Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 16/1998
Der Autor, Wolfgang Wehab, bearbeitete 1993 den Teil "Perspektiven für den Fußgängerverkehr" des Gesamtverkehrsprogramms Steiermark. Das vorliegende Buch basiert auf seiner überarbeiteten Diplom-Arbeit in Volkskunde/Europ. Ethnologie an der Universität Graz. Darin geht er der Frage nach der kulturellen Gewordenheit des Verkehrs, insbesondere des Gehens, nach. Absicht dabei ist es, das heute als "normal" erscheinende Mobilitätsverhalten aus der Struktur- sowie aus der Mentalitätsgeschichte heraus zu erklären, d. h. die Bedeutung der Fortbewegung zu Fuß als Teil der Mobilität insgesamt und die Bedeutung der Gehkultur in gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Strömungen zu verstehen. Er hat dafür diverse Quellen der Belletristik und der Fachliteratur ausgewertet und acht Leitfadeninterviews mit GeherInnen geführt.
Zu den kulturellen Kennzeichen des Gehens gehört heute, daß das Zufußgehen die Funktion der Fortbewegung über größere Entfernungen weitgehend verloren hat und zum Kompensations- und Regenerationsfaktor der Freizeit- und Fitneßgesellschaft geworden ist. Zwar gibt es beim Menschen eine "natürliche" Disposition zum Gehen, der Gang scheint jedoch eine erlernte Kulturtechnik, Teil einer Erziehung zum Gehen, zu sein.
Auf das Gehen wirken zwei Grundbedürfnisse des Menschen: jenes nach Horizonterweiterung und jenes des Nicht-Gehen-Müssens, des Gewiegt- und Getragen-Werdens. Nicht erst die zeitgenössische Verkehrspolitik versteht es, diese beiden Bedürfnisse anzusprechen und Verkehrsmittel als Mittel der "Erleichterung" anzubieten.
Es ist in der Wissenschaft umstritten, ob es nationale oder regionale "Gehstile" gibt. Sicher ist jedoch, daß das Gehen sozial codiert ist. So diente die Gangart im 18. und 19. Jh. der Feststellung der sozialen Herkunft: Das Schnellgehen war bis in die 1790er Jahre hinein ein Zeichen berufstätiger Schichten und war deswegen in höheren Kreisen verpönt. Sozialer Aufstieg wurde im abendländischen Kulturkreis gleichgesetzt mit nicht mehr Gehen müssen. Mentalitätsgeschichtlich gab es jedoch immer wieder auch Gegenbewegungen, die das Gehen, in Form der Wallfahrten, des (Berg)wanderns oder der Wandervogelbewegung mit religiösen, romantischen oder kulturkritischen Motiven verbanden.
Soziale Stufung des Verkehrsmittelgebrauchs: In den griechischen Stadtstaaten wurden Eingriffe in die Natur als barbarisch angesehen. Männer, die das demokratische Ideal demonstrieren und dem Vorwurf der Prunksucht und Verweichlichung begegnen wollten, bewegten sich zu Fuß voran. Wagen blieben v.a. Frauen vorbehalten. Für die Zeit um 1000 v.Chr. wird aus diesen Gründen sogar von einem Rückgang der Wagenbenutzung berichtet. Im römischen Reich erfolgte v.a. aus militärischen Gründen und zum Zweck des Handels ein Ausbau des Straßennetzes. In Rom genossen Fußgänger noch einen besonderen Schutz, da auf vielen Straßen keine Wagen fuhren durften. Die vielleicht erste Form einer Gehkultur sieht Wehap in den am Ausgang des Mittelalters entstehenden Wallfahrten. In den absolutistisch regierten Staaten wurden mit der Ausweitung der Strassennetze erste Straßenverkehrsordnungen erlassen, es kamen getrennte Fuhrwerke zum Gütertransport und zur Personenbeförderung auf. Für Männer war die Benutzung von Pferden bis weit ins 17. Jh. hinein die bevorzugte Art der Fortbewegung. Auch die späteren Postkutschen waren nicht für Arme gedacht. Die soziale Hierarchie drückte sich durch die Höhe des Pferderückens bzw. der Radachse aus. Diese soziale Stufung findet in unserem Jahrhundert ihre Fortsetzung, selbst was das Verhältnis des Radfahrens zum Gehen betrifft: "[...] auf dem flinken Stahlrösslein kommt man sich vor wie geadelt, wie ein Graf, der mit Vieren fährt", wird Michael Haberlandt aus dem Jahr 1900 zitiert.
Mit der Aufklärung und der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft veränderte sich nicht nur der Gebrauch von Verkehrsmitteln - je nach Stand der Technik -, es kam phasenweise auch immer wieder zu einer kulturellen Aufwertung des Zufußgehens und Wanderns:
Für Rousseau sowie die Romantiker erhielt das Gehen die Bedeutung des Weggehens aus Zwangsverhältnissen, mit einer Hinwendung zum Elementaren in der Natur, z.B. in den Alpen. Auch Goethe nannte sich in seiner Jugend einen "Wanderer", der von Unrast und Naturliebe getrieben wird. In einem Brief aus Leuk schrieb er: "Zu Fuß zu gehen ist am Ende doch immer das Angenehmste". Andere Wanderer unter den Dichtern waren Brentano und Hölderlin. Auch der berühmte "Spaziergang" (heute "Wanderung") von Seume nach Syrakus im Jahr 1802 hatte ein "Fluchtmotiv" - eine unglückliche Liebe. Beim Goethe'schen Modell der Lehr- und Wanderjahre schwingt schon eine erste frühe postmoderne Stimmung des Bürgertums mit, ein erstes Unbehagen an der Technisierung und Vermassung des städtischen Lebens und der Versuch, mit dem Gehen menschliche Zeit- und Raumerfahrung zurückzugewinnen. Diese erkenntnistheoretischen Vorzüge, z.B. die bessere Wahrnehmung des landschaftlichen und sozialen Umfeldes, wurden auch von Karl Gottlob Schelle im Jahr 1802 gepriesen; sie hatten Adolf Freiherr von Knigge gegen Ende des 18. Jh. zu der Bemerkung geführt, das Wandern sei die "vornehmste Art zu reisen". Dabei wurde jedoch auch in den frühen Ausgaben des "Knigge" darauf hingewiesen, daß das Gehen bei Personen höheren Standes nicht weit verbreitet sei, da man automatisch dem Fußvolk zugerechnet werde.
Später traten neben die aufklärerischen Motive nationale Argumente: beispielsweise bei Friedrich Ludwig Jahn, der im Wandern eine volksbildnerische Aufgabe sah und das Wandern in Gruppen propagierte. Dieser Argumentationstrang wurde von der nationalistischen Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im "Dritten Reich" aufgegriffen und ideologisch weiter überhöht. Die Wandervogel-Bewegung war demgegenüber eher eine "Jugendbewegung" gegen die Enge der wilhelminischen Zeit, die sich einer stadtkritisch-romantischen und authentizistischen Argumentation bediente.
Eine Extremposition vertrat Marinetti im 1. Futuristischen Manifest: "Die Langsamkeit ... ist ihrem Wesen nach unrein. Nach der Zerstörung des veralteten Guten und des veralteten Bösen schaffen wir ein neues Gutes, die Geschwindigkeit, und ein neues Böses, die Langsamkeit." Mit dem Autobahnbau in Deutschland wurden hierfür - mit militärischem Hintergrund - Grundlagen geschaffen. Aber auch im städtischen Raum wurde das futuristische Paradigma Realität. Wehab berichtet, daß die zulässige Höchstgeschwindigkeit in österreichischen Ortschaften im Jahr 1905 bei 15 km/h lag (Maßstab: ein trabendes Pferd), 1930 auf 35 km/h, 1939 auf 40 km/h und 1956 auf 50 km/h angehoben wurden. In Deutschland war das Tempolimit 1952-57 überhaupt abgeschafft.
Ist das Gehen noch zeitgemäß? Der Philosoph Odo Marquard hat auf die Vorzüge hingewiesen, die das Aufsuchen unberührter Landschaften wie auch belebter Großstadtstraßen haben kann: Man wird unauffindbar und dadurch unbelangbar. Auch das Wandern hat nach Wehab nicht mehr den Ruch des Anachronismus: Neben dem in den 70er Jahren entstandenen leistungsorientierten Wandern (Fitneß-, Sport- und Extremwandern) findet ein erfahrungsorientiertes Wandern Verbreitung. Es werden zusehends auch die medizinischen Vorzüge des Gehens diskutiert. Wander- und Alpinistenvereinigungen beginnen, ihre Rolle als Förderer eines sanften Tourismus zu definieren. Das Bild vom "neuen Wanderer" knüpft an das sinnlich-humanistische Weltbild der Spätaufklärer wie Seume an; in der Existenzweise ist es nach Wehab auf der Seite des "Seins" anstelle des "Habens" (Fromm) anzusiedeln. Wehab untersucht zwar nicht, wie die außeralltäglichen Gehformen, etwa das Wandern, auf das Alltagsverhalten wirken, vermutet aber eine positive Wirkung: "Heute deutet vieles darauf hin, daß das Gehen eine Renaissance erlebt. Die neue Generation von FußgängerInnen ist heterogen, ihre Motivlagen sind vielfältig und Ausdruck eines vom Mainstream abgehobenen Lebensstils." Antrieb hierfür sei nicht nur die Verkehrsproblematik, sondern auch ein anderer Umgang mit Sinnes- und Körpererfahrungen. Wehab appelliert an die Verkehrsteilnehmer, das eigene Mobilitätsverhalten und das Verhältnis zum eigenen Körper einmal zu überprüfen, um zu erfahren, daß die rigide Trennung zwischen Eigen- und Fremdbewegung aufgeweicht gehörte. Er sieht allerdings auch einen Bedarf an besseren Vermarktungsstrategien, um das Gehen wieder salon- und marktfähig zu machen.
Wehab hat eine fundierte Kulturgeschichte des Gehens geschrieben, die man als Standardwerk bezeichnen kann. Der breite Raum, der der Mentalitätsgeschichte eingeräumt wird, zeigt, daß das Gehen nicht notwendigerweise eine verschwindende Form der Fortbewegung sein muß. Neue gesellschaftliche Wertlagen können, wie schon früher immer wieder einmal, zu einer Aufwertung des Gehens führen. Die Analyse zeigt auch, was dabei das größte Hemmnis sein dürfte: die seit Jahrhunderten, wenn nicht seit zwei Jahrtausenden etablierte Codierung der Eigenfortbewegung und des langsamen Verkehrs als sozial niederrangig. Sehr lobenswert ist die Zusammenfassung der Studie in Form von 10 Punkten in einem eigenständigen Schlußkapitel. Der ebenfalls gut lesbare Hauptteil hat mit seinen 675 Fußnoten stärker wissenschaftlichen Charakter. Das Literaturverzeichnis enthält kaum Planungsliteratur, dafür eine Reihe von Schriften aus der Ethnologie und der Literatur, die Verkehrsplaner für sich erschließen können.
Wehap, Wolfgang: Gehkultur - Mobilität und Fortschritt seit der Industrialisierung aus fußläufiger Sicht (= Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie; Bd. 7), Frankfurt a.M. u.a.: Verlag Peter Lang 1997, XLIII + 308 Seiten
über den Buchhandel, ISBN 3-631-32369-7, DM 89 (br.)
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, April 1998. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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