Etwa 50 Millionen Menschen in der Europäischen Union sind älter als 65 Jahre. Und wir alle leben immer länger. Viele von uns werden ein Alter von 85 Jahren oder mehr erreichen. Aber wie sieht diese Zukunft für alte Menschen aus?

Die europäischen Fußgängerverbände haben in den letzten Jahren verstärkt nach Antworten und Perspektiven gesucht. Besonders beschäftigte uns die Frage, wie wir alle mit unserem Leben zurechtkommen und es genießen können, wenn es beschwerlicher geworden ist.

Die Antworten, die wir aus ganz Europa erhalten haben, sind erschütternd. Dadurch, dass fast überall Autos die Möglichkeit bekommen haben, sich nach Belieben zu bewegen, wurde vielen älteren Menschen die Möglichkeit genommen, ihren Ruhestand wirklich zu genießen.

Wir haben ein Europa geschaffen, in dem Menschen über 65 vermehrt

  • außerstande sind auszugehen
  • ihr Leben riskieren, wenn sie es trotzdem tun
  • lieber daheim bleiben, weil ihre Umgebung so unfreundlich geworden ist.

Schon jetzt verläßt etwa die Hälfte der pensionierten Bevölkerung (ca. 25 Mio. Menschen) an einem beliebigen Tag ihr Zuhause überhaupt nicht.Wie kam es dazu?

Eine gefährliche neue Umgebung

Eines Tages werden auch wir die Erfahrung machen, dass wir uns wieder zu Fuß fortbewegen - vielleicht zum ersten Mal seit unserer Kindheit. Das wird ein Schock für diejenigen sein, die, solange sie nur konnten, mit dem Auto gefahren sind. Die Straßen, die sie dann benutzen, sind nicht mehr die ihrer Kindheit, genauso wenig wie ihre Füße. Einer von dreien wird im Alter eine Behinderung haben, die die Bewegungsfreiheit einschränkt.

Die Erfahrungen von Millionen älterer Europäer haben folgende Gemeinsamkeiten:

  • Überhaupt außer Haus zu gehen, ist schon eine Prozedur, sagen die meisten. Menge und Schnelligkeit des Verkehrs verursachen Lärm und können einen einschüchtern.
  • Es gibt nicht genug sichere Übergänge.
  • In ländlichen Gebieten fehlen Bürgersteige oft ganz. In Städten sind sie zugeparkt, uneben und werden von Radfahrern genutzt, denen die Straßen Probleme bereiten .
  • Einrichtungen, die ältere Leute gerne erreichen würden, wie Geschäfte oder sogar Postämter, werden in steigendem Maße außerhalb der Stadtzentren angelegt, um Autofahrern einen bequemeren Zugang zu ermöglichen.
  • Öffentlicher Nahverkehr existiert oft nicht, oder er bereitet Schwierigkeiten beim Einsteigen oder ist für den täglichen Gebrauch zu teuer.

Viele ältere Menschen erreichen ihr Ziel nicht. Ungefähr die Hälfte der Todesopfer unter den Fußgängern sind Menschen über 65. Diese stellen aber nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung dar.

Was wir tun können

Es ist an der Zeit, für unsere Lebensqualität im Alter vorzusorgen. Ein erster Schritt ist gemacht: 1988 hat das Europäische Parlament die Charta der Rechte der Fußgänger verabschiedet, als einen Versuch, grundlegende Freiheiten zu bewahren. (1) Besonders älteren Menschen garantiert sie das Recht auf Lebensbedingungen, die ihre Einschränkungen nicht verschlimmern, sondern dazu ermutigen, aus dem Haus zu gehen und Kontakte aufrechtzuerhalten.

Hier treten wir auf den Plan: Der nächste Schritt ist die Umsetzung dieser Charta in ein Arbeitsprogramm:

  • Auf lokaler Ebene müssen wir ältere Menschen in den Planungsprozess miteinbeziehen – niemand kennt die Probleme besser als sie.
  • Auf nationaler Ebene brauchen wir den Überblick über alle Regelungen, die die Bewegungsmöglichkeiten der Fußgänger berühren, z.B. hinsichtlich der Benutzung der Fußwege und der Überwege.
  • Von der Europäischen Union brauchen wir die Unterstützung für die Verwirklichung beispielhafter Projekte in jedem Mitgliedsland, die uns zeigen, dass Mobilität zu Fuß auch im Alter mit Menschenwürde zu vereinbaren ist.

Diese Fragen gehen uns alle an: Es sind nicht nur die älteren Menschen, die durch diese Lebensumgebung betroffen sind. Es gibt aber zwei besondere Gründe, warum wir herausarbeiten sollten, was es bedeutet, als älterer Mensch aus dem Haus zu gehen:

  • Erstens gilt es, den humanitären Aspekt zu berücksichtigen - darauf weist die Europäische Charta für die Rechte der Fußgänger so pointiert hin. Ältere Menschen haben nicht die Energie und Beweglichkeit wie ihre jüngeren Mitbürger. Aber müssen wir ihnen das immer wieder warnend vorhalten, wenn sie einen einfachen Weg unternehmen wollen? Wir schulden ihnen zumindest eine Umwelt, die sie nicht auf Schritt und Tritt benachteiligt.
  • Aber wir brauchen - zweitens - ein schärferes Bewusstsein für die Bedeutung dieser Wege im Alter. Sie sind die Lebensader für ein ganzes Spektrum von Aktivitäten, die den späten Lebensjahren Würze und Freude vermitteln. Sie sind für ältere Menschen der Zugang zu Wohlbefinden und Unabhängigkeit. Wenn wir jetzt versäumen, auf die Qualität dieser Wege zu achten, werden wir humane und ökonomische Kosten tragen müssen, die kein europäischer Staat bewältigen kann.

Diese beiden Gesichtspunkte werden wegen der veränderten Alterspyramide drängender. Heute bereits ist fast jeder sechste Europäer im Ruhestand. Fast 25 Millionen Menschen sind über 75.

Aber die Zukunft verlangt größere Beachtung: Immer mehr Menschen können mit einer immer längeren Zeit des Ruhestands rechnen - wir werden immer älter. Immer mehr Menschen werden mit den Straßen in ihrer Wohnumgebung zurechtkommen müssen:

Über 75 Jahre alt sind

  • zu fast 60 Prozent Frauen,
  • die alleine leben (heute bereits etwa ein Drittel) und
  • in irgendeiner Weise behindert sind (ebenfalls etwa ein Drittel).

Wir sind erstaunt, dass diese Entwicklung bis jetzt in der öffentlichen Diskussion keine Beachtung findet. Zumindest im städtischen Wohnumfeld berücksichtigt nur ein kleiner Teil der Straßen die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Älteren. Oft hält deren Zustand davon ab, überhaupt hinauszugehen. Die Wege der Älteren werden oft übersehen; kurze, zu Fuß zurückgelegte Wege tauchen in vielen Statistiken nicht auf, z.B. zur nächsten Straßenecke zu gehen, wo ein Freund wohnt.

Jüngere Menschen bevorzugen dagegen das Auto, auch dann wenn der Weg kurz ist und gerade für sie leicht zu Fuß zu gehen wären. Die per Auto zurückgelegten Wege sind in den Verkehrsstatistiken vertreten - und die dafür benutzten Autos stehen den Fußgängern im Weg, z.B. auf Bürgersteigen.

Die Hälfte der Wege, die sie außerhalb des Hauses unternehmen, gehen ältere Menschen zu Fuß. Durchschnittlich zweimal am Tag gehen sie aus dem Haus – gegenüber dreimal bei jüngeren Leuten. Aber hinter diesen Durchschnittswerten gibt es erhebliche Unterschiede: Unter den Älteren gibt es viel eher Menschen, die überhaupt nicht aus dem Haus gehen – nach einer belgischen Untersuchung die Hälfte (im Unterschied zu 10% der Jüngeren).

Auf die Frage, warum sie nicht aus dem Haus gehen, sagten ältere Briten, sie wären zu gebrechlich. 90% gaben diese Antwort – dreimal so viel wie tatsächlich in der einen oder anderen Weise behindert sind. Daher sind es wohl die Straßen, die Hindernisse und Behinderungen verursachen.

Gehwege sind nicht nur in Großbritannien berüchtigt. Dort sind Stolperstellen und Müll ein großes Problem: Die großen Gehwegplatten, die dort normalerweise verwendet werden, brechen unter dem Druck von Autos. Nach offiziellen Statistiken gibt es alle 40 Meter Müll auf dem Bürgersteig. Drei Millionen Menschen werden jährlich verletzt, weil sie auf dem Bürgersteig stürzen – das sind fünf Prozent der britischen Bevölkerung.

Die wesentlichen Probleme sind

  • unebene Oberflächen
  • Platzmangel, so dass man nicht sicher gehen oder einen Rollstuhl schieben kann
  • Radfahren und geparkte Autos.
  • Hundekot, Müll, Laub, Schnee

Wie wir weitergehen

Der erste Schritt hin zu einer Welt, in der ältere Menschen ihren Platz haben, ist nicht weiter als bis zur nächsten Stadt- oder Gemeindeverwaltung - in unserem Wohnort. Wenn es uns nicht gelingt, die Straßen rings um unsere eigene Wohnung zu verbessern, werden wir auch anderswo nichts erreichen. Wir müssen das Spektrum der Maßnahmen erkennen, die den älteren Menschen zu einer würdigen und freien Mobilität verhelfen. Wie diese Maßnahmen kombiniert werden müssen, ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Wir sehen vier Schritte. Der erste ist ganz einfach ein Spaziergang.

Das Problem erleben

Menschen, die jung und fit sind, vor allem diejenigen, die üblicherweise Auto fahren, haben wahrscheinlich keine Vorstellung, welche Probleme die Straßen für ältere Menschen darstellen. Erst wenn man sich auf den Spuren eines älteren Menschen bewegt, wird man diese Schwierigkeiten nachvollziehen können. Und neben jedem älteren Menschen, den wir da begleiten, gibt es einen, der unsichtbar zuhause bleibt und den ganzen Tag nicht aus dem Haus geht.

Wichtig ist, dass Menschen überall in Europa diese Erfahrung machen. Sie sollten auch versuchen, einen Rollstuhl zu fahren. Und sie könnten darauf achten, wie schwer es ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie könnten erleben, wie weit es zu Fuß bis zu wichtigen Zielen ist, z.B. zu einer Bibliothek, zum nächsten Park oder zum Postamt. Sie könnten darauf achten, wie lange sie brauchen, um – in einer Grünphase nach der andern - über eine Kreuzung zu kommen.

Besonders nützlich wäre es, wenn ältere Menschen selbst diese Wege in ihren Städten und Dörfern gehen würden, ihre Beobachtungen dokumentieren und diskutieren würden. Sie sind die Experten. Dann sollten sie Kommunalpolitiker einladen, damit diese aus erster Hand die Probleme erkennen - als Einstieg in die Suche nach Problemlösungen.

Beziehungen herstellen

Schon eine einmalige Aktion, die die Aufmerksamkeit auf einen schwarzen Fleck des Unfallgeschehens lenkt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber noch wichtiger ist, die älteren Menschen in kontinuierlichen Kontakt mit denen zu bringen, die für die örtliche Infrastruktur Verantwortung tragen. Und dann müssen wir diese örtlichen Verantwortlichen und die kommunalen Serviceeinrichtungen aus ihrem eigenen Blickwinkel unter die Lupe nehmen. Nur so erreichen wir mehr als schlichte Kopien von Problemlösungen.

Eine Vielzahl von Ideen sind in den letzten Jahren Wirklichkeit geworden. Die meisten Städte haben jetzt autofreie Einkaufsstraßen und Plätze. Die Oberflächen solcher Straßen und Plätze sind erneuert worden und erleichtern meistens das Gehen. Quasi automatisch wirkende Geschwindigkeitsbegrenzungen sind in Wohngebieten eingeführt worden. Experimente mit Lichtsignalanlagen, die einem Fußgänger genügend Zeit zum Überqueren lassen, sind unternommen worden. Busse und Straßenbahnen mit niedrigen Einstiegen sind erfolgreich eingeführt worden.

Das alles hilft. Aber es sind isolierte Maßnahmen in einer Umgebung, die den Bedürfnissen und Wünschen älterer Menschen wenig Respekt zollt. Innovative Techniken sind manchmal nicht die bestmögliche Antwort, z.B. wenn die Menschen die bessere Instandhaltung der bestehenden Fußwege einer neuen Oberfläche in einer Einkaufsstraße vorziehen. Wer hat die älteren Leute gefragt, was sie wollen?

Wir müssen mit ihrer Hilfe einen breiteren Einblick bekommen: Erlauben die kommunalen Einrichtungen es ihnen, das Leben zu meistern?

  • Können sie die Ziele erreichen, die ihnen wichtig sind? Das hat Konsequenzen für die Lage dieser Einrichtungen, wie auch für die Gestaltung der Wegebeziehungen.
  • Können sie ihre Wege leicht gehen? Das wirft Fragen auf nach der Markierung von Parkplätzen (auf Bürgersteigen), nach der Art der (Sperr-) Müllsammlung, der Anlage von Bushaltestellen (Buskaps?), der Platzierung von Werbung, Wühltischen und sonstigen kommerziellen Einrichtungen in den Straßen und nach dem Zustand der Straße selbst.
  • Können sie sich sicher bewegen? Hierzu gehören Fragen nach Überquerungsmöglichkeiten, nach der Qualität von Oberflächen und Stufen, dem Design von Bussen und Wartegelegenheiten und nach der Straßenbeleuchtung.
  • Wie ist es um die Annehmlichkeit des Gehens in diesen Straßen bestellt? Die Fragen betreffen den Reinigungsstandard, die verfügbare Breite, Sitzgelegenheiten, Straßenbäume und andere Pflanzen und die Qualität der Luft.

Solche Fragen werden selten gestellt. Wir müssen sie aber überall stellen und die Erfahrungen älterer Menschen in die alltäglichen Planungsprozesse und in die Umsetzung in den Städten und Gemeinden einbeziehen.

Über die Rahmenbedingungen nachdenken

Im dritten Schritt kommen die EU- Mitgliedsländer in´s Spiel, denn diese gestalten den Rahmen, in dem Städte und Gemeinden handeln. Sie beeinflussen insbesondere

  • allgemeine Umweltstandards
  • die Regulierung des Verkehrswesens
  • die Gelder für den Straßenbau.

Die Ziele dafür müssen so formuliert werden, dass sie den Fußgängern - insbesondere Kindern und älteren Menschen - gerecht werden: Es ist z.B. wichtig, die Ziele für die Luftqualität dort zu erreichen, wo Fußgänger und gerade Kinder diese Luft einatmen, nämlich recht dicht über dem Boden.

Es darf nicht von Demonstrationen und Kampagnen abhängen, ob es überhaupt einen Bürgersteig gibt (wobei dessen Breite eine Frage für sich ist) oder ob es in einer stark und schnell befahrenen Straße einen sicheren Fußgängerüberweg gibt.

Die Revision der Regelungen könnte damit beginnen, dass wir die sehr ungleichen Rechte von Kraftfahrern und Fußgängern erkennen. Die meisten nationalen Straßenverkehrsordnungen bieten Fußgängern nichts Besseres als die Aufforderung, vorsichtig zu sein und Autos aus dem Weg zu gehen. Alle Nationen sind sehr zurückhaltend hinsichtlich der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die von Kraftfahrern verlangt werden müssen, auch wenn es darum geht, diese über die Jahre hinweg beim einzelnen Fahrer sicherzustellen. Wir sind anscheinend nicht einmal in der Lage, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Vorschriften für das Parken von Kraftfahrzeugen zur Geltung zu verhelfen.

Vielleicht fangen wir am falschen Ende an: Sollten wir eher auf die Art der Fahrzeuge achten, die wir auf den Straßen zulassen? Welches Fahrverhalten ist z.B. von Fahrern zu erwarten, deren Geländefahrzeuge durch Spurverbreiterung und Vergrößerung der Bodenfreiheit Kampfpanzern ähneln? Außerdem: Wir lassen die Autofahrer zu billig aus der Pflicht, gemessen an den Kosten, die sie verursachen und anderen aufladen.

Die Gelder für den Straßenbau brauchen viel mehr kritische Analysen, um deutlich zu machen, ob sie die einfachen Lösungen, die sie für sich in Anspruch nehmen, auch wirklich erbringen und zu welchem Preis sie das tun. Wie viele sichere Bürgersteige und wie viele Überwege sind für den Preis von 10 km neuer Straßen möglich?

Wir wollen eine Anhörung der Fußgänger in die Planungsphase von Straßen einführen. Dabei gilt es auch, die Effekte auf den Autoverkehr in den Zielgebieten zu untersuchen, insbesondere die zu erwartende Zunahme von Gefährdungen und Beeinträchtigungen. Diese Fragen gehen uns alle an: Es sind nicht nur die älteren Menschen, die durch diese Lebensumgebung betroffen sind.

Quellennachweis

  1. Entschließung zum Schutz der Fußgänger und zur Europäischen Charta der Fußgänger. Dokument A2-154/88, Straßburg, 12.10.1988. Die autorisierte deutsche Übersetzung ist beim FUSS e.V. erhältlich. Die europäischen Fußgängerverbände betrachten seit 1989 den 12. Oktober als „Europäischen Tag der Fußgänger“.

 

Dieser Text entstand auf der Grundlage der Veröffentlichung anlässlich des Europäischen Jahres der Senioren: Older People On Foot - Why We Must Act. Report of Federation of European Pdestrian Associations (FEPA) for the European Year of Older People. This report is written by Jane Morton, of the Pedestria`s Association in the UK. Den Haag 1995. Verfasser des Abschnittes über die BRD: Manfred Bernard, FUSS e.V., der auch den hier vorliegenden Text verfasst hat. Er ist ein Auszug aus der Veröffentlichung: SENIOREN zu FUSS - Aufsätze, Dokumente und Zwischenrufe, FUSS e.V. (Hrsg.), 2000

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