Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 28/2001
Mit dem Fussverkehr hat sich der VCÖ schon einmal grundlegend im Jahr 1993 in seinem Handbuch „Vorrang für Fussgänger“ beschäftigt (siehe KLF Nr. 6/94). Die neue Veröffentlichung aus der VCÖ-Schriftenreihe „Wissenschaft und Verkehr“ zum Thema „Sicher gehen in Stadt und Dorf“ will „allen, die das Gehen in den Mittelpunkt der Mobilität stellen wollen, wertvolle Informationen und Tipps“ geben. Es sollen Lösungen aufgezeigt werden, wie das Gehen sicher und komfortabel geplant und organisiert werden kann.
Die Veröffentlichung deckt ein breites Spektrum von Themen aus folgenden Themenfeldern ab: Grundlegendes zur Mobilität zu Fuss in Österreich, Zeitersparnis für Fussgänger, Sicherheitsaspekte des Fussverkehrs, Komfort im Fussgängerlängsverkehr, sichere und zeitsparene Querung von Fahrbahnen, Gehen im Mobilitätsverbund sowie Vorschläge zur Förderung des Gehens in der Rechtsordnung Österreichs. Von den genannten Themen nehmen die Sicherheitsbelange auch im Zusammenhang mit Kosten und Nutzen konkreter sicherheitsfördernder, sowie rechtliche Maßnahmen zur Förderung des Fussverkehrs einen recht großen Raum ein.
161 von 182 jährlich getöteten Fussgängern in Österreich könnten noch leben, wenn ein vom VCÖ vorgeschlagenes Bündel von Maßnahmen umgesetzt würde. Besonders wirkungsvoll wären Maßnahmen, die an der Organisation des Kfz-Verkehrs ansetzen: eine verbessserte mehrphasige Fahrausbildung, ein Alkohol-Limit von 0,0 Promille, die risikoabhängige Bemessung und Besteuerung von Versicherungsprämien, der Punkteführerschein sowie der Abbau bestehender Förderungen zu Gunsten des Kfz-Verkehrs (Beitrag: 61 Getötete pro Jahr weniger). In der Wirkung an zweiter Stelle steht die Geschwindigkeitsreduktion auf Tempo 30/80/100 (41 Getötete weniger). Eine fast gleiche Wirkungsstärke hätten verkehrstechnische Schritte, wie z.B. Querungshilfen, das Freihalten von Sichtbereichen bei Kreuzungen, Umgehungsstraßen in kleineren Ortschaften (insgesamt 36 Getötete weniger). Rechtliche Änderungen zu Gunsten von Fussgängern (12 Getötete weniger) und fahrzeugtechnische Maßnahmen (11 Getötete weniger) wären ergänzend sinnvoll. Neben einer Rettung von Menschenleben wären nach den VCÖ-Berechnungen 3.896 der 4.427 in Österreich verletzten Fussgänger bei Umsetzung dieser Sicherheitsregelungen gar nicht verletzt worden. 760 Mio. Euro an materiellen und immateriellen volkswirtschaftlichen Schäden wären vermieden worden.
Eine Kosten-Nutzen-Betrachtung wird für Tempolimits im Ortsgebiet vorgenommen. Dabei zeigt sich, dass private Haushalte und Unternehmen (Produktionssektor) aus einem Tempo 30-Limit auf Bundes-, Landes- und Gemeindestraßen im Ortsgebiet einen fast zehnmal höheren Nutzen ziehen als die entsprechenden Kosten der Maßnahmen. Der rechtliche Spielraum für örtliche Tempolimits besteht in Österreich, denn die Anordnung auf den Gemeindestraßen im gesamten Ortsgebiet oder in Form von Tempo-30-Zonen liegt seit 1994 in der Kompetenz der Bürgermeister. In mehreren österreichischen Bundesländern liegen Beispiele für die Einbindung von Hauptstraßen in die örtliche Tempo-30-Regelung vor.
Bei beschränkten Platzverhältnissen (z.B. in historischen Stadtkernen) werden unter anderem vorgeschlagen: ein asphaltierter Streifen für ein Fahrzeug in Kombination mit einer gepflasterten Mischfläche; die Reduktion der Fahrbahn auf einen Fahrstreifen (abschnittsweise oder auf längerer Strecke mit Ausweichstellen); eine aufgepflasterte Mischfläche über die ganze Straßenbreite. Eine Mischnutzung auf Mischflächen muss allerdings in Österreich noch legalisiert werden. Erforderlich ist dann nach dem VCÖ-Vorschlag ein neuer Passus in der StVO, der Fahrzeuglenker dazu anhält, Fussgänger auf Straßen ohne Gehsteig nicht zu gefährden.
Zur Förderung des Gehkomforts gehören für den VCÖ neben einer ausreichenden Beleuchtung (für ein angstfreies Gehen) auch verschiedene Maßnahmen zum Schutz vor Niederschlägen (z.B. mit Arkaden), vor Sonne, Wind und Spritzwasser (ausreichend breite Gehwege).
Im Themenblock zu den rechlichen Regelungen wird eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht, so unter anderem: ein Vorbeifahrverbot an öffentlichen Verkehrsmitteln an Haltestellen, ein generelles Tempo von 30 km/h in Ortsgebieten, ein Überholverbot im Ortsgebiet, ein Halte- und Parkverbot von 10 m vor querenden und einmündenden Strassen (anstatt 5 m), eine explizit formulierte Verhaltensnorm zum Schild „Achtung Kinder“, eine Gefährdungshaftung des Kfz-Halters bei Verkehrsunfällen mit Beteiligung von Fussgängern und Radfahrern anstelle der Schuldteilung, wie sie bei der Bemessung des Schadenersatzanspruchs angewandt wird, Vortritt von Gehenden gegenüber anhaltenden Fahrzeugen, klarere Bestimmungen zum Vortritt von Gehenden gegenüber abbiegenden oder den Gehweg kreuzenden Fahrzeugen, ein klares Vortrittsrecht von Fussgängern auf Zebrastreifen (Schutzwegen), das Recht für Mobilitätsbehinderte, die Fahrbahn auch bei vorhandenen Unterführungen (mit Gebotszeichen) zu queren sowie die Bezeichnung von Wohnstrassen als Mischzonen und eine klare Definition von Mischflächen.
Die Veröffentlichung ergänzt das noch stärker verkehrsplanerisch ausgerichtete Standardwerk „Vorrang für Fussgänger“ gut. Es wendet sich vor allem an verkehrspolitisch engagierte Leser. Jedes Einzelthema wird auf einer bis drei Seiten sehr anschaulich dargestellt. Der Einbezug der verkehrsrechtlichen Fragen ist als Vorteil anzusehen, weil auf dieser Ebene noch viele Diskussionen zu führen sein werden. Die offizielle Unterstützung der Studie durch ein Bundesministerium, zwei Bundesländer, sechs Landeshauptstädte und weitere Gemeinden ist - zumindest für deutsche Verhältnisse - erstaunlich und dürfte die Verbreitung der Vorschläge in Österreich fördern. Gemäß der Zielsetzung des Buchs können einzelne, für Fussgänger möglicherweise problematische Planungen allerdings nicht vertieft diskutiert werden: so z.B. die befürworteten Mini-Kreisverkehre (13-25 m Durchmesser) und die potenziell problematischen Mischflächen. Auch wurden insgesamt nur wenige neuere Quellen der Forschung ausgewertet.
Sicher gehen in Stadt und Dorf. VCÖ-Schriftenreihe Wissenschaft & Verkehr, Band 2/2001. Wien 2001, 52 Seiten
Susanne Hitter-Fertl, Gernot Maierbrugger, Dr. Willi Nowak, Dr. Christoph Thomas
VCÖ, Bräuhausgasse 7-9, A-1050 Wien, Tel. 0043 1 893 26 97, Fax: 1 893 24 31, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! Preis: 15 Euro
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, September 2001. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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