschließend einer digitalen Karte zugeordnet. Mit dem LAMS werden somit die erforderlichen Maßnahmen auf den Strecken festgestellt. In Zusammenarbeit mit den Stadtbezirken werden dann unter Berücksichtigung der Kosten/Nutzen-Relationen die vorhandenen Mängel nach und nach beseitigt.
Bislang wird dieses System insbesondere zur Steuerung der Umbau- und Ausbaumaßnahmen verwendet, zukünftig soll es vollständig über das Internet auch für die Öffentlichkeit zugänglich sein – Teile davon stehen heute schon zur Verfügung. Hiermit wird eine Möglichkeit für realitätsnahe virtuelle Sparziergänge durch London geschaffen, die z.B. die Planung eines Fußweges erleichtern können. Bereits heute sind Informationen zu Service-Einrichtungen, öffentlichen Toiletten oder Rastplätzen verfügbar.
In England wurden darüber hinaus in den letzten Jahren verschiedene Audit-Systeme speziell für Fußgänger entwickelt. Das PERS-Audit (Pedestrian Environment Review System) wurde für stark frequentierte Strecken und Strecken mit hoher Unfallhäufigkeit entwickelt. Dieses Audit-System liegt heute bereits in der zweiten Version vor. Seit 2006 wurde das Verfahren in London an 55 Stellen durchgeführt. [6]
Ergebnisse dieses Audits sind konkrete Mängel, wobei dieses Audit einen breiteren Ansatz (als z.B. das LAMS) verfolgt und neben Ausstattung und Qualität insbesondere die Verkehrssicherheit, aber auch das subjektive Sicherheitsgefühl berücksichtigt. Zur Durchführung des Audits wurden ein Handbuch, für verschiedene Ausgangssituationen passende Datenblätter sowie eine spezielle Software entwickelt, mit der die Mängel verortet und veranschaulicht werden können.
Zur Ansprache der Einwohner und Besucher Londons wird das SWN beworben. Zentrale Plattform ist hierfür die Webseite: www.walklondon.org.uk. Dort können detaillierte Informationen zu den einzelnen Routen, zu Veranstaltungen aber auch Hintergrundinformationen zum Zu Fuß Gehen abgerufen werden.
Mit dem „Walk Finder“ im Internet wird eine moderne Form der Fußgängerroutenplanung ermöglicht. Es steht ein breites Angebot an Informationen z.B. zur Qualität der Wege, zu „Einkehrmöglichkeiten“ und Toiletten wie auch zu den angrenzenden Sehenswürdigkeiten zur Verfügung, die dazu ermutigen, die eigene Stadt zu Fuß zu entdecken und zu erforschen.
Neben einer Vielzahl an Karten- und Informationsmaterial zu den Routen, das u.a. auch über die Internetseite bestellt werden kann, werden sog. „Walking Events“ organisiert, mit denen man insbesondere auch solche Verkehrsteilnehmer vom Gehen überzeugen will, die sonst eher wenig zu Fuß gehen. Weiteren Anreiz sollen z.B. auch Zertifikate (Completion Certificates) geben, die für jede Route, die vollständig „erlaufen“ wurde, ausgestellt werden.
Auf verschiedenen Ebenen werden die Maßnahmen zur Fußgängerverkehrsförderung in London evaluiert. Seit 2007 soll das System „London Travel Demand Survey – LTDS“ zu Grundparametern des Verkehrsverhaltens jährliche Daten bereitsstellen (vgl. [1]). Zur Evaluation des SWN wurden schon früher bei der Konzeption Schlüsselparameter definiert [5]. Seit 2002/ 2003 wird jährlich über diese Schlüsselparameter berichtet. Neben absoluten Nutzerzahlen werden Befragungen zur Zufriedenheit und der Abruf und die Nutzung von Informationen, z.B. über das Internet, ausgewertet. Der Streckenerfolg des SWN wird sowohl durch Handzählungen als auch durch 30 automatische Zählschleifen dokumentiert und durch GSM direkt auf einer Website bereitgestellt. Mit einer Genauigkeit von + / -5% wird durch Sensorenblöcke und Infrarotdetektoren die Anzahl der Benutzer ermittelt.
Der letzte Evaluationsbericht vom September 2008 [7] dokumentiert den Erfolg des Projektes. Insgesamt ist gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme der Anzahl der Nutzer festzustellen, ebenso haben die Zugriffszahlen im Internet zugenommen, wie auch die durch Befragung ermittelte Zufriedenheit mit dem Wegenetz.
Während in deutschen Städten der Fußgängerverkehr bisher weitestgehend stiefmütterlich behandelt wird, überraschen jüngste Entwicklungen in der Verkehrsentwicklung von Städten anderer Länder. Das Beispiel London zeigt, dass Fußgängerförderung mit hohem Engagement vorangetrieben werden kann und sich spürbare Erfolge einstellen können. Sicherlich ist noch einiges zu tun und es wird sich erst im Zeitverlauf zeigen, ob die hochgesteckten Ziele auch erreicht werden können, insbesondere ob es auch tatsächlich zu einer Verlagerung von Wege z.B. aus dem MIV kommen wird (Ziele hierzu werden z.B. bei Bell genannt, [3]).
Die Londoner Vorgehensweise kann ein gutes Vorbild für deutsche Städte sein, die für die zukünftigen Anforderungen und Rahmenbedingungen der demographischen, gesellschaftlichen, umweltbezogenen und wirtschaftlichen Entwicklungen gewappnet sein möchten. Jüngste Entwicklungen wie z.B. in Berlin deuten auf „Nachahmerprojekte“ bzw. ähnliche Projekte auch in Deutschland hin.
London liefert ein gutes Beispiel für eine strategische Planung mit dem Ziel der konsequenten Förderung des Fußgängerverkehrs. London möchte eine der fußgängerfreundlichsten Städte der Welt werden und bis 2015 den Fußgängerverkehrsanteil um 10% steigern. Mit Investitionen von 16 Mio. Pfund pro Jahr, einem umfassenden Handlungskonzept und vielen Maßnahmen verbessert London die Bedingungen für Fußgänger. Flaggschiff der Londoner Fußgängerverkehrsförderung ist dabei das sog. „Strategische Fußwegenetz“ (Strategic Walk Network - SWN), das bereits heute rund 600 km Fußwege auf sechs Routen umfasst.
Dieser Artikel von Univ.-Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gerlach; Bergische Universität Wuppertal, www.traffic-transport.org und Dr.-Ing. Iris Mühlenbruch Büro für Evaluation, Planung und Forschung, www.evaluation-verkehr.de ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen.
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In den dicht bebauten Innenstadtrandgebieten mit ihren hohen Anteilen an Fuß- und Radverkehr gilt es, den Fuß- und Radverkehr umfassend zu fördern, zum einen als Alternative zum Kfz-Verkehr und zum anderen, um die Teilhabe von Kindern, Seniorinnen und Senioren sicherzustellen. Das Pilotprojekt Stadtviertelkonzept Nahmobilität im Münchner Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt zeigte den Weg auf, diesen Forderungen nachzukommen.
Der Verkehrsentwicklungsplan der Landeshauptstadt München sieht eine Erhöhung des Anteils des Umweltverbunds an den zurückgelegten Wegen vor. Im Rahmen des Bündnisses für Ökologie wurde eine Projektidee entwickelt, die diese Zielsetzung im Rahmen eines Pilotprojektes in einem ausgewählten Stadtviertel vertieft: das „Stadtviertelkonzept Nahmobilität“. Es wurde vom Freistaat Bayern, Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern gefördert. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der LH München beauftrage die Arbeitsgemeinschaft von stadt+plan und KOMMA.PLAN mit der Durchführung.
Das Pilotprojekt greift die Ansätze einer Stadt der kurzen Wege und einer Stärkung der „Nähe“ auf, um so der zu beobachtenden Verlängerung der Wegelängen entgegenzuwirken. Die Potenziale für kurze Wege, wie sie dicht bebaute Innenstadtrandgebiete aufweisen, sollten durch eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur aktiviert werden. Nahmobilität umfasst im Wesentlichen die täglichen Wege zu Fuß, mit dem Rad und z.T. mit dem öffentlichen Verkehr.
Das Thema Nahmobilität wird angesichts des demografischen Wandels weiter an Bedeutung gewinnen, weil infolge der wachsenden Zahl von Seniorinnen und Senioren die Wege zu Fuß im nahen Wohnumfeld immer wichtiger werden. Zudem ist in München zu beobachten, dass in den Innenstadtrandgebieten besonders viele Kinder geboren werden. Für ihre Entfaltung und Entwicklung brauchen sie ein Wohn-umfeld, das ihnen ermöglicht, sich frühzeitig selbständig fortbewegen zu können.
Für das Stadtviertelkonzept Nahmobilität wurde der Stadtbezirk 2 Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt ausgewählt. Er zählt ca. 46.000 Einwohner, erstreckt sich über 440 ha und erfüllt mit
die Voraussetzungen für kurze Wege. Etwa drei Viertel der Wege der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Stadtbezirks sind kürzer als 5 km (Mobilität in München 2002). Sie bewältigen stadtverträglich 39 % ihrer Wege zu Fuß, 13 % ihrer Wege mit dem Rad und 24% ihrer Wege mit dem Öffentlichen Verkehr. Nur 24 % der Wege entfallen auf das Auto als Fahrer oder Mitfahrer.
Das Ziel einer stadtverträglichen Mobilität sollte durch folgende Teilziele unterstützt werden.
Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtviertels kennen die wichtigen täglichen Wege im Stadtviertel am besten. Sie waren aufgerufen, Kritik, Wünsche und Anregungen für attraktivere Wege im Stadtteil zu äußern bzw. Schwachstellen und Anregungen für den Umweltverbund zu benennen: per Faltblatt, per Internet, Fax oder Telefon. Die breit gestreuten Faltblätter enthielten einen Stadtplan und ein Formular in das die Anregungen eingetragen werden konnten.
Ein wichtiger Baustein der Bürgerbeteiligung waren in dieser Projektphase auch Stadtteilspaziergänge, auf denen mit unterschiedlichen Zielgruppen die neuralgischen Punkte im Wegenetz gemeinsam begangen bzw. befahren wurden. Schwachstellen wurden somit aus dem Blickwinkel von Kindern und Eltern sowie von Seniorinnen und Senioren betrachtet. Radfahrer, Skater und Benutzer des Öffentlichen Verkehrs wiesen auf den Statteiltouren auf weiteren Handlungsbedarf hin.
Mit Mehrfachnennungen gingen auf diese Weise 555 Anregungen ein. Die meisten Anregungen kamen zum Radverkehr, dicht gefolgt vom Fußverkehr. Viele betrafen auch mehrere Mobilitätsformen und bestätigten damit den multimodalen Ansatz des Projekts. Am häufigsten als Problem im Stadtbezirk benannt wurden Themen wie das Fehlen von Radwege/ Rad-streifen in Hauptverkehrsstraßen, fehlende bzw. unzureichende Querungen, zu schmale Radwege und die Öffnung von Einbahnstraßen für den Radverkehr in Gegenrichtung.
Parallel zur Bürgerbeteiligung wurde eine umfassende systematische Bestandsanalyse durchgeführt, die die Ziele der Nahmobilität, die Beeinträchtigungen durch den fließenden und ruhenden Kfz-Verkehr, die Straßenraumqualität, Gehwegbreiten, Querungen, das Radverkehrsnetz, Unfälle mit der Beteiligung von Fußgängern und Radfahrern, das ÖPNV-Netz und Car-Sharing-Standorte berücksichtigt. Als Ergebnis konnten weitere Schwachstellen benannt werden.
Die Bürgervorschläge wurden gebündelt und aufbereitet und im Rahmen zweier Bürgerforen zur Diskussion gestellt. Im Bürgerforum 1 diskutierten die bisher am Prozess Beteiligten. Für das Bürgerforum 2 wurden Bürgerinnen und Bürger des Stadtbezirks per Zufallsauswahl aus der Einwohnermeldedatei ausgewählt und eingeladen. Damit konnte ein breites und heterogenes Teilnehmerspektrum angesprochen werden.
Innerhalb der Bürgerforen wurden grundsätzliche Zielsetzungen und stadtteilweit relevante Maßnahmen im Plenum erörtert und gewichtet. Folgende allgemeine Zielsetzungen erhielten hohe Priorität:
Umstrittene, aufwändigere oder besonders effiziente Maßnahmen wurden in Arbeitsgruppen diskutiert und ihre Bedeutung und Priorität beurteilt. Schließlich wurde von den Beteiligten in Einzelarbeit eine Liste kleinerer Maßnahmen hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet.
Alle während der gesamten Öffentlichkeitsphase eingegangenen Vorschläge und Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger gingen in ein Bürgergutachten ein, das Bürgermeister Monatzeder überreicht wurde.
Die Ergebnisse der Bestandsanalyse und des Bürgergutachtens flossen in einen Maßnahmenplan ein, der aufgrund von Mehrfachnennungen die ca. 550 Vorschläge der Bürger zu 230 Maßnahmen bündeln konnte, die zur Prüfung an die Verwaltung übergeben wurde. Die Prüfung der Maßnahmen nahm zwar drei bis vier Jahre in Anspruch, dafür wurden aber auch einige anfangs abgelehnte Maßnahmen später dann doch als machbar erachtet und viele Maßnahmen wurden bereits realisiert. Die Bilanz zur Umsetzbarkeit der Maßnahmen ist in der folgenden Grafik dargestellt:
Bei den kurz- bis mittelfristigen Maßnahmen fanden überwiegend die kostengünstigen Vorhaben Berücksichtigung, die aus Pauschalen zum Straßenunterhalt oder für den Radverkehr bestritten werden können. Aufwändigere Maßnahmen konnten in Kombination mit anderen Projekten umgesetzt werden. Bedeutende realisierte Maßnahmen sind z.B.
Im Maßnahmenkonzept wurde nach kurz- bis mittelfristigen und längerfristigen Maßnahmen unterschieden. Die längerfristigen Maßnahmen sehen nicht minder notwendige jedoch z.T. aufwändigere Maßnahmen vor, die kurzfristig nicht finanzierbar sind, im Rahmen weiterer Maßnahmen entwickelt werden bzw. andere Maßnahmen voraussetzen. Größere geplante Maßnahmen sind neben der Neuanlage sowie der Verbreiterung von Radwegen im Straßenraum attraktive Verbindungen im Grünbereich, eine Querung der Isar für Fußgänger und Radfahrer im Zuge der Braunauer Eisenbahnbrücke, Fahrradstellplätze anstelle von Kfz-Stell-plätzen, die Begrünung mehrerer Straßen, die Verlängerung einer Buslinie und die Verbesserung von Platzgestaltungen. Hinzu kommen Gehwegnasen, Bordsteinabsenkungen sowie zahlreiche weitere kleine punktuelle und organisatorische Maßnahmen. Bei einigen Maßnahmen ist die Zustimmung des Eigentümers erforderlich oder es konnte bisher keine abschließende Prüfung erfolgen..
Der Stadtbezirk ist die geeignete Maßstabs-ebene für die Betrachtung des Fußverkehrs (einschließlich Roller und Skater), des Radverkehrs in der Fläche, für Haltestellenzugänge und den Busverkehr. Die Stadtviertelpolitik sollte frühzeitig mit einbezogen werden und z.B. Prioritäten diskutieren und ggf. übernehmen.
Exkursionen bzw. Stadtteilerkundungen mit den Bürgerinnen und Bürgern sind am effizientesten, d.h. für die Planerinnen und Planer besonders aufschlussreich, mit ausgewählten Zielgruppen (z.B. Eltern-Kind-Initiativen, Senioren, Menschen mit Behinderungen). Die Bürgerforen erweitern das Spektrum der beteiligten Bürger erheblich und ermöglichen eine direkte Kommunikation Bürger – Verwaltung. Ein Bürgergutachten hat neben der fachlichen Bedeutung für die Beteiligten einen hohen symbolischen Wert und kann an politische Entscheidungsträger überreicht werden.
Ergebnis des Maßnahmenkonzepts sollte ein umsetzungsorientiertes Sofortprogramm sein. Längerfristige Maßnahmenüberlegungen müssen zunächst nicht in gleichen Schärfe von der Verwaltung geprüft werden. Um die Finanzierbarkeit von Vorschlägen zu gewährleisten, ist ein eigenes Budget erforderlich. Sinnvoll ist die Kombination mit anstehenden Sanierungs- und Straßenbaumaßnahmen. Das Maßnahmenspektrum sollte bei zukünftigen Projekten über die Verbesserung der Infrastruk-tur hinaus auch Maßnahmen und Ziele zur Öffentlichkeitsarbeit (z.B. für eine gegenseitige Rücksichtnahme Rad- und Fußverkehr) sowie Maßnahmen zum Mobilitätsmanagement (z.B. zusammen mit Schulen und Betrieben) umfassen.
Fuß- und radverkehrsfeindliche und/oder praxisferne Regelungen im Landes- und Bundesrecht sollten durch Gesetzesinitiativen überwunden werden.
In München wurde das Stadtviertelkonzept Nahmobilität abgeschlossen. Das Pilotprojekt hatte das Ziel, zusammen mit den Bürgern ein-fache und kostengünstige Maßnahmen zu erarbeiten, um die Wege zu Fuß, mit dem Rad, mit Inline-Skates und Roller, sowie mit dem öffentlichen Nahverkehr im Münchener Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt attraktiver zu gestalten. Über die Hälfte der vorgeschlagenen Maßnahmen kann realisiert werden.
Dieser Artikel von Paul Bickelbacher und Kerstin Langer ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2008, erschienen. Paul Bickelbacher ist freier Stadt- und Verkehrsplaner in der Planungsgemeinschaft stadt+plan, außerdem engagiert in der SRL und beim FUSS e.V. Kerstin Langer ist Inhaberin des Büros KOMMA.PLAN.
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Stadt- und Verkehrsplanung prägen die Verkehrsmittelwahl und auch das Verkehrsverhalten in den Kommunen. Folgende Beiträge zeigen Ansätze, den Fußverkehr besser in die Konzepte und Strategien zu verankern:
Die in den folgenden Beiträgen zusammengetragenen Beispiele kommunaler Planungen und Maßnahmen zur Förderung des Fußverkehrs sind erweiterungsfähig und sollen nur einen Einstieg in die Möglichkeiten darstellen:
Folgende Beiträge weisen darauf hin, dass Stadtplanung gemacht wird, Stadtlandschaften sich aber auch außerhalb stadtplanerischer Einwirkungen entwickeln: