Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 22/1999
In der Stadt Halle ist der Anteil des Fußgängerverkehrs am Gesamtverkehr in den 90er Jahren deutlich zurückgegangen (auf 32% im Jahr 1994 und 29% 1998). In mehreren Beschlüssen hat die Stadt Halle das Ziel formuliert, den Anteil des Fußverkehrs am Modal-Split wieder zu erhöhen und die Bewegungs- und Aufenthaltsqualität für Fußgänger zu verbessern.
Zu diesem Zweck hat die Stadt ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem folgende Aufgaben zu bearbeiten waren: die Definition von Qualitätsstandards für den Fußverkehr, das Entwickeln eines Hauptfußwegenetzes für die Innenstadt von Halle, eine Bestands- und Mängelanalyse für ausgewählte Teilräume und die Bestimmung von Anforderungen und Lösungsansätzen für besondere Personengruppen (insbesondere Mobilitätsbehinderte).
Die Erarbeitung dieses Gutachtens erfolgte 1997 und 1998 durch die Büros PLANWAY und Planersocietät. Die Arbeiten sind in mehreren Zwischenberichten und dem hier eingehender besprochenen Schlussbericht von Juni 1998 dokumentiert.
Qualitätsstandards: Als eine Grundlage der Maßnahmenvorschläge wurden aus einschlägigen offiziellen Richtlinien und Empfehlungen (z.B. EAHV, R-FGÜ, Handbuch bürgerfreundliche, behindertengerechte Gestaltung des Straßenraums etc.) Qualitätsstandards für den Fußverkehr abgeleitet. Bei einigen der quantifizierbaren Qualitätsstandards wurde in (nicht zu unterschreitende) Alarmwerte und (normative) Planungswerte unterschieden.
Im Hinblick auf das Planungskriterium "Gehwegbreite" wurden die "Alarmwerte" beispielsweise wie folgt festgelegt: Hauptgeschäftsstraßen: 3m, Hauptfußwegeverbindungen: 2m, Sammelstraßen/-wege: 1,50m, Umfeld von besonderen Einrichtungen: 2m, Wohnstraßen/-wege: 1,50m.
In der Differenzierung nach diesen Straßen- bzw. Wegetypen wurden Qualitätsstandards auch für folgende Kriterien festgelegt: Beschaffenheit der Gehwege/Gestaltung, Sondernutzung Gehwegparken, Sondernutzung Baustellen, Radfahren auf Gehwegen, Sichtverhältnisse, Kfz-Fahrgeschwindigkeit und Aufenthaltsqualität, Abstand von Fußgängerquerungsanlagen, Typen von Fußgängerquerungshilfen, Mittelinsel-Durchgangsbreite, Schutzinseltiefe, Fußgängerfurten (LSA), Wartezeiten an Fußgängerfurten (LSA), Mindestgrünzeiten (LSA), Zugang zu ÖPNV-Haltestellen, Warteflächen an Haltestellen.
Hauptfußwegenetz für die Innenstadt: Aus der Bestandsaufnahme wichtiger Quell- und Zielpunkte wurden Hauptwunschlinien des Fußverkehrs ermittelt und auf das Straßen- und Wegenetz übertragen. Dieses eher schematische Vorgehen wurde durch teilnehmende Beobachtungen und nichtstandardisierte Interviews von Fußgängern ergänzt, um auch subjektive Einschätzungen von Fußgängern (z.B. wahrgenommene Gefahrenpunkte, Empfindungen) einbeziehen zu können.
Besondere Berücksichtigung fanden in der Planung die "sensiblen" Einrichtungen Spielplätze, Kindergärten und -tagesstätten, Grundschulen, Alten- und Pflegeheime, Bindertenheime/-werkstätten, Blinden- und Sehbehindertenheime und das unmittelbare Umfeld dieser Einrichtungen (im Radius von 100 m). Das Hauptfußwegenetz wurde nach folgenden Stufen hierarchisiert: Hauptgeschäftsstraßen, Hauptfußwegeverbindungen, Sammelstraßen/-wege, Wunschwege (als noch zu schaffende Verbindungen).
Mängelanalyse und Maßnahmenschwer- punkte im Hauptfußwegenetz: Die Analyse der Mängel bezog sich auf folgende Punkte: Kfz-Belastung und Querungsbedarf, nutzbare Gehwegbreiten, Gehwegparken, fehlende Fußwegeverbindungen, Überquerbarkeit, Angsträume, städtebauliche und gestalterische Mängel, Mängel im Umfeld sensibler Einrichtungen.
Wesentliche Mängel bestehen in der Hallenser Innenstadt darin, daß eine Vielzahl von Knotenpunkten mit hohem Querungsbedarf keine sicheren Querungen erlaubt, viele Fußgängerfurten und -überwege Mängel aufweisen (z.B. Wartezeiten über 60 Sek., fehlende Vollsignalisierung der Knotenpunktarme, fehlende Bordsteinabsenkungen, fehlende sichere Querungsmöglichkeiten im Umfeld sensibler Einrichtungen) und die Gehwegbreiten in einigen Bereichen unzureichend sind.
Die Schwerpunkte vorgeschlagener Verbesserungsmaßnahmen umfassen die Verbesserung bestehender Fußgängerfurten und -überwege, die Sicherung von Knotenpunkten mit hohem Querungsbedarf, die Aufwertung von Hauptgeschäfts- und Hauptverkehrsstraßen (inkl. Verbesserung der Überquerbarkeit), das Freihalten der Gehwege von parkenden Autos und besondere Maßnahmen im Umfeld sensibler Einrichtungen. Zur Schaffung von Querungsmöglichkeiten wird die vermehrte Anlage von Fußgängerüberwegen - unter Berücksichtigung ortsspezifischer Bedingungen auch ggf. mit Ausnahmenregelungen - empfohlen. Dies erfolgt im Einklang mit einem Stadtratsbeschluß vom 9.8.1995, wonach Zebrastreifen als flächendeckende Querungshilfen eingerichtet werden sollen.
Für vier Teilräume mit unterschiedlichen Problem- und Themenfeldern wurden darüber hinaus - auch mit Blick auf eine Übertragbarkeit auf andere Stadtgebiete - detaillierte Mängelanalysen vorgenommen und konkrete Maßnahmenempfehlungen erarbeitet. Die Empfehlungen umfassen dabei auch Maßnahmen zum Abbau von Behinderungen und Gefährdungen durch den ruhenden Verkehr (inkl. Aufklärungskampagnen), den Aufbau einer Fußwegeinformation mit einem Leitsystem für eine touristisch wichtige Achse sowie Empfehlungen für die Planung zugunsten besonderer Personengruppen.
Optimierung von organisatorischen Abläufen: Mit organisatorischen Maßnahmen soll die Umsetzung einer fußgängerfreundlichen Planung gefördert werden: Bei der Oberflächenwiederherstellung nach großflächigen Aufbrüchen soll auf die Einhaltung der festgelegten Qualitätsstandards hingewirkt werden; die städtischen Kontrollmechanismen sollen so zusammengeführt werden, daß vor allem die Baustellensicherung, Gefährdungen durch Pkw auf Gehwegen und Gehwegschäden kontrolliert und den Ämtern zugeleitet werden; mit Workshops sollen Mitarbeiter aus Fachämtern für Belange von Fußgängern sensibilisiert werden; Straßenumbauten sollen generell auf ihre Fußgängerfreundlichkeit hin überprüft werden.
Die Stelle des Radverkehrsbeauftragten soll um die Funktion eines Fußgängerbeauftragten erweitert werden; der Fußgängerbeauftragte (mit einem eigenständigen Gestaltungsspielraum) soll Ansprechpartner für die Öffentlichkeit sein, Konzepte erarbeiten, ordnungspolitische Aufgaben initiieren und eine Öffentlichkeitskampagne für das Zufußgehen ins Leben rufen. Es wird angenommen, daß für diese Aufgaben des Beauftragten 10-20% Stellenprozente anzusetzen sind. Eine Quantifizierung der Kosten der vorgeschlagenen Maßnahmen wird nicht vorgenommen. Im Gutachten findet sich jedoch eine Zusammenstellung der verschiedenen Förderprogramme, die für Verbesserungsmaßnahmen im Fußverkehr in Frage kommen.
Die Planungsschritte sind gut nachvollziehbar und mit Karten dokumentiert. Direkt verwertbare Hinweise für die Planung liefern die definierten Qualitätsstandards. Hervorzuheben sind außerdem die bisher erst selten in Gutachten zur Fußverkehrsplanung zu findenden organisatorischen Vorschläge. Das gewählte Verfahren der Bildung von Hauptwunschlinien ist eher technisch und hat, wie die Autoren selbst feststellen, den Nachteil, dass subjektive Verhaltensmuster nicht berücksichtigt werden. Die deshalb ergänzend dazu durchgeführten teilnehmenden Beobachtungen und nicht-standardisierte Interviews sind allerdings im Schlussbericht nicht weiter dokumentiert.
Gutachten zum Fußwegekonzept der Stadt Halle (Saale). Abschlußbericht – im Auftrag der Stadt Halle (Saale).- Halle, Bochum, Dortmund, Juni 1998
Planway (Bochum) und Planersocietät (Dortmund)
Auf Anfrage bei Stadt Halle (Saale), Stadtplanungsamt – 61.5 -, Hansering 15, 06108 Halle (Saale)
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Februar 2000. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, www.fuss-eV.de
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