Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 40/2004
In der Verkehrsplanung nimmt man an, dass das Schaffen fußgängerfreundlicher Strukturen in Wohnquartieren die Bewohner dazu motiviert, mehr zu Fuß zu gehen und dadurch auch intensivere Nachbarschaftsbeziehungen zustande kommen. Empirische Untersuchungen zu diesen vermuteten Zusammenhängen gibt es wenige. Eine neuere US amerikanische Studie von Hollie Lund behandelt eingehend dieses Thema, das in der Planungsdiskussion mindestens in den USA eine gewisse Bedeutung hat, denn das Leitbild des "New Urbanism" (Neue Urbanität) propagiert als Planungselement unter anderem die Schaffung kompakter, begehbarer Wohnquartiere und setzt dies auch beim Bau von Mustersiedlungen um.
Hollie Lund gründet ihre empirischen Arbeiten auf schriftliche Haushaltsbefragungen in vier städtischen und vier suburbanen Einfamilienhausquartieren im Metropolitanraum von Portland (USA). In diesen Quartieren bestehen unterschiedlich gute Erreichbarkeiten von Parks und Einkaufsgelegenheiten; als gut gilt, wenn das Ziel max. 400 m entfernt ist. Untersucht werden die Einflüsse des Faktors Erreichbarkeit, der subjektiven Bewertungen der Quartiere und sozioökonomischer Merkmale der Befragten einerseits auf die Häufigkeit des Zufußgehens innerhalb einer Woche und andererseits auf die Intensität der Nachbarschaftsbeziehungen.
Beim Zufußgehen wird zwischen dem gezielten Aufsuchen von Gelegenheiten und nicht-zielgerichteten, spontanen Wegen unterschieden. Nachbarschaftsbeziehungen werden über die Häufigkeit des zufälligen Zusammentreffens mit Nachbarn, die Anzahl Bekanntschaften im Quartier und ausgeübte Hilfeleistungen abgebildet.
Häufigkeit des Zufußgehens: Die Anzahl zielgerichteter Fußwege hängt positiv mit der Erreichbarkeit von Einzelhandelsgelegenheiten zusammen, die Hypothesen kann also bestätigt werden. Starken Einfluss hat aber auch, ob die Befragten dem Zufußgehen eine hohe persönliche Wichtigkeit beimessen. Die Erreichbarkeit von Parks hat dagegen keinen Einfluss auf die wöchentliche Häufigkeit zielgerichteter Fußwege. Die Anzahl nichtzielgerichteter Fußwege steht in keinem Zusammenhang mit den Erreichbarkeiten im Quartier. Dieses Verhalten kann zudem auch mit den anderen einbezogenen Variablen kaum statistisch erklärt werden, ist also auf andere Faktoren zurückzuführen.
Häufigkeit von Nachbarschaftsbeziehungen: Die Häufigkeiten von Treffen mit anderen Quartierbewohnern steigt mit einer guten Erreichbarkeiten von Parks, hingt aber nicht mit der Erreichbarkeit von Läden zusammen. Sie steigt erwartungsgemäß stark bei Personen, die häufiger zu Fuß im Quartier unterwegs sind. Die Anzahl von Bekanntschaften in der unmittelbaren Nachbarschaft hat nichts mit den Erreichbarkeiten zu tun, sondern vor allem mit sozioökonomischen Merkmalen der Person und geringfügig mit der Häufigkeit, mit der sich jemand nichtzielgerichtet zu Fuß im Quartier bewegt. Die Anzahl von Hilfeleistungen im Quartier hängt positiv nur mit der innerstädtischen Erreichbarkeit von Läden zusammen. Alle drei soziale Interaktionen sind häufiger, wenn Kinder im Haushalt vorkommen und als starker Faktor , wenn den Befragten die Nachbarschaftsbeziehungen im Quartier persönlich sehr wichtig sind. Wenn die Befragten die Bedingungen für das Gehen im Quartier subjektiv als positiv bewerten, hat das einen gering positiven Einfluss auf die Häufigkeit von sozialen Interaktionen und auf die Fußwegeanzahl.
Die Analysen unterstützen die These, dass die Erreichbarkeitsverhältnisse, also planbare Bedingungen, mit der Häufigkeit von zielbezogenen Fußwegen insbesondere zum Einkaufen zusammen hängen. Diese Zusammenhänge sind nicht so stark wie die zwischen Einstellungen sowie sozioökonomischen Merkmalen und dem Verhalten. Schon eine positive Einstellung dem Gehen gegenüber wie stark auf die Häufigkeit des Zufußgehens. Unterstützt wird das Gehen noch, wenn die Gehumgebung von den Bewohnern im Hinblick auf Komfort und soziale Sicherheit subjektiv gut bewertet wird.
Die Möglichkeit, intensive Nachbarschaftsbeziehungen hauptsächlich mit Stadtteilplanung erreichen zu wollen, sind aus Sicht der Autorin geringer als von Seiten des New Urbanism behauptet wird. Diese Interaktionen hängen zwar geringfügig mit der Häufigkeit zusammen, mit der die Quartierbewohner nicht zielgerichtet zu Fuß unterwegs sind, gerade diese Wege sind aber nach den Analysen kaum planerisch zu beeinflussen, sondern entstehen aus anderen Bedingungen heraus. Lediglich in städtischen Quartieren sind Zusammenhänge zwischen sozialen Hilfsleistungen und der Erreichbarkeit von Einkaufsläden feststellbar, weil eventuell die hier im Vergleich zu den Vorstädten kleineren Läden die Nachbarschaftsbeziehungen fördern.
Für die Planung lassen sich aus der Studie folgende Schlüsse ziehen: Durch das Schaffen einer guten fußläufigen Erreichbarkeit von Einkaufszielen lässt sich die Häufigkeit der Einkaufswege zu Fuß steigern. Wenn das Wohnumfeld zusätzlich von Bewohnern als fußgängerfreundlich bewertet wird, fördert dies noch einmal das Gehen. Zudem besteht Aussicht, mittelfristig jene Personen anzuziehen, denen das Gehen an sich sehr wichtig ist, was den Fußverkehr im Quartier dann noch einmal steigert.
Die Chancen, allein mit Verbesserung der Erreichbarkeiten Nochbarschaftsbeziehungen im Quartier intensivieren zu wollen, sind demgegenüber als gering einzustufen. Der Wert der Untersuchung liegt einerseits in dem systematischen Einbezug verschiedener möglicher Einflussfaktoren auf das Mobilitätsverhalten im Rahmen multivariater statistischer Analysemodelle, die die relative Wirkungskraft der einzelnen Einflussfaktoren aufzeigen; zum anderen in der Analyse auch der sozialen Aktivitäten in der Wohnumgebung. Die Studie ist auf Einfamilienhausquartiere der weißen Mittelschicht bezogen und hat daher einen engen kulturellen Kontext, was die Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse erschwert.
Testing the claims of New Urbanism. Local Access, pedestrian travel, and Neighboring behaviors
Hollie Lund
Artikel in: Journal of the American Planning Association, Vol. 69, No. 4, 2003, S. 414 429. Vortragsfassung unter: www.asu.edu/cced/proceedings0I/PERSON/person.htm
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, September 2004. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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