Die räumliche Entwicklung ist geprägt durch anhaltenden „Flächenverbrauch“ für Siedlungs- und Verkehrszwecke, durch Auflösung und funktionale Entmischung bisher noch kompakter Stadtstrukturen, durch Verkehrswachstum und durch damit verbundene Umweltbelastungen.
Diese Entwicklung ist nur in geringem Maße auf Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum zurückzuführen. Sie ist bedingt durch veränderte Lebens- und Wirtschaftsformen und hauptsächlich bedingt durch veränderte Verkehrsformen. Dabei hängen Siedlungsdispersion, Entmischungsprozesse und Wachstum des flächenaufwändigen motorisierten Individualverkehrs eng miteinander zusammen. Aufgelockerte Siedlungsstruktur geht zwangsläufig mit einer Zunahme des motorisierten Individualverkehrs einher; durch die Dominanz des Autoverkehrs wird eine weitere Ausdehnung der Siedlungsflächen in die Landschaft hinaus gefördert. Die Folge sind immense Störungen und Umweltbelastungen durch den Autoverkehr, die wiederum zu neuer „Stadtflucht“ beitragen.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass eine solche Entwicklung nicht dauerhaft umweltverträglich und wirtschaftlich ist. Sie geht außerdem einher mit Verlusten an traditioneller Stadtstruktur und an Stadtkultur und damit an permanenter Verschlechterung der Bedingungen für den Umweltverbund im Verkehr, insbesondere den Fußverkehr. Wer den Fußverkehr fördern will, kann sich also nicht auf Regelungen im Verkehr beschränken, er muss bereits bei der Stadtentwicklung anfangen. Hier gilt es zunächst, die wichtigsten Ursachen der bisherigen Fehlentwicklung zu erkennen und Alternativen aufzuzeigen.
Eine wesentliche Ursache der flächenaufwändigen, dispersen Siedlungsentwicklung ist m.E. die ausgesprochene oder nicht ausgesprochene Leitvorstellung auto-orientierten Verkehrs- und Städtebaus, die seit den 50er Jahren, z.T. bereits seit Mitte der 30er Jahre, wirksam ist und auch derzeit noch nicht ganz überwunden scheint. Auf eine solche Analyse gehe ich zunächst ein, sowie auf eine These, welche etwa lautet, Tendenzen der Disurbanisierung seien globaler „mainstream“ und damit ohnehin kaum beeinflussbar.
Strukturelemente der Fußgänger- und ÖPNV-Stadt, der kompakten Stadt, der traditionellen europäischen Stadt unterscheiden sich in der Anordnung von Straße und Haus, der Gestaltung von Baublock und Quartier, der Trennung von öffentlichem und privatem Raum, der Art des Straßennetzes, der Dichte, Nutzungsmischung, bis zur Stadtform und Flächenausdehnung etc. fundamental von denen der autoorientierten Stadt bzw. Siedlungsdispersion (siehe Übersicht 1).
Übersicht 1: Strukturelemente der Stadt in unterschiedlicher Ausprägung
Geeignetster Indikator für den Grad der Autoorientierung bzw. der Fußgängerorientierung einer Stadt ist die spezifische Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke. Flächenbedarf gilt darüber hinaus in der Literatur als ein Schlüsselindikator einer insgesamt nachhaltigen Stadtentwicklung. Während der Städtebau (bis etwa 1920) in der europäischen Stadt zu Strukturen führte , die derzeit eine spezifische Siedlungs- und Verkehrsfläche von rund 90 qm pro Einwohner benötigt, haben kleinere Gemeinden in der Stadtregion, die vorwiegend durch (autoorientierten) Nachkriegsneubau geprägt sind, einen spezifischen Flächenbedarf von rund 600qm pro Einwohner.
Davon sind rund 200qm/E Verkehrsfläche; in den Gründerzeitvierteln der Stadt Hannover dagegen nur 20qm/E. Dieser enorme „Flächenverbrauch“ des autoorientierten Verkehrs- und Städtebaus ist also erstens bedingt durch sehr großen spezifischen Flächenbedarf des Autoverkehrs selbst im Vergleich mit dem „ Umweltverbund“. Zweitens begünstigt ein autodominiertes Verkehrssystem Strukturen und Nutzungstypen geringer Dichte.
Selbstverständlich haben diese großen Differenzen zwischen Gründerzeit-Städtebau und autoorientiertem Städtebau auch noch andere Ursachen, zum Beispiel das enorme Bodenpreisgefälle zwischen Innenstadt und Peripherie, das kaum zum sparsamen Umgang mit Bodenflächen an der Peripherie veranlasst. Es werden daher im Folgenden nicht Innenstadt und Peripherie, sondern Städte, bzw. Stadtregionen unterschiedlichen Typs miteinander verglichen, wo unterschiedliche Bodenpreisniveaus zwischen den Städten keine wesentliche Rolle spielen. Dieser Vergleich kann verdeutlichen, dass für größeren „Flächenverbrauch“ im Wesentlichen die Ausrichtung des Städtebaus auf Erschließung durch Autoverkehr ursächlich ist.
Ausgewählt wurden erstens eine auch für europäische Maßstäbe vergleichsweise dicht bebaute Stadt mit kompakter Stadtform, eine Universitätsstadt mit nahezu 100.000 Einwohnern, in der das dominante Verkehrsmittel auch heute noch bzw. wieder verstärkt das Fahrrad ist: die Stadt Delft in den Niederlanden. Zweitens wurde ebenfalls eine kleine Universitätsstadt mit Fahrradverkehrstradition ausgewählt, die aber bereits in den vergangenen fünf Jahrzehnten deutlich stärker autoangepasst entwickelt wurde und in der die bauliche Dichte merklich geringer ist: die Stadt Oldenburg in Niedersachsen. Drittens wurde eine stark autoorientierte Stadt geringer Dichte aus den USA ausgewählt: die Stadt Denver / Colorado. Die im Durchschnitt in Anspruch genommene Siedlungs- und Verkehrsfläche pro Einwohner ist für den Stadttyp Oldenburg bereits rund 60 Prozent größer als in Delft und in Denver nahezu viermal so groß wie in Delft. Der starke Zusammenhang zwischen Flächenbedarf und Verkehrssystem ist deutlich. In Delft werden 70 Prozent aller Wege der Einwohner mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß zurückgelegt, in Oldenburg sind es nur rund 50 Prozent, in Denver sind rund 85 Prozent aller Ortsveränderungen Fahrten mit dem Pkw.
Etwa die gleichen Ergebnisse ergeben sich, wenn man die Stadt Delft austauscht durch die Stadt/Region Bern (Schweiz) als eine ebenfalls noch relativ kompakte Stadt, aber mit starker ÖPNV- und Fußverkehrs-Orientierung. Auch hier ist die spezifische Siedlungs- und Verkehrsfläche in qm/Einwohner der autoorientierten Stadt Denver rund viermal so groß wie in der Fußverkehrsstadt Bern.
Diese Beispiele, die zeigen, dass selbst unter europäischen Städten bei etwa gleichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen sich deutlich unterschiedliche Strukturen herausgebildet haben, machen schon deutlich, dass Stadt- und Verkehrsentwicklung nicht nur globalen Trends folgt, sondern auch steuerbar ist. Man könnte weitere Beispiele nennen, wie Amsterdam, Kopenhagen, Zürich und etliche italienische Städte, die noch eine relativ kompakte Struktur erhalten oder wieder entwickelt haben und damit stärker als die durchschnittliche europäische Stadt Fußverkehrsstädte sind. Auch zeigt die Geschichte der 50jährigen Nachkriegsentwicklung , dass sie durch staatliche Politik erheblich geprägt wurde. So ist die private Motorisierung nicht nur Ergebnis wachsenden Wohlstands gewesen, sondern durch einseitige Investitionspolitik des Staates und der Kommunen unter Vernachlässigung des Schienenverkehrs und durch einseitige Wohnungs- und Städtebaupolitik (vorrangige Eigenheimförderung) enorm gefördert worden und damit auch die Suburbanisierung in nicht bahnorientierter Form. So bestehen noch bis heute steuerliche Regelungen und einzelne Förderinstrumente, die weiterhin Suburbanisierung und Wachstum des motorisierten Individualverkehrs fördern, anstatt kommunale Bestrebungen zur verstärkten Innenentwicklung und zur Stärkung des „Umweltverbunds“ zu unterstützen.
Solche überholten staatlichen Rahmenbedingungen gilt es vorrangig zu reformieren, wenn kommunale und regionale Strategien für eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung nicht erfolglos bleiben sollen. Auf solche Reformen konzentriere ich mich im Folgenden.
In der Wohnungspolitik zum Beispiel besteht Reformbedarf vor allem bei der Wohneigentumsförderung. Diese sollte so differenziert werden, dass z.B. flächensparende Bauformen stärker gefördert werden und der Erwerb von Eigentum im Bestand gegenüber dem Neubau mindestens gleichrangig behandelt wird. Der Bau von Wohneigentum in innenstadtnaher Lage oder auf städtischen Brachflächen , der in der Regel durch hohe Bodenpreise und/oder „Altlasten“ erschwert wird, sollte stärker gefördert werden als Wohnungsbau an anderen Standorten. Standorte ohne gute Einbindung in den „Umweltverbund“ sollten nicht gefördert werden.
Eben sowie die Wohnungspolitik ist auch die regionale Strukturpolitik so zu gestalten, dass sie neben den wirtschaftspolitischen Belangen auch siedlungs- und verkehrspolitische Ziele fördert. Neben der Konzentration von Fördermitteln auf Siedlungsschwerpunkte sollte eine zusätzliche Staffelung der Förderquoten eingeführt werden, um flächensparende Alternativen zur bisherigen Praxis überdurchschnittlich fördern zu können, wie z.B. gewerblichen Stockwerksbau, Bestandsentwicklung, Gleisanschluss und Nahverkehrsausbau.
Die Neugestaltung der Grundsteuer, die z.Zt. von Bundes- und Landesbehörden und den kommunalen Spitzenverbänden erörtert wird, stellt eine Chance dar, das Bodenrecht mit einer ökologischen und städtebaulichen Lenkungsfunktion zu versehen. Ökologisch und ökonomisch sinnvoll sowie auch verursachergerecht ist es, nicht den Ertrag der Gebäude, sondern Bodenwert und Bodenfläche zum Steuergegenstand zu machen (der Ertrag der Gebäude wird ohnehin bei der Einkommensteuer bereits berücksichtigt). Eine bodenwertbezogene Komponente hätte den Effekt, Siedlungsbrachen, Baulücken und mindergenutzte Grundstücke zu mobilisieren, schneller einer neuen Nutzung zuzuführen. Eine bodenflächenbezogene Komponente würde einen sparsameren Umgang mit der Bodenfläche anregen, insbesondere in Zonen niedriger Bodenpreise, in denen derzeit wenig Anlass zum Flächensparen besteht. Eine kombinierte Bodenwert- und Bodenflächensteuer ist daher zu empfehlen.
Das Bodenrecht könnte eine weitere ökologisch-städtebauliche Lenkung übernehmen, indem die bestehende Grunderwerbsteuer beispielsweise nicht mehr auf Immobilienerwerb im Bestand, sondern nur noch bei Neubauvorhaben auf zusätzlicher Siedlungsfläche erhoben wird. Steuergegenstand sollte die in Anspruch genommene Grundstücksfläche sein; dabei könnte nach dem Grad der Bodenversiegelung differenziert werden.
Die Städtebau- und Stadterneuerungsförderung hat sich als geeignetes Instrument zur Förderung der Innenentwicklung der Städte erwiesen. Neben ihrer städtebaulichen Bedeutung hat sich die Städtebauförderung auch als ein wirksames wirtschafts- und beschäftigungspolitisches Instrument bewährt. Eine neue Aufgabe der Stadterneuerung besteht in der Sanierung, Umnutzung und Integration städtebaulicher Brachen. Eine Aufstockung der Fördermittel durch Umschichtung von Finanzmitteln (z.B. der Wirtschaftsförderung) ist daher zu empfehlen.
Im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer war die Umwandlung der „Kilometerpauschale“ in eine „Entfernungspauschale“ für alle Verkehrsmittel ein Fortschritt. Die Erhöhung der Pauschale dient aber nicht dem Ziel, die Innenentwicklung der Städte zu fördern. Weitere Reformschritte müssen daher folgen, wie eine schrittweise Senkung der „Entfernungspauschale“, um im Gegenzug z.B. die steuerfreie Arbeitnehmerpauschale anzuheben.
Auch die Verkehrsinfrastrukturpolitik bedarf weiterer Reformschritte . Eine Verlagerung des Investitionsschwerpunktes von der Straße zum „Umweltverbund“ ist noch nicht hinreichend vollzogen. Abbau bzw. Vermeiden künftigen Verkehrsstaus auf den Straßen ist weniger durch weiteren Straßenbau als durch Strategien der Verkehrsvermeidung und -verlagerung auf den „Umweltverbund“ zu erreichen.
Einer nachhaltigen Siedlungs- und Verkehrsentwicklung und damit auch dem Fußverkehr grundsätzlich förderlich ist die eingeleitete ökologisch-soziale Steuerreform mit der Erhöhung von Energieverbrauchsteuern und der Entlastung von Lohnnebenkosten. Eine solche Reform ist umwelt- und beschäftigungspolitisch unersetzlich und eher auf ein Jahrzehnt als auf eine Legislatur anzulegen, um starke, nachhaltige Erfolge zu erzielen. Dieses grundlegende Reformvorhaben sollte beharrlich weitergeführt und durch Einbeziehen weiteren Ressourcenverbrauchs wie von Boden, Fläche etc. weiterentwickelt werden.
Dieser Beitrag von Dieter Apel, ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), erschien in der Dokumentation: Fußverkehr im Umweltverbund – 30 Beiträge vom 1. FUSS-Botschaftertreffen am 12.10.2001 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2002
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