Zum Fußgänger-Symposion in der Lutherstadt Wittenberg am 10. + 11. Oktober 2003 wurde ich gefragt, welchen Nutzen das Gehen für unsere Umwelt und unsere Gesundheit hat und welche Maßnahmen und Initiativen sinnvoll wären, um diese Zusammenhänge deutlicher in die fachliche und politische Diskussion einzubinden und Handlungen anzuregen. Mein Beitrag versucht, den Nutzen des Gehens für Umwelt und Gesundheit im landschaftlichen und damit gesellschaftlichen Zusammenhang zu beleuchten. Es ist ein Beitrag im Sinne von Lucius Burckhardt (1925-2003) mit der von ihm begründeten „Spaziergangswissenschaft“ als Schlüssel zur Wahrnehmung unseres Lebensraumes.

Gehen macht Landschaften sichtbar

Unsere Umwelt ist in klimatische und geologische Naturräume eingebettet, sie ist auch Lebensraum für Tier und Pflanzengesellschaften – ihre Ausgestaltung ist indessen menschgemacht: In Form gebauter Städte mit ihrem suburbanisierten Umland und als landwirtschaftlich genutzte Wälder, Wiesen und Felder. Selbst Naturschutzgebiete sind nicht einfach eingezäunt und sich selbst überlassen, sondern werden gehegt und gepflegt, damit die Sukzession in Richtung eines stabilen pflanzengesellschaftlichen „Endzustandes“ nicht das, in unseren Köpfen vorhandene „historische“ Landschaftsbild überwächst.

Die Umwelt ist also nicht die Natur, sondern das Ergebnis kultureller Lebensweisen. Aufgrund der überwiegenden Gesellschaftsbestimmtheit sprechen wir anstelle von Umwelt, von der Landschaft. Unsere, also immer im Wandel befindenden Lebensweisen prägen durch Gestaltung, durch Bauen und Nutzen, letztendlich durch Wirtschaften ein landschaftliches Gewebe. Deshalb ist Landschaft auch keine Sequenz natürlicher, topographischer Gegebenheiten, sondern zeigt sich als darüber liegende künstliche Überformung – als Siedlung oder Landwirtschaft.

Wichtig ist, die sichtbaren Elemente der Landschaft können nur gemeinsam mit den unsichtbaren gesellschaftlichen Bezügen erklärt werden: Der Verlust engmaschiger und attraktiver Fußwegenetze ist nicht von den politischen, fiskalischen und baulichen Prioritätensetzungen zu trennen; an den Signalsteuerungen können Straßenraum beziehungsweise die Passierzeit nur einmal zwischen Autos, Straßenbahnen, Radfahrern und den Fußgängern verteilt werden. Mit dem Landschaftsbezug versuchen wir unsere spezifischen Umwelten aus isolierenden Betrachtungsweisen herauszulösen. Beispielsweise sehen wir die Bedeutung des Gehens nicht vordergründig im Kontext individueller Gesundheit auf Wanderungen in Landschaftsschutzgebieten. Vielmehr werden urbane Wechselwirkungen, wie Quartiers- und Angebotsentwicklung, Wohnweisen oder gesellschaftliche Mobilität mit den Bedingungen des Gehens beleuchtet: Unser Interesse gilt den Determinanten der Landschaftsveränderung, die durch zumeist unsichtbare Regelungslogik ihre Ausprägung erhalten.

Wie die Landschaft mit spezifischen Umwelten in enger Korrelation steht, so auch die Gesundheit: Unser Wunsch nach stabiler Gesundheit hängt sicherlich von den wohl kaum beeinflussbaren natürlichen und genetischen Voraussetzungen ab, im wesentlichen aber, bekommt unser existenzielles Wohlbefinden durch alltägliche, wie rituelle Lebensformen seinen Handlungsrahmen. Individuelle und kollektive Gesundheit lässt sich im erweiterten Sinne als Produkt von Lebensweisen umschreiben, beispielsweise Ernährungskultur, Siedlungskultur, Mobilitätskultur oder Produktionskultur, wie immer sie auch gelebt werden und sich wechselseitig bedingen. Umgekehrt bilden sich die Lebensweisen in unserer Stadtlandschaft ab und determinieren die „Gesundheit des urbanen Gewebes“ als Grundlage gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.

Und nun komme ich zur Kernthese meiner Ausführungen: Die Fortbewegung von „Bauch“ und „Kopf“ mit den leistungsfähigen Füßen - also das Gehen - ist Schlüssel für die feinsinnige Wahrnehmung unserer städtischen und ländlichen Landschaften. Landschaft wird eigentlich erst im Laufe von Spaziergängen mental erschlossen. In der Fußgängerperspektive können wir soziale und ökonomische Lebenszusammenhänge über die lokalen Phänomene beobachten; beim Durchschreiten konkreter Räume als Originalbühne eröffnen sich nachspürbare Zusammenhänge unserer Landschaften. Gelehrt hat dies Lucius Burckhardt, mit der von ihm entwickelten Spaziergangswissenschaft. Unter der Annahme, dass wir das Alltägliche nicht mehr bemerken, führte Burckhardt sein Publikum – und auch mich – immer wieder durch die sich verändernde Stadtlandschaft und vermittelte die dahinterstehenden planerischen Annahmen und gesellschaftlichen Bedingungen. Im Sinne dieser Herangehensweise wollen wir mit virtuellen Spaziergängen die Entwicklungstendenzen unserer zunehmend schwieriger wahrnehmbaren Landschaften beleuchten, bilden sie doch das Gerüst unserer individuellen wie gesellschaftlichen Herausforderungen.

Gehen vernetzt Lebensräume

Sehr fein ist die Beobachtung von Burckhardt über das Sehen und Erkennen unserer allgemein nachlassenden urbanen Lebensqualität: „Die Lebensqualität wurde dem Stadtbewohner scheibchenweise weggeschnitten, so dass er sie unmerklich aus dem Auge verlor. Als die Autos zunahmen, konnte man die Straße beim Spielen nicht mehr benutzen. Dann wurden Zebrastreifen eingerichtet. Man freute sich nun, wenigstens in Sicherheit die Straße überqueren zu können. Dies sind im Grunde ständige Enteignungen, die wir entweder gar nicht mehr spüren, oder wir empfinden sie als Gewinn, weil uns scheinbar etwas zurückgegeben wird. Der Zebrastreifen ist gefahrlos und sicher, heißt es. Dabei müsste man ja überall die Straße passieren können. Irgendwann gilt der Zebrastreifen als zu unsicher und wird durch Ampelanlagen ersetzt, bei welcher man dann noch auf das Signal warten muss. Dieser Enteignungsprozess läuft immer scheibchenweise, so dass man den Gesamtverlust nicht sehen und erfahren kann“. Demgegenüber werden seit Jahrzehnten Lösungen gesucht, die länger werdenden Fahrtstrecken bis inmitten der Kernstädte in akzeptabler Zeit zu bewältigen. Nachdem man dem Autofahrer in der Vergangenheit vor allem mehr Raum in den Städten gegeben hat, werden heute über Signalsteuerungen zeitliche Kapazitätsoptimierungen an den Kreuzungen ermöglicht; und morgen könnten Verlagerungen in heute noch mäßig befahrene Straßen weiterhin steigende Verkehrsflüsse bewältigen.

Eingeschlagene Entwicklungen müssen aber nicht zwangsläufig an die Grenzen der Machbarkeit getrieben werden: Man könnte auch bei fortgeschrittenen Zersiedlungserscheinungen die Erschließungen der Zentren und Quartiere siedlungsgerechter ausbalancieren; gerade durch eine verstärkte Wiedereinführung des Fußgängerüberweges ließen sich die Verkehrsflüsse verstetigen und würden mehr Lebensqualität für die Bewohner bringen. Bei häufigem Einsatz gewöhnen sich Autofahrer und Fußgänger an die Regelungen am Zebrastreifen und machen ihn sicherer, noch dazu viel preiswerter als die „Lösung“ über Fußgängerfurten mit Signalsteuerungen. Solch ein Paradigmenwechsel in der Straßenbenutzung würde die rechtliche Situation nicht wieder umkehren, aber immerhin modifizieren: Der „Mitwelt“– belastende Automensch gibt ein Stückchen seines Straßenprivilegs ab und verbessert dem bedrängten, heute noch in den Kerngebieten verbliebenen Bewohner und Fußgänger die notwendigen Existenzbedingungen – schließlich unumgängliche Schritte für stabilisierende Entwicklungen der Quartiere.

Gehen gewährleistet Urbanität

Jedes urbane Leben und -Wirtschaften gründet auf Begegnungen, auf Kommunikation und Austausch im öffentlichen Raum. Unerlässliche Bedingung hierfür sind Fußwege, die alle Orte feinmaschig verknüpfen, als wichtigster Baustein stadtverträglicher Mobilität. Wenn wir den sensiblen und anspruchsvollen Fußgänger verdrängen, zusammenhängende Fußwegenetze zerschneiden, oder nur noch grobmaschig anlegen, wird städtisches Leben, mit den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Verflechtungen entkräftet - oder es kann sich nicht differenziert entwickeln.

Das Anreichern urbaner Lebensweisen für lokale Angebotsentwicklungen erfordert zudem eine ausgeglichene Lage- und Standortgunst, die prinzipiell auf eine möglichst langfristige Stabilität hin angelegt sein sollte. Und drittens gründet Urbanität auf einer hinreichenden Dichte; allerdings können sich gesellschaftliche Bindungskräfte nur in einer flexiblen Struktur entfalten und festigen; in einem baulichem Gewebe, das möglichst vielfältigen Lebensbedürfnissen dienen kann – und deshalb in der Lage ist, dynamische und daher immer unbekannte Entwicklungen aufzunehmen. Nutzungsoffenes Gewebe, stabile Standortgunst und gute Bedingungen fürs Gehen sind bedingende Voraussetzungen für die Vernetzung urbaner Lebensformen – jedoch entziehen sich diese Zusammenhänge unserer Wahrnehmung und stehen im Widerspruch zu unseren falsch angelegten Stadt-Landschaften.

Beginnen wir im alten Zentrum: Als in den Innenstädten die Autos, und damit die Verstopfungen zunahmen, stapelte man die Fahrzeuge über und unter der Erde, damit sie sich nicht gegenseitig behindern. Doch der zurückgewonnene Platz für den fließenden Verkehr reichte nicht aus; im Stadtkörper musste Platz für erweiterte Fahrspuren gefunden werden, um das neue Massenverkehrsmittel nicht wieder in zähfließende Stauungen abzubremsen. Irgendwann waren alle Städte mit autobahnähnlichen Zubringern und Ringstraßen erschlossen – den Fußgänger verwies man in abgegrenzte Fußgängerzonen, die zunehmend in den Hallen der Shopping-mall mit den angelagerten Stellplätzen und Kettenläden beginnen und enden.

Selbstverständlich hatte man an den ausweitenden Rändern zur Einkaufsstadt auch Geschäfte vorgesehen; eine steigende Automobilfrequenz war aber kein Garant für Kundenfrequenz. Häufiger Geschäftewechsel, Dauerleerstände und ein Absinken des Niveaus verdeutlichen den Existenzkampf – zum Zentrum hin sind die Ladenmieten zu hoch und an den unangenehmen Randlagen möchte kein Kunde das Geschäft aufsuchen. Fußgänger als Passanten und Kunden, aber auch die Bewohner meiden Orte, die dem Automenschen beinahe alleinige Existenzbedingungen bescheren. Die Ränder sind auch nicht zum Fahrbahnrand abgrenzbar, sie fransen aus und ziehen den Abwertungsprozess in die Quartiere hinein: Die Ränder der Zonen, der früher feinen Übergänge der Stadtquartiere, entwickeln sich zu eigenen, oftmals gar mehrere Gevierte breite Zonen – und trennen, ein sinnvolles und damit selbstentwicklungsfähiges, urbanes Gewebe, weil, und das ist der springende Punkt, schier unabwendbare und steigende Abhängigkeiten vom Automobil den Energiebedarf und damit die Umweltverschmutzung erhöhen - und in die Kerngebiete tragen.

In diesem Dilemma und der stetigen Suche nach geeigneten Lebens- und Standortbedingungen sortiert sich die Stadt-Landschaft um; sie dehnt sich aus, ohne wirklich zu wachsen. Echte Substanzgewinne sind im Bezug zum Flächenverbrauch gering. Das Leben zerstreut sich in Ballungsräumen, es entzieht sich dem öffentlichen Raum, es wird unsichtbar – ein solcher Prozess muss sich nachteilig auf die Existenzbedingungen auswirken und verändert die Sehgewohnheiten.

Gehen im Kontext der Brache

Unsere urbanen Bindungskräfte erschöpfen sich im Konglomerat aus neugebauten Wohnsiedlungen, unbebauten, weil verspekulierten Grundstücken, nichtauffüllbaren Gewerbegebieten, dazwischen eingesprengten noch bäuerlichen Teilen, Sportanlagen und Autobahnzubringern. Es entsteht eine fragmentierte Landschaft, die nicht mehr logisch aufgebaut, unwirtschaftlich und wenig erholsam ist: mit der Brache als modernes Phänomen. Ursprünglich ist die Brache ein aus landwirtschaftlicher Verwertung genommenes Land, das einer ertragreicheren Nutzung zugeführt werden soll. Mittlerweile vermehren sich die ertragsarmen Grundstücke und damit die Brachen, in einer von immer weniger Akteuren durchgestalteten Landschaft:

Baulandbrachen vermehren sich im Entwicklungsgang der Desurbanisierung. Nichtauffüllbare Siedlungen im alten und neuen Bestand wachsen als Sukzessionswäldchen heran, wenn ihr Brachenzustand nicht wieder sichtbar gemacht werden soll, oder das erschlossene, später aber aufgegebene Bauland gar in Grünanlagen umgewandelt wird. - Auch die Förderrichtlinien der europäischen Landwirtschaftspolitik sorgen für Über- und Unterproduktion, für Wüstwirtschaften oder Brachfallen: Der Bauer kann sich heute ausrechnen, dass er für das Stillegen seiner Felder und dem Kassieren der Ausgleichszahlung einen höheren Ertrag erzielen kann, als für seine Mühe, Saatgut und Düngemittel zu investieren. Infolgedessen finden wir vor allem auf weniger ertragreichen Böden das Phänomen der Kultur-Brache, die zunehmend in Landschafts- oder gar Naturschutzgebiete neu gestaltet wird – meist kostspielig und wenig ertragsreich.

Gehen wir zu den Ortsrändern: zunehmend eingedeicht mit Wallanlagen, verbergen sich die neuen Siedlungen. Heute ist der Autofahrer auf dem Weg vom Wohnort bis zur Tiefgarage immer von Grünanlagen umgeben, bis ihn diese, wiederum umgeben von Grün, in die Fußgängerzonen entlässt. Nichtbenutzbarkeit der Flächen mit Gebüsch, am besten mit Stacheln, sind die Begleiterscheinungen des Straßenbegleitgrüns: Meist grüne Verlegenheitsanlagen ohne Aufenthaltsqualität, errichtet mit dem Ziel, den Verkehr zu kanalisieren oder die Härte der Verkehrsränder abzumildern. - Selbst das Grün der Grundstücke im neueren Baubestand erscheint oftmals einfältig, als müsste die moderne Landwirtschaft gartengestalterisch kopiert werden. Eine gleichförmige Ausgestaltung der Gebäudeabstände macht den Quartiersspaziergang langweilig. Es liegt an der zunehmenden Indifferenz der Siedlungen, am Fehlen der sozialen Mitteilungen der Bewohner, aber auch an mangelnder Ablesbarkeit, was in den mit viel Grün verborgenen Häusern und ihrer schwer interpretierbaren modernen Architektur geschieht.

Die Stadt verwaldet, von den Peripherie bis in die Kerngebiete. Wenn die engbepflanzten Linden ausgewachsen sind, werden die Passanten am Kasseler Martinsplatz die umgebende Randbebauung oder die mittelalterliche Martinskirche nur noch erahnen können. Gibt es in absehbarer Zeit keine Straße mehr, ohne dichte Bepflanzung? Je begrünter die Stadt wird, desto weniger wird das Grün wahrgenommen und weitere öffentliche Bepflanzung wird gefordert.– Im einzelnen mögen die Brachen durchaus hübsch anzusehen sein, sie verhindern aber nach Burckhardt (2000) die Einordnung der Landschaft in das Lokal-Typische als Produkt lokaler Lebens- und Wirtschaftsweisen. Denn Brachen beschränken die Wahrnehmungsfähigkeit für die Dinge, die in der Stadt und auf dem Lande passieren: Nicht das Verstecken und Verklären, sondern das Sichtbar-machen und das Vernetzen baulich-gesellschaftlicher Bezüge wäre eine zwingende Grundlage urbaner Entwicklung.

Zwischen den Randerscheinungen mit den „Brachen“ unterschiedlichster Ausprägung bilden sich, deutlich sichtbar, neue Elemente im Ballungsraum ab, die in Form gestalteter Sonderzentren besondere Aufmerksamkeit begehren: Der Supermarkt, der Themenpark als Modifikation von Disneyland und die historisierend aufgeputzte Altstadt. – In allen drei Zentren finden sich die Besucher schnell zurecht und ihre Rolle als Konsumenten ist ebenfalls eindeutig: Man kann kaufen oder das Kaufen sein lassen. Eine dritte Möglichkeit, nämlich mitzuhelfen oder selber etwas anzubieten und Geschäfte zu machen gibt es nicht. Alle drei Orte haben ein striktes Reglement etabliert. Selbst in der denkmalgepflegten Altstadt besteht die Neigung, den Branchenmix und die öffentlichen Veranstaltungen zu kontrollieren. Supermarkt, Themenpark und Altstadtgestaltungen stellen schließlich Bedingungen her, die zu einem künstlichen Einheitsstil hinführen.

Nun komme ich zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Die Besiedlung des ländlichen Raumes war nur auf Grundlage des Automobils möglich. Infolgedessen entstand eine Stadtlandschaft, die nur noch mit dem Automobil erreichbar ist. Unsere Städte sind gebaut, und in ihrer Ausdehnung nicht mehr rückführbar, gleichsam wie unsere Mobilitätserfordernisse nicht beschnitten werden können. Das Auto ist dabei nicht generell das Problem; im übermäßigem Gebrauch aber schon – wenn es das Gehen verdrängt.

Landschaften, die mit Rändern, Brachen und simplifizierten Zentren zerschnitten sind, unterbrechen einerseits die Wahrnehmung für die gesellschaftlichen Verflechtungen als Fundament für die Herausbildung lokal-typischer Entwicklungen; andererseits „definieren“ sie eine schier beliebige Standortgunst im Raum. Gerade in der engmaschigen und komfortablen Vernetzung der Gebiete für das Gehen dürfte Chance liegen, urbane und damit gesellschaftliche Perspektiven zu entfalten. Dabei ist Gehen die elementare Voraussetzung für das Erkennen des vorhandenen baulich-kulturellen Erbes mit seinen Nutzungspotenzialen. Gehen könnte zudem ungeahnte Perspektiven für Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen eröffnen, indem unter Zuhilfenahme der ausweitenden Brachen sinnvolle, synergiesteigernde Anlagerungen zum Bestand erfolgen. Schließlich ist Gehen ein Stabilisator für generationsübergreifende Lebenskulturen; denn der Fußgängermensch gewährleistet am ehesten eine stabile Lagegunst als Grundlage für Angebotsentwicklungen und Investitionen. Nicht alleine im konzentrierten Fußgängerbereich der City, sondern als engmaschige Vernetzung aller kernstädtischen Quartiere mit dem Umland.

Lucius Burckhardt formuliert in seinem Werk „Brache als Kontext“ folgende bemerkenswerte These: „Unsere Landschaften sind schön, wenn wir sehen können was in ihnen geschieht“. Orte, Ensembles, ländliche Kulturen werden also umso schöner, wenn möglichst viele Menschen an der Kulturlandschaft mitwirken und ihre Werke auch zeigen können. Nach Immanuel Kant hängt die Wahrnehmbarkeit unserer Landschaft von der „Unbetroffenheit“ des Betrachters ab: Schönheit kann erlebt werden, wenn die Landschaft „echt“ ist, wenn sie einen Nutzen hat und positive emotionale Gefühle weckt. Dagegen lösen ausgeräumte, überdüngte, mit synthetischen Schädlingsbekämpfungsmitteln behandelte Felder oder durch Verkehrsschneisen geschaffene Emissionskorridore mit ihren isolierenden Siedlungsinseln eher weniger schöne Betroffenheit oder Gleichgültigkeit aus. Wir alle wissen, dass Lust auf Stadt oder Land durch interessante Angebote, kommunikationsfördernde Lebensweisen, schmackhafte Produkte, historische oder persönliche Bezüge geweckt werden kann. Und schließlich glauben wir, dass Schönheit vor allem erlebt werden kann, wenn tragfähige Zukunftsperspektiven in Aussicht sind, beziehungsweise begründbare Hoffnungen auf Besserung gegeben sind. Schönheit ist – wie unsere Landschaft – menschgemacht.

Und, „Gehen und Sehen“ schafft Wege, die Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich wieder auf die Beine zu bringen.

Weitere Informartionen:

  • BURCKHARDT, Lucius, 1994: Sichtbare und unsichtbare Ränder. Deutsche Bauzeitung 1994, (Nr. 6), Seiten 116 f.
  • BURCKHARDT, Lucius, 2000: Brache als Kontext. In: Holzer, Anton und Elfferding, Wieland, (Hrsg.: Turia + Kant): Ist es hier schön: Landschaft nach der ökologischen Krise, S.141-152, Wien.
  • HASENSTAB, Roland, 2002: Zu Fuß städtebauliche Ränder überwinden. In: Altrock, Uwe, (Hrsg.: Arbeitsbereich Quartiersentwicklung und Städtebau): Planungsrundschau - Theorie Forschung Praxis, S.141-148, Hamburg
  • JACOBS, Jane, 1963,: Tod und Leben amerikanischer Großstädte, Frankfurt/Main (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1961: The Death and Life of Great American Cities).
  • ALEXANDER, Christopher, 1995,: Eine Muster-Sprache, Wien (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1977: A Pattern Language).
  • BURCKHARDT, Lucius, 1968: Bauen ein Prozess, Niederteufen.
  • BURCKHARDT, Lucius, 1985: Die Kinder fressen ihre Revolution: Wohnen - Planen - Bauen - Grünen, Köln.
  • JACOBS, Jane, 1970,: Stadt im Untergang, Frankfurt/Main (Übersetzung der Originalausgabe aus dem Jahre 1969: The Economy of Cities).
  • RITTEL, Horst W.J., 1992: Planen, Entwerfen, Design, Stuttgart.

 

Dieser Beitrag von Roland Hasenstab erschien in der Dokumentation: Zu Fuß für Umwelt und Gesundheit – 30 Beiträge vom 2. FUSS-Botschaftertreffen am 10. Und 11.10.2003 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2004

Dipl. Ing. Roland Hasenstab, geb. 1962, ist Stadt- und Landschaftsplaner und Bauassessor. Er studierte an der Universität Kassel, war mehrere Jahre als Referent im Stadtentwicklungsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen im Referat Stadterneuerung im Bestand tätig. Zur Zeit arbeitet er als Wissenschaftlicher Bediensteter am Institut für Städtebau und Landschaftsplanung der Technischen Universität Braunschweig an einem interdisziplinären Forschungsprojekt Stadt+Um+Land 2030 zur Zukunft der Region Braunschweig. Arbeitsbereich ist die Stärkung urbaner Systeme. Roland Hasenstab ist Mitglied im erweiterten Bundesvorstand des Fuss e.V.

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