Aufgrund der Alterung der Gesellschaft rückt die Gruppe der SeniorInnen zunehmend in den Blickpunkt der Mobilitätsforschung; von Jüngeren unterscheiden sie sich im Verkehrsverhalten insbesondere aufgrund der wegfallenden Berufstätigkeit sowie altersbedingt zunehmenden körperlichen Einschränkungen. Gleichzeitig führen eine höhere Pkw-Verfügbarkeit und veränderte Lebensstile der so genannten „jungen Alten“ zu höheren Mobilitätsraten gegenüber früher. Unterschiede innerhalb der wachsenden Gruppe der älteren Menschen zu erforschen und aufzuzeigen, war das Ziel des 2009 begonnenen ILS-Projekts „Segmentierung von Senioren zur Entwicklung zielgruppenspezifischer Mobilitätsangebote“.
Während SeniorInnen derzeit einen höheren Anteil ihrer Wege zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen als jüngere Erwachsene (z. B. BMVBS 2010), werden in Zukunft immer mehr ältere Menschen – insbesondere Frauen – einen Führerschein besitzen und über einen Pkw verfügen können. Dies wird schon heute bei einem Vergleich der verschiedenen Altersgruppen von SeniorInnen deutlich: bei den über 80-Jährigen zeigen sich noch sehr ausgeprägte Geschlechterunterschiede im Führerscheinbesitz, in den jüngeren Segmenten sind diese deutlich geringer.
Obwohl eine negative Korrelation zwischen dem Lebensalter und der Anzahl der zurückgelegten Wege besteht (z. B. Páez et. al., 2007) sind ältere Menschen aufgrund eines veränderten Lebensstils und besserer Gesundheit mobiler. Dabei nehmen insbesondere Freizeit- und soziale Aktivitäten zu.
Im Hinblick auf die Verkehrssicherheit und die Umwelt hat zu erwartende wachsende Anzahl älterer Pkw-FahrerInnen Konsequenzen. Programme zur Verbesserung des Fahrvermögens und zur Steigerung des Bewusstseins für die speziellen Anforderungen, denen sich SeniorInnen beim Fahren gegenüber sehen werden genauso entwickelt wie Automobile, die den besonderen Bedürfnissen älterer Menschen gerecht werden. Benötigt werden jedoch auch Maßnahmen, die eine umweltfreundliche Alternative zum Pkw darstellen und dennoch die Mobilitätsoptionen verbessern. Dabei stellt der barrierefreie Zugang zum ÖV zwar eine notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Bedingung dar. Damit die Entwicklung und Implementierung von (neuen) Mobilitätsangeboten den zunehmend heterogenen Bedürfnissen älterer Menschen auch gerecht werden kann, bedarf es einer genauen Differenzierung der möglichen Zielgruppen.
Auf Grundlage einer telefonischen Befragung von 1.500 älteren Menschen (ab 60 Jahre) aus NRW wurden das Mobilitätsverhalten und potenzielle Einflussfaktoren hierauf erhoben. Erfasst wurden dabei sowohl Aspekte der persönlichen Lebenssituation als auch räumliche und infrastrukturelle Voraussetzungen sowie mobilitätsbezogene Einstellungen.
Das Mobilitätsverhalten wurde erhoben, indem die SeniorInnen zu 16 möglichen Arten von Aktivitäten (Freizeitaktivitäten, Erwerbs-/ Reproduktionsarbeit, Einkaufen/private Erledigungen), zu deren Häufigkeit und zur jeweiligen Verkehrsmittelwahl befragt wurden.
Die TeilnehmerInnen waren im Durchschnitt 71,4 Jahre alt; knapp 60 % waren Frauen. Die Stichprobe ist repräsentativ für die ältere Bevölkerung im Hinblick auf soziodemografische Daten wie Geschlecht und Siedlungsstruktur der Gemeinden. Das Bildungsniveau ist überdurchschnittlich hoch (26,9 % Abitur/Studium), was sich auf eine generell erhöhte Teilnahmebereitschaft höher gebildeter Menschen an wissenschaftlichen Studien zurückführen lässt.
Auf Grundlage der Befragung konnten in zwei Schritten vier verschiedene Mobilitätstypen herausgearbeitet werden. Zunächst wurden die Faktoren mit der höchsten Vorhersagekraft in Bezug auf das Mobilitätsverhalten ermittelt. Im zweiten Schritt wurden auf Basis dieser stärksten Einflussfaktoren Clusteranalysen durchgeführt, deren Ziel es war, weitgehend homogene Teilgruppen älterer Menschen zu bilden, die sich in den für das Mobilitätsverhalten relevanten Merkmalen – und damit auch im Mobilitätsverhalten selbst – möglichst stark unterscheiden. Die resultierenden Mobilitätstypen (Segmente) wurden „Pkw-Fixierte“ (Anteil: 19%), „Junge wohlhabende Mobile“ (27%), „Selbstbestimmt Mobile“ (29%) und „ÖV-Zwangsnutzer“ (25%) genannt.
Die „Pkw-Fixierten“ verfügen häufig über einen privaten Pkw und bewerten diesen am positivsten im Hinblick auf dessen affektiv-symbolische Funktion. Bemerkenswert ist ihre negative Bewertung gegenüber dem Umweltverbund. Der Pkw-Anteil ihrer Wege ist im Vergleich zu den anderen Mobilitätstypen am höchsten, der Anteil der Fuß- und Fahrrad-Wege am niedrigsten. Drei Viertel von ihnen fahren nie mit dem Fahrrad; über die Hälfte fährt nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln (vgl. Abb. 3 und 4). Pkw-Fixierte sind häufig von ihrem Pkw abhängig, da sie in der Regel weniger zentral wohnen oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten haben, öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu nutzen.
Interessant ist, dass sie trotzdem keine überdurchschnittlich große Distanz pro Jahr mit dem Auto zurücklegen, was damit zusammenhängen könnte, dass sie sich in eher kleineren sozialen Netzen bewegen und dass sie verglichen mit den anderen Gruppen weniger aktiv sind. 57 % der Pkw-Fixierten sind Frauen; das entspricht in etwa der Verteilung in der Gesamtstichprobe. Sie sind mit 74,5 Jahren überdurchschnittlich alt und haben häufiger eine ihre Mobilität einschränkende Behinderung: 45 % zu 23 % in der Gesamtstichprobe, auch schätzen sie ihren Gesundheitszustand schlechter ein. Sie weisen ein geringeres Bildungsniveau und Nettoeinkommen auf und leben häufiger allein. Insgesamt zeigen sie die geringsten Zufriedenheitswerte bezüglich ihrer Mobilitätsmöglichkeiten.
Fast alle „Jungen wohlhabenden Mobilen“ verfügen über einen Pkw und mehr als die Hälfte von ihnen legt damit jährlich über 10.000 km zurück. Charakteristisch für sie ist ein hohes subjektives Mobilitätsbedürfnis. Sie wohnen eher am Stadtrand oder in den Vororten. 20 % aus dieser Gruppe sind noch berufstätig (Gesamtstichprobe 9 %) und bezüglich ihrer Freizeitaktivitäten sehr aktiv. Sie erleben ihre ÖV-Nutzungsmöglichkeiten als eingeschränkt und nutzen öffentliche Verkehrsmittel auch entsprechend selten. Die anderen Verkehrsmittel bewerten sie jedoch durchschnittlich. Im Sommer nutzen mehr als 60 % das Fahrrad mindestens einmal wöchentlich, allerdings eher für Freizeit- als für Arbeitswege (vgl. Abb. 4).
Dem Zu-Fuß-Gehen wird von den „Jungen wohlhabenden Mobilen“ eine eher geringe Bedeutung beigemessen. Der Männeranteil ist in dieser Gruppe überdurchschnittlich hoch (51 % zu 41 %) und sie sind mit durchschnittlich 68 Jahren die jüngste Gruppe. Ihr Nettoeinkommen und Bildungsniveau liegen deutlich über dem der anderen Gruppen. Sie leben häufig (73 %) in festen Partnerschaften, nur zu einem kleineren Anteil (19 %) allein. Zugleich ist dieses Segment für neue Kommunikationsmittel am ehesten aufgeschlossen: 90 % dieser Gruppe verfügen über ein Mobiltelefon, 72 % über einen Internetanschluss.
Sie ähneln in vielerlei Hinsicht den „Jungen wohlhabenden Mobilen“. Sie empfinden jedoch keine ausgeprägte Notwendigkeit, ständig mobil zu sein. Sie haben einen guten Zugang sowohl zum Pkw als auch zum ÖV und weisen eine durchschnittliche Pkw-Bewertung auf. Dabei fasst Pkw-Bewertung zusammen, wie positiv die Aspekte Erlebnis, Autonomie und Privatheit beim Autofahren bewertet werden.
Die „Selbstbestimmt Mobilen“ weisen die positivste Einstellung gegenüber dem Radfahren und Zu-Fuß-Gehen auf. Von ihnen wird kein Verkehrsmittel ausgeschlossen und sie sind auch von keinem Verkehrsmittel abhängig. Sie sind, wie die „Jungen wohlhabenden Mobilen“, eher Männer, jünger als der Durchschnitt und leben häufiger in Paarhaushalten. Sie erfreuen sich einer relativ guten Gesundheit, haben nur selten ein Handicap und sind ziemlich aktiv. Die „Selbstbestimmt Mobilen“ erreichen die höchsten Zufriedenheitswerte bezüglich ihrer Mobilitätsmöglichkeiten und unterscheiden sich in dieser Hinsicht signifikant von den drei anderen Gruppen.
„ÖV-Zwangsnutzer“ verfügen am seltensten über ein Auto; nur ein Drittel von ihnen besitzt überhaupt einen Führerschein. Ihre Einstellung dem Pkw gegenüber ist vergleichsweise negativ, während das Radfahren und das Zufußgehen eher durchschnittlich beurteilt werden. Der Anteil der Fußwege ist bei ihnen mit einem Drittel bis zur Hälfte (je nach Wegetyp) am höchsten. Sie absolvieren anteilsmäßig die wenigsten Wege mit dem Pkw und die meisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Mehr als die Hälfte aller Befragten nutzt den ÖV mindestens einmal wöchentlich (vgl. Abb. 3). Sie empfinden die höchste ÖV-Autonomie und die ÖV-Nutzung als einfach. „ÖV-Zwangsnutzer“ wohnen (auch wegen des fehlenden Pkw) eher innenstadtnah und profitieren von einer guten ÖV-Anbindung. Mit 83 % sind Frauen in diesem Segment stark überrepräsentiert. Verglichen mit den anderen Mobilitätstypen zeichnen sie sich wie die „Pkw-Fixierten“ durch ein höheres Alter, ein geringeres Bildungsniveau und ein geringeres Einkommen aus. Sie sind außerdem häufiger durch Behinderungen in ihrer Mobilität eingeschränkt, wohnen häufiger allein und haben weniger Kontakt zu Freunden und Verwandten. Dennoch sind die „ÖV-Zwangsnutzer“ aktiver und mit ihren Mobilitätsmöglichkeiten zufriedener als die „Pkw-Fixierten“.
Das Wissen über die verschiedenen Nutzungsvoraussetzungen, die unterschiedlichen Mobilitätseinstellungen und das spezifische Mobilitätsverhalten gibt Aufschluss darüber, welche Angebote für die einzelnen Typen am ehesten attraktiv sein könnten.
Die negative Einstellung der „Pkw-Fixierten“ gegenüber anderen Verkehrsmitteln sowie ihre gesundheitlichen Restriktionen und ihre eher suburbanen Wohnstandorte erschweren eine Veränderung ihrer Verkehrsmittelwahl. Hier sind kompensierende Mobilitätsdienstleistungen, wie Lieferdienste oder Begleitservices bei der ÖV-Nutzung angemessen. Allerdings scheint es auf die Zukunft bezogen wichtiger und erfolgversprechender zu sein, rechtzeitig einzugreifen, um zu verhindern, dass sich dieser Mobilitätstyp herausbildet, da dieser sich als der am meisten benachteiligte/ eingeschränkte herausstellt. Als präventive Maßnahmen könnten gesundheitsbezogene Aufklärungskampagnen dienen. Weiterhin scheinen Maßnahmen, die städtebaulich gestaltend das Wohnumfeld verbessern oder die ältere Menschen zum Umzug in zentralere Lagen bewegen sinnvoll. All diese Maßnahmen sollten jedoch ergriffen werden, bevor Menschen alt, körperlich beeinträchtigt und unflexibel werden.
Da von den „Jungen wohlhabenden Mobilen“ alle Fortbewegungsarten relativ gut bewertet werden, scheint ein Wechsel zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln hier deutlich realistischer. Für kurze Wege könnten technisch hochwertige Fahrräder in diesem Segment beworben werden. Für längere Wege ins Stadtzentrum und in Nachbarstädte könnten öffentliche Verkehrsmittel durchaus eine Alternative zum Automobil darstellen, wenn die ÖV-Nutzung flexibler wäre (z. B. durch die Einführung eines elektronischen Tickets). Der hohe Anteil von Internetnutzern deutet auf eine Offenheit gegenüber neuen Technologien hin.
Die „Selbstbestimmt Mobilen“ weisen wegen ihrer positiven Sicht auf das Zufußgehen und Radfahren sowie einer hohen „ÖV Autonomie“ und eher gering wahrgenommenen Mobilitätserfordernisse die besten Voraussetzungen für eine freiwillige Verlagerung vom Pkw hin zu anderen Verkehrsmitteln auf. Aufklärungskampagnen, die die gesundheitlichen und umweltbezogenen Vorzüge anderer Fortbewegungsarten hervorheben, könnten diesen Mobilitätstyp positiv bestärken. Darüber hinaus erscheinen sie aus finanziellen und ökologischen Gründen eine passende Zielgruppe für Car-Sharing zu sein.
Unter den „ÖV-Zwangsnutzern“ schließlich haben die meisten keine andere Wahl, als umweltfreundliche Verkehrsmittel zu nutzen. Da sie in der Regel zentral leben, scheint das kein Problem darzustellen. Verglichen mit „Pkw-Fixierten“ weisen sie einen deutlich höheren Grad an Freizeitmobilität auf, obwohl beide Gruppen ungefähr gleich alt sind. Dafür scheinen die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Zufußgehen und Radfahren, die signifikante Indikatoren für die Anzahl der Freizeitaktivitäten sind, eine Rolle zu spielen, was auch erklären könnte, warum „ÖV-Zwangsnutzer“ im Durchschnitt weniger gesundheitliche Probleme haben als die „Pkw-Fixierten“.
Die Ergebnisse zeigen, dass auch ältere Menschen eine heterogene Gruppe sind und dass ihr Mobilitätsverhalten viele verschiedene Facetten hat. Neben den Einstellungen ist auch die Erreichbarkeit der wichtigsten Einrichtungen für ältere Menschen eine Schlüsselvariable, um mobil zu bleiben, was eine Voraussetzung für hohe Lebensqualität darstellt.
Der hier verwendete Segmentierungsansatz, der sowohl Einstellungen als auch typenkonstituierende Variablen beinhaltet, liefert wichtige Informationen für verschiedene Aspekte des Mobilitätsverhaltens. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass eine hohe Pkw-Abhängigkeit mit einer geringeren Zufriedenheit mit anderen Mobilitätsoptionen und einem relativ schlechten Gesundheitszustand einhergeht, wenngleich die Frage nach Ursache und Wirkung nicht mithilfe von Korrelationsdaten geklärt werden kann. Längsschnittuntersuchungen könnten in Zukunft Auskunft darüber geben, wie beständig diese Mobilitätstypen sind und inwiefern gesundheitliche Einschränkungen aus spezifischen Mobilitätsstrukturen (wie z. B. einer ausschließlichen Nutzung des Pkw) folgen oder umgekehrt.
Vier Mobilitätstypen konnten bei den SeniorInnen herausgearbeitet werden, mit unterschiedlichen Einstellungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten bei der mobilen Teilhabe. Will man das mobile Verhalten beeinflussen bzw. verbessern, muss an den Wertevorstellungen und Möglichkeiten der jeweiligen Zielgruppe spezifisch angesetzt werden.
Dieser Artikel von Mechtild Stiewe, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im ILS Institut für Landes-und Stadtentwicklungsforschung, Dortmund, ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.
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