Ich möchte mit einigen vielleicht etwas pathetisch wirkenden Thesen beginnen:
„Der Fußgänger hat das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben und die öffentlichen Straßen und Plätze zu angemessenen Bedingungen für die Sicherheit seiner körperlichen und seelischen Gesundheit frei zu benutzen.
Der Fußgänger hat das Recht, in Stadt- und Dorfzentren zu leben, die menschen- und nicht autogerecht gestaltet sind und über Einrichtungen zu verfügen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad leicht erreichbar sind.
Der Fußgänger hat Anrecht auf möglichst ausgedehnte städtische Zonen, die ganz auf seine Bedürfnisse abgestellt sind und nicht bloße ‚Fußgängerinseln’ darstellen ... und er hat Anspruch auf kurze, logische und sichere Wege, die miteinander verbunden und ihm allein vorbehalten sind.“
Diese Sätze stammen nicht etwa aus einem Grundsatzpapier von FUSS e.V., sondern aus einem Beschluss des Europäischen Parlaments vom 12. Oktober 1988. Dieser Beschluss gehört leider zu den weniger bekannten Beschlüssen des Europäischen Parlaments, und bis zu seiner Umsetzung ist es sicherlich noch ein weiter Weg.
Das Bundesumweltministerium hat an einer Stärkung des Fußgängerverkehrs ein außerordentliches Interesse. Eines unserer großen Anliegen neben den klassischen Themen Schadstoffverringerung und Senkung von Lärmbelastungen ist die Einsparung von Klimagasen und vor allen Dingen von CO2. Im Verkehrsbereich ist dies ein besonderes Problem, weil die CO2-Emissionen im Verkehr immer weiter anwachsen und es bisher nicht gelungen ist, diesen Trend umzukehren. Durch einen Ausbau des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs ist sicherlich am schnellsten und mit dem geringsten finanziellen Aufwand ein wesentlicher Beitrag zur CO2-Einsparung im Verkehr möglich. 50 % aller Autofahrten finden in einer Entfernung unter 5 km statt. Es liegt nahe, hier auf eine stärkere Nutzung des Fahrrads und der eigenen Füße zu orientieren.
Beim Fahrradverkehr sind wir mit den Arbeiten am Masterplan Fahrrad auf einem vielversprechenden Weg. Beim Fußgängerverkehr hingegen stehen wir eher am Anfang einer neuen Initiative.
FUSS e.V. hat durch seine Arbeit in den vergangenen Jahren für eine solche Initiative wesentliche Voraussetzungen geschaffen. Zunächst einmal kam und kommt es darauf an, das Thema Fußgängerverkehr systematisch in der Fachdiskussion zu implementieren und dafür zu sorgen, dass der Fußgängerverkehr als Verkehrsträger überhaupt ernst genommen und zum Thema gemacht wird. Tatsächlich hat es seitens der Bundesregierung in den letzten Jahren bereits einige interessante Studien und Initiativen zu diesem Bereich gegeben. Schon im Jahre 1995 hat das Bundesverkehrsministerium eine Untersuchung „Fußverkehr im Umweltverbund„ am Beispiel der Landeshauptstadt München veröffentlicht. Im Sommer 2000 gab das UBA einen Leitfaden für die kommunale Praxis „Förderung des Rad- und Fußverkehrs„ heraus. Das Ministerium für Bildung und Forschung stellte im Juli 2001 eine Expertise „Fahrrad- und Fußgängerverkehr„ vor, in der insbesondere ein sehr guter Überblick über den Stand der Forschung und die vorhandenen Forschungs- und Kenntnislücken enthalten ist. Aktuell betreibt das Umweltbundesamt ein Modellvorhaben „Fußgänger- und fahrradfreundliche Stadt„ angelegt für die Jahre 2000 – 2003 gemeinsam mit den Städten Plauen, Lingen und Lutherstadt Wittenberg.
Denkt man über Forschungsprojekte und Modellvorhaben hinaus, stellt sich allerdings die Frage: Was kann die Bundesregierung eigentlich tun?
Fußgängerverkehr ist offensichtlich eine kommunale Kernaufgabe. Vor Ort in den Städten und Gemeinden wird der Straßenraum konkret gestaltet und damit entschieden, ob sich Fußgängerinnen und Fußgänger dort wohlfühlen oder nicht. Die Landesregierungen haben über die Verkehrsbehörden und über ihre Förderprogramme darauf einen gewissen Einfluss, die Bundesregierung kann sich dort administrativ im Grunde gar nicht einmischen und sollte das meines Erachtens im Grundsatz klugerweise auch nicht tun. Eingriff in die kommunale Autonomie wird nicht gern gesehen und wirkt eher kontraproduktiv.
Bei näherem Hinsehen stellt man aber fest, dass es doch eine ganze Reihe Möglichkeiten für die Bundesregierung und die Bundesebene gibt, in diesem Bereich Positives beizutragen. Das beginnt damit, dass man durch Empfehlungen und das Befördern überordentlicher Trends Orientierungen bei den Landes- und Kommunalbehörden auslösen und unterstützen kann, etwa durch Einflussnahme auf die Fachdebatte, durch entsprechende Initiativen und Impulse innerhalb oder gegenüber der FGSV, in der sich ja dankenswerter Weise schon heute eine spezielle Arbeitsgruppe dem Thema Fußgängerverkehr widmet.
Soweit schön und gut, aber was kann die Bundesregierung denn nun konkret tun?
Dafür möchte ich beispielhaft fünf Punkte nennen:
1. Zu den Überlegungen zur Siedlungs-, Struktur- und Stadtentwicklung, bei der Debatte über die Gestaltung des öffentlichen Raumes, bei der ganzen Diskussion über Verkehrsvermeidung können wir sicherlich auch eine Menge für den Fußgängerverkehr tun. Denn Verkehrsvermeidung bedeutet in vielen Fällen überhaupt nicht wirklich Vermeidung von Verkehr, sondern Verringerung von Entfernungen und Wechsel des Verkehrsmittels. Bei Verkehrsvermeidung geht es in Wirklichkeit oft darum, dass Dinge, die mit dem Auto erledigt werden oder auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß bewältigt werden.
2. Der Weg zum Arbeitsplatz: Ich selber genieße im Augenblick ein unglaubliches Privileg: Ich kann zu Fuß zu meinem Arbeitsplatz im Ministerium gehen. Es ist das erste Mal seit meiner Volksschulzeit und ich kann sagen, es ist ganz wunderbar, das ist ein enormer Gewinn an Lebensqualität. Es ist reizvoll und sollte reizvoll sein, nah am Arbeitsplatz zu wohnen. Wirtschaftlich ist es gegenwärtig nicht. Würde ich statt am Alexanderplatz hier in Spandau wohnen und jeden Tag sei es mit dem Auto, sei es mit dem Regionalexpress zur Arbeit fahren, würde sich mein Netto-Einkommen deutlich erhöhen wegen der steuerlichen Entfernungspauschale. Es war ein wichtiger Schritt, die Entfernungspauschale für die Benutzer aller Verkehrsmittel anzugleichen und damit die Privilegierung des Autoverkehrs zu beenden, trotzdem ist die Entfernungspauschale aber ein Instrument, Zersiedlung und lange Wege zu fördern und zu unterstützen. Wir sollten im Gegenteil über Möglichkeiten nachdenken, Nähe zu fördern statt Entfernung.
3. Verkehrssicherheit: Die Automobilindustrie unternimmt bekanntlich große Anstrengungen, die Sicherheit für Insassen ihrer Fahrzeuge zu verbessern. Das ist auch gut so. Aber es wäre sicherlich noch besser, wenn man sich auch über die Sicherheit der Leute Sorgen machen würde, die mit den Fahrzeugen kollidieren bzw. von ihnen auf den Kühler genommen werden. Technische Anforderungen zum Schutz bei Kollisionen – da ist noch viel zu tun. Im Moment sind wir offenbar nicht einmal in der Lage, die schlimmsten Auswüchse zu unterbinden, die in Form von Abweisebügeln an geländegängig wirkenden Fahrzeugen installiert werden und von denen man weiß, dass sie die Schwere von Unfällen, die Verletzungs- und Tötungsgefahr drastisch erhöhen. Wir können das nicht unterbinden, weil das ein Eingriff in den Binnenmarkt wäre und es da einer europäischen Regelung bedarf, die wir noch nicht haben - eine im höchsten Grade unbefriedigende Situation. Solche europäischen Regelungen müssen wir herbeiführen und parallel und im Vorfeld bereits das Gespräch mit Herstellern und Händlern suchen, um die Verbreitung solcher Mordinstrumente auf freiwilliger Basis möglichst weitgehend einzuschränken. Mindestens genauso wichtig ist aber die aktive Sicherheit, die Verkehrserziehung inklusive der Ausbildung in den Fahrschulen. Hier kommt es darauf an, Respekt vor schwächeren Verkehrsteilnehmern und eine zurückhaltende Fahrweise zu erreichen. Dazu gehört es auch, dass Tempolimits tatsächlich durchgesetzt werden. Auch für diese Notwendigkeit fehlt es vielerorts noch an Bewusstsein und der Bund kann im Rahmen seiner Tätigkeit dort manches beeinflussen, wenn er es denn wirklich will.
4. Schließlich könnte der Bund eine allgemeine Aufwertung des Verkehrssystems Fußgängerverkehr vornehmen. Es ist doch sicher eine Überlegung wert, ob wir, wenn die Arbeiten am Masterplan Fahrrad abgeschlossen sind und wir damit erste Umsetzungserfahrungen gemacht haben, dann einen Masterplan Fußverkehr in Angriff nehmen, in dem wir das, was der Bund an Möglichkeiten hat, zusammenstellen und entwickeln und es verbinden mit Debatten, Beiträgen und Empfehlungen für die anderen staatlichen Ebenen, für die Wirtschaft und die breite Öffentlichkeit.
5. Ich habe mit dem Europäischen Parlament begonnen und möchte mit ihm enden. Wie wir am 22.09. den europaweiten Aktionstag in die Stadt ohne mein Auto begehen, so könnte man sich vorstellen, dass man den denkwürdigen Jahrestag, an dem das Europäische Parlament die „Europäische Charta der Fußgänger„ beschlossen hat, nämlich den 12. Oktober, zum Fußgängertag erklärt – sei es in Deutschland, sei es gleich auf europäischer Ebene. Eine entsprechende Aufforderung, einen „Europatag für die Rechte des Fußgängers durchzuführen“, hat das Parlament in seinem damaligen Beschluss bereits an die europäische Kommission gerichtet. Ich bin aber nicht sicher, ob und wie er umgesetzt worden ist. Es würde nahe liegen, diesen Impuls aufzugreifen. Bei aller Begrenztheit der Wirkung solcher symbolischen und Aktionstage: einen nennenswerten Beitrag zur Fortentwicklung der Debatte und des Bewusstseins können sie allemal leisten.
Dies sind einige der Überlegungen, die wir im Bundesumweltministerium zum Thema Fußverkehr anstellen. Wir hoffen, dass diese Tagung zahlreiche Impulse hervorbringen wird, die die Diskussionen weiter vorantreiben und uns gemeinsam Kraft geben auf dem Weg zu einem insgesamt nachhaltigen Verkehrssystem, in dem die umweltfreundlichsten Verkehrsarten ganz selbstverständlich eine zentrale Rolle spielen sollten.
Dieser Beitrag von Reinhard Kaiser, damaliger Leiter des Arbeitsstabes Verkehr und Umwelt im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, erschien als Eröffnungsrede zum 1. FUSS-Botschaftertreffen am 12.10.2001 in Berlin in der Dokumentation: Fußverkehr im Umweltverbund – 30 Beiträge vom 1. FUSS-Botschaftertreffen, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2002
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